Ein Pferd kann sie heben, so stark ist das Mädchen, außerdem hat sie rote Zöpfe und Sommersprossen. Pippi Langstrumpf ist witzig, laut und voller Fantasie. Fürsorgerinnen, Lehrerinnen, Polizisten lässt sie abblitzen, antiautoritär. Pippi lebt ohne Eltern in der Villa Kunterbunt; das Haus, vermutlich, ist ein wenig verwahrlost. In die Schule geht sie ein Mal und nie wieder. Eine tolle Erfindung ist diese Figur, zäh, wild entschlossen und so wunderbar, dass Feministinnen sie zur Ikone wählten. Pippi Systemsprenger!
1945 in Schweden erschienen, kommt Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf in der frischgebackenen BRD Ende 1949 auf den Markt. Die Presse nennt das Werk „eine kindhafte Münchhausiade“. Pädagogen beäugen es skeptisch bis angewidert. Der Erfolg ist indes riesig, weltweit. Nach dem ersten Buch kommen Fortsetzungen. Später Verfilmungen.
In der DDR sind die Verantwortlichen zunächst nicht willens, die Pippi-Bücher zu drucken. Weil sie aber so erfolgreich sind, diskutiert man Anfang der 1970er erneut, nach Lindgrens Mio, mein Mio und Karlsson auf dem Dach nun doch auch Pippi für das eigene Lesevolk herauszubringen. „Überlegungen und Prüfungen waren notwendig zur Positionsbestimmung“, heißt es im Antrag des Kinderbuchverlags auf Druckgenehmigung. Es gab also Streit, Bedenken, Eiertanz.
Einer, der sich gegen eine Veröffentlichung gestellt hat, muss Gerhard Holtz-Baumert gewesen sein. Selbst erfolgreicher Kinderbuchautor, charakterisiert er als Gutachter für den Verlag Pippi als „Über-Tom-Sawyer“, „Über-Hässliches-Entlein“, die ein „Endpunkt“ sei und „ein Ungeheuer“. Er bemängelt ihre „gewollten Faxen“, den „anarchischen Rigorismus“. Er kritisiert ihr Nur-anders-Sein, also die bloß undialektische Opposition zur bürgerlichen Erwachsenenwelt. Und kommt doch aber zu dem Schluss: „Vorbeigehen – so oder so, nicht-drucken oder nicht-reagieren – kann man wohl nicht mehr.“
Gerhard Holtz-Baumert sitzt im Präsidium des Schriftstellerverbandes; als Stasi-IM nennt er sich diskret „François Villon“. Sein DDR-weit berühmter Kinderbuchheld heißt Alfons Zitterbacke. Alfons erlebt Abenteuer, stiftet Unordnung, ist ein Schlitzohr und steht doch mit beiden Beinen fest auf DDR-Boden. Befürchtet Holtz-Baumert für seinen Helden mit dem merkwürdig ähnlichen Namen Konkurrenz?
Die Entscheidung fällt. Pippi erscheint in der DDR als Paperback in einer Auflage von 40.000 Exemplaren für Leser ab zehn. Aus drei Büchern ist eins geworden, gerade einmal 128 Seiten dick. Also ziemlich dünn. Also stark gekürzt. Aber der Grund ist ein anderer als die monströse Frechheit der Titelfigur. Es geht um das N-Wort. Es geht um weit mehr als das N-Wort.
Bereits seit 1962 erschienen alle weiteren Auflagen eines DDR-Kinderbuchklassikers von Ludwig Renn unter dem schlanken, einfachen Titel: Nobi. 1955, bei der ersten Auflage, hatte beim Namen des kleinen afrikanischen Helden noch das N-Wort gestanden. Doch warum sollte der liebenswerte Freund der Tiere diskriminiert werden?
Nun ging es auch bei Pippi Langstrumpf um das berüchtigte Wort. Wo steht es hier? In der bundesdeutschen Ausgabe, die mir vorliegt, gedruckt 2008 in Tschechien – wohl weil es für den Verlag Oetinger billiger ist, dort produzieren zu lassen –, muss ich nicht weit blättern. Schon auf Seite drei des ersten Kapitels kommt es dreimal vor. Pippis Vater nämlich, Seefahrer und gestrandet auf einer Südseeinsel, wurde begeistert von den dort Lebenden aufgenommen und zum König erklärt. Zum „Negerkönig“. Das steht da wirklich! Ich fasse es nicht.
Man soll ein einzelnes Wort nicht so hoch hängen, es komme auf den Kontext an. Sagen die einen. An ihrer Sprache sollt ihr sie erkennen! Sagen die anderen.
Das N-Wort ist ein Unwort. Es ist nicht möglich, es auszusprechen, ohne die Gemeinten in eine „dritte Welt“ abzustellen. Wer es dennoch tut, will genau das. Er sagt, er rede nun mal so, deshalb sei er noch lange kein Rassist. Er ignoriert, dass er Ausbeutung, Versklavung und Vernichtung mit sagt. Er will die Herrengeste. Er fordert letztlich, reden zu dürfen, ohne dabei denken zu müssen.
Wir haben neuerdings blitzschnell gelernt, „Inzidenzwert“, „Wellenbrecherlockdown“ und was weiß ich noch alles, korrekt auszusprechen, können aber auf das altvertrauteZ- (für Sinti und Roma), F- (für Vietnamesen) und das N-Wort nicht verzichten, weil das nun einmal unsere Sprache sei, die man nicht verrenken solle? Da lügt doch jemand!
Zurück in die DDR. Was beim Hamburger Verlag bis 2008 keinen gestört hat, ist für den Berliner Kinderbuchverlag Mitte der 1970er nicht akzeptabel. Verantwortliche Leute hatten die einfache Wahrheit verstanden, dass Afrikaner Menschen sind, und meinen nun, diese solle man Kindern nicht vorenthalten. Der Verlag vereinbart mit Astrid Lindgren, das N-Wort zu ersetzen durch „König der Takatuken“. – Übrigens steht beim Verlag Oetinger an der Stelle heute, 2021, „Südseekönig“.
Noch weniger hinnehmbar als das rassistische Hauptwort ist dem Kinderbuchverlag aber diese ganze Taka-Tuka-Insel voll lustig-doofer Schwarzer. Eine Welt wie aus der Fantasie einer spießigen Pauschalreisenden.
Fiktive Kinderbuchheldinnen, egal wo ihre Abenteuer sie hinführen – und zumal wenn es sich um Pippi Langstrumpf handelt –, werden überall begeistert begrüßt, das ist klar. Jeder will ihr Freund sein, logisch. Und kein Leser möchte, dass Pippi mit den Leuten vor Ort über „junge Nationalstaaten“ und die „nationale Befreiungsbewegung“ diskutiert. Trotzdem: Die Autorin erfindet eine Welt – was für eine? Welche Handlungen denkt sie sich aus, und welches Menschenbild entwirft sie?
Zunächst werfen die Schwarzen sich, kaum sind die Kinder Pippi, Annika und Tomas angereist, vor den Gästen in den Sand. Dann bewundern sie deren helle Haut. Natürlich kommen alle Initiativen und guten Ideen ausschließlich von Pippi. Und selbst wenn sie die ihr entgegengebrachte Verehrung ablehnt, ist es wiederum Pippi, die die Schwarzen belehrt, sich nicht so unterwürfig zu benehmen – übrigens in ohrenbetäubender Sprache: „Du ein feine weiße Prinzessin bist“, sagte Momo. „Ich gar nicht ein feine weiße Prinzessin bin“, sagte Pippi, „ich einfach bin bloß Pippi Langstrumpf, und ich pfeifen auf das Thronsitzen.“ – Bei Oetinger liest sich das bis heute so.
„Absolut nicht einverstanden erklärt sich Astrid Lindgren mit der Herausnahme einzelner Kapitel, die sich auf das Leben auf der Insel Taka-Tuka beziehen“, berichtet der Kinderbuchverlag an seine Druckgenehmigungs-, also die Zensurbehörde. „Sie erklärt sich aber einverstanden mit der Weglassung des ganzen dritten Buchs Pippi in Taka-Tuka-Land.“ Das bedauert der Verlag zwar, weil darin auch „zwei der wenigen gesellschaftskritischen Geschichten“ stehen, lässt aber nicht mit sich handeln.
Für Marxisten gibt es keine „Rassenfrage“. Die Rassenideologie ist, sagt das Philosophische Wörterbuch der DDR, ein Versuch, „mit Mitteln des Biologismus die barbarische Praxis reaktionärer Ausbeuterklassen zur Unterdrückung, Ausraubung und Vernichtung bestimmter Bevölkerungsschichten, politischer Vereinigungen und ganzer Völker ideologisch zu rechtfertigen … Wissenschaftlich ist der Rassismus völlig unhaltbar“.
„Die Zivilisierten haben die Elenden geschaffen“, notiert der afroamerikanische Autor James Baldwin, „sie haben es kaltblütig und bewusst getan, und sie haben nicht die Absicht, den gegenwärtigen Zustand zu ändern.“ Man möchte ergänzen: Und wenn sie davon sprechen, tun sie es in ihrer, die Zustände rechtfertigenden Sprache.
Was nun tun mit Pippi Langstrumpf, heute? Soll man ändern? Streichen? Eingreifen in die Kunstfreiheit? Agiert man dann nicht wie eine Zensurbehörde? Ich denke, man darf Zehnjährigen keinen Rassismus bieten als unterhaltsamen Lesestoff. Dafür braucht es keine Zensur. Das verbietet sich ganz von selbst.
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