Die DDR vor 40 Jahren. Da lag das Land, klein wie ein Fragezeichen, an der einen Flanke stand eine Mauer, in die Gegenrichtung unterhielt man einen festen Bruderbund. Man sah sich bedrängt, verführt und getrieben – von beiden Seiten. Das bessere Deutschland wolle man sein, hieß es. Eine Russenkaserne habe man errichtet, wurde geschimpft. Über sein Verhältnis zur Bundesrepublik und zur Sowjetunion definierte sich der Staat zeit seiner Existenz, in diesem Kräftefeld lavierte seine Führung. Man konnte viel falsch machen. Wer sich zu weit aus dem Fenster lehnte, stürzte tief.
Wir schreiben das Jahr 1970. Nachdem der 20. Jahrestag der DDR im Vorjahr mit viel Getöse über die Bühne ging, ist es äußerlich still. Aber hinter den Kulissen rumort es. Staats- und Parteichef Walter Ulbricht bastelt noch immer an seinem Neuen Ökonomischen System (NÖS), das der DDR zum großen Sprung nach vorn verhelfen soll. „Überholen, ohne einzuholen“. Er will den ökonomischen Wettstreit mit dem Westen gewinnen. Die Betriebe sollen mehr Eigenverantwortung übernehmen, Schwerindustrie und Computerproduktion werden forciert. Nichtsdestoweniger sind gerade wieder alle möglichen Waren knapp. So kritisiert Hanna Wolf, Rektorin der SED-Parteihochschule, dass „in den Apotheken nicht einmal Hustensaft zu haben“ sei.
Den Sowjets passt das ostdeutsche Überholmanöver sowieso nicht. Sie beziehen Ulbrichts stolze Parole, nicht zu Unrecht, auch auf sich. Und bestehen auf pünktlichen Warenlieferungen. Im Gegenzug hat die DDR im Sommer 1969 an Moskaus Lieferverpflichtungen bei Rohstoffen erinnert. Aber die UdSSR ist wegen einer Missernte und ihres Engagements in Vietnam knapp bei Kasse und verkauft ihr Öl auch anderswo hin. Die DDR-Delegation erklärt im Kreml: „Wir hatten euch bereits mitgeteilt, dass wir im Laufe des Perspektivplans 1971– 1975 die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung über das westdeutsche spätkapitalistische System beweisen müssen.“ Leonid Breschnew darauf, pikiert: „Wir müssen an den Ziffern noch sehr viel ändern.“
Seit Oktober 1969 regiert in Bonn eine sozialliberale Koalition unter Kanzler Willy Brandt. In seiner Regierungserklärung sagt er: „Auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie füreinander nicht Ausland.“ Was für Töne von jenem Mann, der die DDR nach dem Mauerbau noch als Konzentrationslager bezeichnet hat. Erstmals erkennt er die staatliche Existenz der DDR an. Es riecht nach Tauwetter.
Nicht amüsiert
Und auch Walter Ulbricht setzt auf Annäherung. Auf einer Pressekonferenz bekräftigt er Mitte Januar 1970 seine Bereitschaft zu Verhandlungen über einen Gewaltverzichtsvertrag mit der Regierung in Bonn. Ihm ist klar, eine volle völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch den anderen deutschen Staat liegt außer Reichweite. Also will er in kleinen Schritten vorankommen, über die Einrichtung von „Missionen“ oder „Ständigen Vertretungen“. Kremlchef Breschnew ist nicht amüsiert. Er verbietet die deutsch-deutsche Extratour. Noch gilt seine Doktrin von der begrenzten Souveränität der Bruderstaaten. Was das im Ernstfall heißen kann, war unlängst in Prag sichtbar geworden. Breschnew macht klar: In Moskau spielt die Musik.
Und das tut sie wirklich. Seit Anfang des Jahres führt Egon Bahr Verhandlungen mit der sowjetischen Führung. Am 20. Mai liegt sein „Bahr-Papier“ vor, worin beide Seiten übereinstimmen, von der „bestehenden wirklichen Lage“ in Europa auszugehen, also den Status quo faktisch anzuerkennen. In dem dann am 12. August unterzeichneten Moskauer Vertrag verpflichtet sich die Bundesrepublik Deutschland, die bestehenden Grenzen in Europa, einschließlich der Oder-Neiße-Linie und der Grenzen der DDR, als unverletzlich zu betrachten.
Erich Honecker, Mitglied des SED-Politbüros und dort zuständig für Sicherheitsfragen, ist Ulbrichts „Kronprinz“. Aber dessen deutschlandpolitische Vorstellungen lehnt er ab. Er hält die westdeutschen Signale für eine „demagogische Offensive“, der man entgegentreten müsse. Wenn, dann die volle staatliche Anerkennung! Er torpediert Ulbrichts Entspannungsbemühungen, ganz in Breschnews Sinn. Und auch Ulbrichts NÖS passt ihm nicht. Mehr Eigenverantwortung der Betriebe hieße, den Einfluss der Partei zu schmälern. Zugleich entgeht ihm nicht der Volkszorn über die immer währenden Engpässe. „Wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben“ – Honecker weiß, die Devise hat ausgedient.
So kommt es zu immer neuen Konflikten im Politbüro. Der Streit eskaliert und führt am 1. Juli zum Eklat. Ulbricht entbindet Honecker kurzerhand von allen Funktionen. Der läuft sofort in die sowjetische Botschaft Unter den Linden und beschwert sich. Botschafter Pjotr Abrassimow, gerade in Moskau, nimmt die Nachricht telefonisch entgegen, erstattet Breschnew Bericht, der weist ihn an: „Du fliegst sofort zurück nach Berlin, sprichst mit Walter und veranlasst, dass er das zurücknimmt.“
Eine Woche später sitzt Erich Honecker wieder mit im Boot. Aber er weiß nun, wenn er ans Ruder will, muss er jetzt handeln. Er schart Vertraute um sich. Biedert sich Moskau an. Ende Juli signalisiert ihm Breschnew seine Unterstützung und plädiert für eine „mittlere Variante“ der Machtübernahme. Es habe sich ja bereits ein natürlicher Prozess vollzogen, konstatiert er, „und selbst der Gegner rechnet damit, Erich, dass du die Parteiarbeit leitest und Walter als Vorsitzender des Staatsrats wirkt“.
Rapider Machtverlust
Im September beschließt das SED-Politbüro in Ulbrichts Abwesenheit die Grundzüge einer neuen Wirtschaftspolitik. Ulbricht, nicht nur der „erste Tischler seines Staats“, sondern ein Mann mit sicherem Machtinstinkt, spürt, dass ihm die Dinge entgleiten. Er stemmt sich dagegen. Noch im August ist es ihm gelungen, in einem vierstündigen Gespräch Breschnew davon zu überzeugen, ihn im Amt des Parteichefs zu belassen. Zum anderen aber beharrt er auf seinen inhaltlichen Positionen. Markus Wolf, zu dieser Zeit Chef der DDR-Auslandsaufklärung, erinnert sich später in seinen Memoiren: „In Einzelgesprächen erörterte er den Gedanken einer deutsch-deutschen Konföderation.“
Spätestens auf der 14. Tagung des Zentralkomitees der SED im Dezember wird der rapide Machtverlust Ulbrichts auch für die teilnehmenden Genossen sichtbar. Auf der Sitzung wird die angespannte Versorgungslage thematisiert. Ulbricht, angegriffen, prescht nach vorn und hält ein Schlusswort, das im Widerspruch zu vorher gehaltenen Referaten steht. Seine Rede erscheint anderntags nicht im Neuen Deutschland, und Ulbricht wird von den Gefolgsleuten, die Honecker inzwischen um sich geschart hat, gezwungen, auch zukünftig von einer Veröffentlichung abzusehen. Wenn das Schlusswort erschiene, argumentieren sie, sprächen alle von Meinungsverschiedenheiten im ZK. Da das nicht sein darf, gibt Ulbricht klein bei. Seine Autorität ist schwer beschädigt.
Jetzt kann Honecker ihn stürzen. Gemeinsam mit den Politbürokollegen Paul Verner und Werner Lamberz schreibt er einen als „Geheime Verschlusssache“ deklarierten Brief an das Politbüro der KPdSU, namentlich an Leonid Breschnew. Darin erbitten die Verschwörer Ulbrichts Absetzung. Sie listen Verfehlungen auf, denunzieren ihn als unbelehrbar, beklagen seine Arroganz. Gern sähe er sich auf einer Stufe mit Marx, Engels und Lenin. Das sitzt. Am 21. Januar übergibt Lamberz persönlich das siebenseitige Schreiben. 13 Funktionäre haben es unterzeichnet.
Doch erst drei Monate später führt Breschnew eine Aussprache mit Ulbricht. Widerwillig stimmt der seinem politischen Ende zu. Am 27. April 1971 liegt sein Rücktritt vor. Die Würfel sind gefallen. Honecker hat die Macht an sich gerissen. Das zweite Leben der DDR beginnt. Es wird kürzer als ihr erstes sein.
Walter Ulbricht verschwand schnell in der Versenkung, seinen Namen zu nennen, wurde vermieden. Bereits als ich 1971 in die Schule kam, war er zu einer peinlichen Person geworden. Oma im Hof. Lilo am Fenster. Diese wunderbar dadaistischen Sätze standen in meiner Fibel, mit der ich lesen lernte. Ganz am Ende des Buchs gab es zwei Seiten über Walter Ulbricht, den fröhlichen Freund aller Kinder. Der Verlag hatte es nicht mehr geschafft, eine neue Auflage zu drucken. Die Lehrerin wurde rot. Das Kapitel blieb ungelesen. Wir lernten stattdessen etwas über Erich Honecker, den fröhlichen Freund aller Kinder.
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