Beginnen wir mit einem Vorgriff. „Seneca wird bis Silvester endlich verstorben sein“, meldet der DDR-Bürger Peter Hacks im November 1977 dem Münchner Drei Masken Verlag, der in den Tagen der geteilten Welt die geschäftlichen Interessen von Hacks im Westen managt.
Gemeint ist sein Stück Senecas Tod, das 1980 uraufgeführt werden wird. Es erzählt, wie der alte römische Philosoph gesinnungstreu einst aus dem Leben schied. Kaiser Nero hatte ihm, dem Stoiker, ausrichten lassen, er solle, was seine Schriften so schön kundtun, am eigenen Leib beweisen: dass er in Würde zu sterben wisse. Seneca zeigte Haltung. Vornehm vernahm er den Befehl, ließ Badewasser in eine Wanne, schnitt sich die Adern auf. Hacks nun: „Die Wirkung dieses Denkers auf die Nachwelt ist eigentümlich. Keiner untersucht seine Gedanken auf ihre Richtigkeit hin, alle reden darüber, ob sie den Urheber derselben leiden können.“ Was interessiert ihn, Hacks – ein Autor ist ja involviert in seine Stoffe – des Senecas stoische Haltung zweitausend Jahre später derart, dass er ein Theaterstück draus macht? Es hat mit Ereignissen des Jahres 1976 zu schaffen, meine ich.
Da wurde zunächst ein Bühnenwerk uraufgeführt, das von der Personnage her Hacks’ kleinstes, vom Titel sein längstes und von den Erfolgen sein erfolgreichstes ist, Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe. Auch hier macht eine gut abgehangene Dichter-und-Denker-Episode das Sujet. Johann Wolfgang Goethe, 37 Jahre alt und Minister am Weimarer Hof, ist fort über Nacht, weil ihn die Politik erdrückte. Unter falschem Namen abgehauen, klammheimlich, bleibt er fast zwei Jahre weg. Es ist seine berühmte erste „Italienische Reise“. In der DDR hätte man Republikflucht gesagt.
Das Drama hat nun die Verlassene. Charlotte von Stein ist dem jungen Herrn Goethe einst, als er auf Wunsch des frisch gebackenen und noch viel jüngeren Herzogs nach Weimar kam, behilflich gewesen, in die dortigen Sitten sich ein- und am Hofe zurechtzufinden. Sie lehrte ihn Benimm. Doch Etikette hin oder her, man verliebte sich, und es begann eine zehn Jahre dauernde Liebesbeziehung – bis eben jetzt. Sitzengelassen vom Freund, spricht Charlotte zu ihrem Mann, der im Lehnstuhl Pfeife raucht. Hacks’ Szenenanweisung: Er ist ausgestopft. Charlotte kennt ihren Gatten nicht anders und nimmt ihn, wie er ist, als Adresse, Spiegel, Boxsack. Sie kämpft, rechtfertigt, echauffiert, verrennt und verrät sich. Das Private ist wie stets politisch. Aber bei Hacks auf das Charmanteste.
1976 kommt das Monodrama heraus. Im Frühjahr in Dresden, Traute Richter spielt die Stein. Im Herbst in Berlin, Hauptstadt der DDR, mit Karin Gregorek, die, so viel Tratsch muss einmal sein, dem verheirateten Hacks zärtlich verbunden ist. Dann geht das Stück in alle Welt. Nach Göttingen, Westberlin, Zürich, Prag, Warschau und Budapest. Nicole Heesters spielt die Stein am Hamburger Thalia Theater. Agnes Fink an den Münchner Kammerspielen. Annemarie Düringer in Wien. Uta Hagen in New York.
Peter Hacks hat einen Welterfolg geschrieben. Und verdient massig Westgeld. Dem Drei Masken Verlag schreibt er im November 77: „Wegen Ihrer Genehmigungskramerei kündige ich Ihnen gleich an, dass ich im Januar wieder DM 30.000 benötige.“ Auch Kommunisten haben Kosten.
Nun zu dem anderen. Im Herbst 1976 reist ein Sänger in die BRD, den Hacks schon lange nicht leiden kann und einmal charakterisierte als „Poeten von hübschem Talent und enormem Geltungsbedürfnis“, Wolf Biermann. Die bundesdeutsche Gewerkschaft IG Metall hat ihn zu einer Konzerttournee gebeten. Und die SED-Führung lässt den Liedermacher, der in der DDR nicht auftreten darf, samt seiner Klampfe fahren. Biermann singt und redet in den Konzerten munter drauflos. Er empfiehlt den DDR-Oberen, die er stalinistische Bonzen nennt, eine andere sozialistische Politik, einen „dritten Weg“. Westdeutscher Rundfunk, westdeutsches Fernsehen übertragen. Den angeranzten Bonzen reicht’s. Biermann wird aus der DDR ausgebürgert. Das soll Kampfesstärke beweisen. Es beweist aber politische Dummheit. Es folgt der berühmte Aufstand der Aufrechten, die Biermann-Erklärung. Mehr als ein Dutzend namhafte ostdeutsche Künstler setzen ihren guten Namen unter ein Schreiben gegen den Rauswurf, die Sache ist hinlänglich bekannt.
Hacks äußert sich ebenfalls. Aber anders und nicht im Verbund mit anderen. In der Weltbühne vom 7. Dezember 1976 platziert er einen Text, der Biermanns Ausweisung gutheißt. Er tut das, obwohl er selbst Honeckers Politik missraten findet. Es scheint ihm aber dringend nötig, zu warnen: Leute, vergesst Prager Frühlinge, sie funktionieren nicht. Es gibt keinen dritten Weg! Er schreibt: „Gewiss ist die Vorstellung, man könne die Vorzüge des Sozialismus mit den paar noch übrigen Vorzügen des Imperialismus verbinden, angenehm. Aber sie ist, zur gegenwärtigen Zeit, eine ungebildete Vorstellung.“ Das mag man richtig finden oder nicht; und die Tantiemen, die Hacks so reichlich zufließen, einmal beiseitegelassen: Der Text ist eine Zumutung. Denn der stilsichere Feingeist will unbedingt mit Dreck werfen und schreibt vom Schriftsteller Heinrich Böll: „Den kennt man. Er ist drüben der Herbergsvater für dissidierende Wandergesellen. Biermann hat in seinem Bett übernachtet, und ich hoffe, er hat nicht noch Solschenizyns Läuse darin gefunden.“ Warum tut Hacks Böll, den Lesern und sich selbst das an? Wessen Porzellan will er unbedingt zerschlagen?
Empörung folgt augenblicklich. Die Frankfurter Rundschau schreibt, der Artikel stelle „an Widerwärtigkeit alles in den Schatten, was in diesem Zusammenhang zu Papier gebracht wurde“. Die Münchner Kammerspiele setzen Hacks’ Jahrmarktsfest zu Plundersweilern vom Spielplan ab, die vorvertraglich bereits zugesicherte Premiere der Stein wird gestrichen. Für den Chefdramaturgen Ernst Wendt ist dies eine „Charakterfrage“. (Das Stück kommt später aber doch.) Das Theater in Bremen verzichtet darauf, Adam und Eva zu inszenieren.
Haltung. Darum geht’s. Auf beiden Seiten. Auch um die alte, neueste Frage, ob und wie weit voneinander man Werk und Autor trennen soll. Und Hacks tatsächlich um den Sozialismus, den er in Gefahr sieht. Mitte der 1950er Jahre aus München in die DDR eingesiedelt, war er ein Anhänger Walter Ulbrichts und ist ihm Honeckers „Taktik ohne Strategie“ ein Gräuel. So ist keine Politik und schon gar nicht Sozialismus zu machen! Doch der Gegner steht anderswo, und deshalb wird Hacks sich niemals zu den Dissidenten schlagen. Der Feind steht im Westen. Die von Egon Bahr ausgeheckte und von Willy Brandt ins Leben gesetzte Bonner Ostpolitik, Wandel durch Annäherung, ja die ganze Friedens- und Entspannungspolitik seit dem Vertrag von Helsinki sieht Hacks als Angriff. Als konzertierte Aktion und einen raffiniert-maskierten Schachzug des Westens, sich den Osten gefügig zu machen, ihm die Zähne zu ziehen, um ihn später besser fressen zu können. Die „Sozialdemokratisierung des Weltkommunismus“. Dessen Ende.
Nachdem der Sozialismus längst hinüber ist und Hacks selbst nah vorm Tod steht, wird er sich 2003 in einem Interview immer noch wundern: „Beide Politbüros, das sowjetische und das der DDR, wussten natürlich ununterbrochen, dass der Westen sie mit seinem Frieden abschaffen will. Sie haben sich gegenseitig immer gesagt: Passt auf, der Feind meint es nicht gut mit uns. Und haben immer gehandelt, als meine es der Feind gut mit uns.“ Was Hacks übersieht: dass die Amerikaner die Sowjets wohl in jedem Fall totgerüstet hätten.
Ein Stück von ihm, das Mitte der 1980er Jahre noch kommt, heißt Die Binsen. Gewitzt zeigt der Autor, wo’s hin-, wenn es so weitergeht. Zu spät. Das Stück wird kleingespielt auf dem Bühnchen, das es im Palast der Republik gab. Den in Hacks’ Todesjahr der Bundestag abzureißen beschloss. Nun gibt es da in Kürze eine „Wippe der Einheit“. Hauptsache, das Porzellan bleibt ganz.
Kommentare 8
Letztlich ist mir Hacks' Kodderschnauze doch sympathisch. Dahinter steckt vielleicht kein Feingefühl, aber nonkonformer Durchblick. Auch einer seiner letzten treuen Adepten, Wiglaf Droste, von dem man als Menschen ebenfalls verschiedenes halten kann, sah am Ende seines Lebens ein: Wenn alle um einen rum Antikommunisten geworden sind, bleibt einem nur noch: Wieder Kommunist werden.
++ Im Herbst in Berlin, Hauptstadt der DDR, mit Karin Gregorek, die, so viel Tratsch muss einmal sein, dem verheirateten Hacks zärtlich verbunden ist. ++
Da gibts diese schöne Dichtung, zu der auch getanzt werden kann.
Beeilt euch, ihr Stunden, die Liebste will kommen.
Was trödelt, was schleppt ihr, was tut ihr euch schwer?
Herunter da, Sonne, und Abschied genommen.
Verstehst du nicht, Tag, man verlangt dich nicht mehr.
Mit seinen Droschken und Schwalben und Hunden
Wird mir das ganze Leben zum Joch.
Schluß mit Geschäften. Beeilt euch, ihr Stunden.
Und wärt ihr Sekunden, ich haßte euch noch.
Ich kann nicht erwarten, den staunenden Schimmer
In ihrem zärtlichen Auge zu sehn.
Verschwindet, ihr Stunden, am besten für immer.
Die Liebste will kommen, die Welt soll vergehn.
In einem Brief an Hermann Kant hat er sich auch um eine schöne Tasche für Frau Gregorek bemüht, Kant war wohl auf Lesereise.
Ich lese ja gerade eine Biographie über Sahra Wagenknecht, in der die Bewunderung, die Wagenknecht Peter Hacks entgegenbrachte ausführlich thematisiert wird. Er war in gewisser Weise für sie der "Stellvertreter Goethes auf Erden".
Und ganz sicherlich hat sie auch seine Einschätzung Walter Ulbrichts geteilt. Inzwischen habe ich mich ja auch der Meinung angeschlossen, dass Walter Ulbricht tatsächlich ein Theoretiker mit grundsätzlichen Gedanken war und Erich Honecker weit überlegen.
++ "seit dem Vertrag von Helsinki sieht Hacks als Angriff. Als konzertierte Aktion und einen raffiniert maskierten Schachzug des Westens, sich den Osten gefügig zu machen, ihm die Zähne zu ziehen, um ihn später besser fressen zu können. Die „Sozialdemokratisierung des Weltkommunismus“. Dessen Ende. ++"
Ja, aber der war auch nicht maskiert der Schachzug. Das war das Motto und in der gesamten DDR-Zeit ging die Forderung nach "Abgrenzung" durchs Land. Die führenden Genossen fürchteten sich ja auch deshalb vor diesen Umarmungen und dem immer größeren Einfluss, aber sie brauchten sie auch.
Es hängt allerdings von der eigenen politischen Anschauung ab, wie das heute betrachtet wird. Es hat dieses auch Kriege verhindert, denke ich z. B. Und - was Hacks ja auch nicht sehen will - die Zähne haben sich die führenden Genossen allüberall selbst gezogen. Das Ganze ist übergegangen in einen weltpolitischen Kampf um Einflussgebiete. Nix Weltkommunismus. Hacks betrachtet die Welt halt irgendwie als eine Art Welttheater, es tut weh,wenn die Regieanweisungen nicht beherzigt werden.
Hacks Geschimpfe auf Biermann - naja. Wenn ich überlege, wie Biermann einstmals den Florian Havemann beschimpft hat, als der in den Westen ging. Übelst.
Danke für Ihren klugen, ausführlichen Kommentar.
Aber: "Und - was Hacks ja auch nicht sehen will - die Zähne haben sich die führenden Genossen allüberall selbst gezogen." Davon genau spricht er doch. Dass das sowjetische und das DDR-Politbüro immer schwor, Zähne zu zeigen, aber nicht immer tat. Zugleich argumentiert Hacks natürlich kalt an den Menschen, die in der DDR lebten, vorbei und über sie hinweg, wenn er Helsinki ff. als Fehler abkanzelt. Es war so dringend nötig, es verschaffte Atemluft und Hoffnung.
»Danke für Ihren klugen, ausführlichen Kommentar.«
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Ja, stimmt natürlich. Ich meinte eher, sie haben sich vor allem gegenüber den Menschen unglaubwürdig gemacht. Im Grunde ihre eigene Politik und ihre eigenen Ziele nicht wirklich mehr ernst genommen.
Ansonsten - Danke für Ihre ausführliche Antwort. Ja, das ist auch eine spannende Sache mit dem Peter Hacks. Der wird auch nicht verschwinden.
Was bei der rührseligen Biermanniade immer etwas untergeht: War das im heißen Herbst ´76 überhaupt eine schmähliche Ausweisung?
Der Kabarettist Dietrich Kittner weist auf Biermanns festen Wunsch hin, in den Westen zu gehen:
Kaum schlug der Biermann-Skandal nämlich hohe Medienwellen, stand mir eine kleine, unscheinbare Zeitungsmeldung vom April 1976 vor Augen. In Heft 4/76 der Satirezeitschrift pardon - also bereits sieben Monate vor der spektakulären Aktion - hatte der Journalist Reginald Rudorf, ein kämpferischer Anhänger und nach eigenen Worten auch enger Freund Wolf Biermanns, auf Seite 169 unter der Überschrift "Lieder für die DDR" folgendes geschrieben: Ostberlins Sing-Genie Wolf Biermann will in den kapitalistischen Westen. Nachdem seine Reise zu einem Offenbacher Kongreß Ende '75 von den Behörden der DDR nach anfänglicher Zusage in letzter Minute abgesagt wurde, hat sich Biermann jetzt entschieden: "Natürlich bin und bleibe ich Kommunist..." Jedoch würde er "nach Westdeutschland gehen, um zu arbeiten, bis man in der DDR meine Lieder als Lieder für die DDR erkennt." Zur Frankfurter Buchmesse war dann die Unterschriftenaktion der Jusos "Reisefreiheit für Wolf Biermann" gestartet worden. Mit Erfolg: Im November befand sich der Künstler wunschgemäß im Westen.
Auch dem - nicht gerade als DDR-nostalgisch bekannten - Focus erscheint Biermanns Novembernummer eher als angekündigter Rauswurf.
Ich fand Hacks – als er noch für »konkret« schrieb – oft einer Leseaufmerksamkeit wert. Die klassisch-bürgerliche Kulturschiene, für die er sich so stark machte, ist zwar entschieden nicht mein Fall. In seinen Argumentationen war er jedoch stets stringent. Mit seiner illusionslosen Einschätzung des RES hat er wahrscheinlich Recht gehabt. Immerhin hat er die historisch-analytische Betrachtungsweise, die Biermann bald vollends abhanden gekommen ist, bis zu seinem Ende beibehalten.
»Wenn ich überlege, wie Biermann einstmals den Florian Havemann beschimpft hat, als der in den Westen ging. Übelst.«
Das hat mich die letzten Tage doch etwas beschäftigt. Ich habe ja Biermann erst später richtig kennen- und lieben gelernt. Mir fällt in dem Kontext nur das Flori Have Lied ein. Das ist manchmal trotzig ("lass, lass in die Binsen gehen, ..."), manchmal vorwurfsvoll ("wer abhaut aus dem Osten ..."), aber unterm Strich doch voll (enttäuschter) Liebe. Gibt es von ihm da außerdem noch Äußerungen, wo er ihn beschimpft?