Der Berliner Himmel ist stahlblau. Das Fenster über meinem Schreibtisch geht nach Westen. Ich sehe, weit hinten am Horizont, Maschinen im Landeanflug auf Tegel. Langsam senken sich ihre schweren Leiber, blitzend in der Sonne.
Ich rufe Horst Uhlig an. "Hallo, Herr Uhlig. Sie kennen mich nicht. Ich möchte gern mit Ihnen über ein Ereignis reden, das ist lange her." "Die Flugzeugentführung." "Ja. Genau." "Es ist immer die Flugzeugentführung." Zuerst will er nicht weiter darüber sprechen. Steht doch alles in den Akten. Ich erkläre ihm, dass, was ich von ihm wissen will, nicht in den Akten steht. Es sei schon zu viel geredet und geschrieben worden, sagt er. Und dann: "Aber mein Name bleibt außen vor!" Ich verspreche es. - 30 Jahre ist das Erlebte her. Es ist, als berührt man eine frische Wunde.
Ich selbst erinnere mich nicht an den 30. August 1978. Es war mein 13. Geburtstag. In meinem Tagebuch, das ich aus einem verstaubten Karton heraussuche, steht nichts darüber. Er muss wohl nicht besonders aufregend gewesen sein für mich, jener Tag.
Es herrscht Rückreiseverkehr. In zwei Tagen beginnt das neue Schuljahr. In Berlin ist Oktoberwetter. Die DDR feiert, wie so oft, einen großen Sieg. Sigmund Jähn kreist seit vier Tagen im Kosmos. Unser Siggi. Der erste Deutsche im All - ein Bürger der DDR! Das Fernsehen bringt in unendlicher Wiederholung den Start der Rakete. Das vogtländische Örtchen Morgenröthe-Rautenkranz, aus dem der Kosmonaut stammt, wird über Nacht berühmt. Arbeitskollektive verpflichten sich zu Höhenflügen im sozialistischen Wettbewerb. - Ich weiß noch, dass am Sonntag plötzlich eine Zeitung im Briefkasten steckte. Eine dünne Sonderausgabe, eine Sonntagszeitung. So etwas gab es nie zuvor, nie danach. Die DDR hatte plötzlich Weltraumformat.
Parteiintern diskutiert man über die Intershops und die Rolle der D-Mark. Viele Bürger ohne Westgeld empfinden die Situation als ungerecht. Es kursieren Gerüchte, die Intershops könnten schließen, und lösen eine Art Sommerschlussverkauf in den Läden aus.
Der Westen spielt seine eigenen Hits. Die Lieder des Sommers 78 heißen Dancing in the City und Kreuzberger Nächte sind lang. Vor einem Jahr war die Lufthansa-Maschine Landshut von Terroristen nach Mogadischu entführt und dort von einem Kommando der GSG 9 gestürmt worden. Gerade hat man sich auf internationaler Ebene über schärfere Antiterrorgesetze verständigt. Jeder weiß, was Luftpiraten blühen kann.
Trotzdem geschieht es.
Gegen neun startet die Maschine
Vom ostdeutschen Weltraum-Happening haben die Passagiere wenig mitbekommen, die sich an jenem Mittwochmorgen auf dem Gdansker Flughafen einfinden. Ein dreistöckiges Terminal, noch nagelneu damals. Horst Uhlig - der Mann, mit dem ich telefonierte (und der in Wahrheit, wie versprochen, anders heißt) - ist Kfz-Mechaniker im thüringischen Schleiz. Er und seine Frau haben zwei Wochen Urlaub hinter sich: "Danzig und die Ostsee, sehr schön!" Ein mit ihnen befreundetes Ehepaar kehrt von seiner Hochzeitsreise zurück. Frühzeitig sind die Passagiere vor Ort, es sind vor allem Deutsche aus der DDR. Drei Nachzügler kommen in letzter Minute, überstürzt und außer Atem. Sie bitten, noch mitfliegen zu dürfen. Sie haben ein gültiges Ticket und kaum Gepäck. Warum nicht?
Maria Piotrowicz hat gerade mit ihrer Schicht begonnen. Sie arbeitet beim Zoll seit 1958 und ist seit Eröffnung des Flughafens vor vier Jahren hier tätig. An der Abfertigung des Berlin-Flugs vorher nicht beteiligt, wird sie jetzt beauftragt, doch noch schnell eine Personenkontrolle vorzunehmen. Sie durchsucht die 35-jährige Ingrid Ruske und ihre Tochter, zwei der späten Passagiere. Die Frau im hellen Kostüm lässt sich bereitwillig durchsuchen, ohne dass etwas Auffälliges gefunden wird. "Die Überprüfung des Mädchens", erklärt Maria Piotrowicz später in ihrer Vernehmung, "führte ich in Gegenwart einer zivilen Mitarbeiterin durch. In den Hosentaschen fand ich eine Spielzeugpistole mit Zündplättchen. Eine kleine Spielzeugpistole aus Weißmetall, sehr leicht. Dieses Spielzeug ließ ich dem Kind."
Die Maschine ist aufgerufen, die Passagiere stehen schon am Ausgang zum Flugfeld, als die drei gelaufen kommen. Sie drängen sich zwischen die Wartenden. "Wir wollen in die Maschine nach Berlin!" Horst Uhlig durchschaut sofort, was hier gespielt wird. Die wollen sich vordrängeln. "Schön der Reihe nach, Freunde. Hier woll´n alle nach Berlin."
Der Flug dauert nur eine knappe Stunde. An Bord befinden sich 62 Passagiere. In Reihe fünf nehmen Ingrid Ruske und ihre zwölfjährige Tochter, rechts des Gangs sitzt ihr 34-jähriger Begleiter. Er hat rotblondes Haar, trägt einen Schnauzer. Er heißt Detlef Alexander Tiede, ist Kellner in Berlin, zurzeit ohne Arbeit. Die DDR-Presse wird ihn später charakterisieren als trinkfest und arbeitsscheu. Ingrid Ruske, auch aus Berlin, ebenfalls Kellnerin, hat zuletzt im Restaurant Moskau serviert. Seit Januar ist auch sie ohne Anstellung. Jetzt sitzen die drei in dieser Maschine. - Dabei hätte alles ganz anders laufen sollen.
Seit Anfang August hält sich Tiede in Sopot auf. Er wohnt in einem Privatquartier. Wie in einem Versteck wartet er auf die Ankunft seiner Freundin und ihrer Tochter. Mit falschen Pässen wollen sie per Fähre über die Ostsee in den Westen fliehen. Alles ist genau geplant. Tiede hat seinen Pass schon bei sich. Die falschen Papiere für Ingrid Ruske und das Kind soll ein Fluchthelfer nach Polen schmuggeln. Der lebt in Westberlin und hat als Bauleiter auf einer DDR-Baustelle gearbeitet. Im Dezember 76 lernte Ruske ihn kennen. Er überredete "eine ihm bekannte Westberlinerin gegen Zahlung von 300 DM, unter Abgabe von Passfotos der Ruske (beide sehen sich sehr ähnlich) einen neuen Westberliner Personalausweis zu beantragen", notiert später die Stasi-Hauptabteilung IX. - Die Geschichte dieser Flucht ist auch die Geschichte einer Frau zwischen zwei Männern.
Die Flucht per Fähre fällt aus
Aber Ingrid Ruske vertraut sich zuhause einer guten Freundin an, die Sache fliegt auf. "Der Kreisdienststelle Berlin-Mitte wurde inoffiziell bekannt, dass die Bürgerin Ruske mit ihrem Kind beabsichtigt, die DDR ungesetzlich über die VR Polen zu verlassen." Mutter und Tochter werden zum "Objekt Fähre", die Stasi bittet die polnischen Kollegen um Amtshilfe. "Am 25. 8. 1978 fuhr Tiede mit einer Taxe zum Flughafen Gdansk, wo er die Ruske und deren Kind abholte. Von diesem Zeitpunkt an begann die Beobachtung der Ruske entsprechend dem Ersuchen des MfS durch das polnische Bruderorgan." Ab jetzt wird das Trio auf Schritt und Tritt observiert. Weiter unternimmt man nichts. - Wieso? Warum hat man sie überhaupt nach Polen reisen lassen? Es gibt zunächst nur die Denunziation. Noch fehlen Beweise.
Sie übernachten zu dritt in Tiedes Quartier. Am nächsten Morgen fahren sie nach Gdynia. Aber sie treffen den Fluchthelfer nicht. Er ist in der Nacht am Grenzübergang Frankfurt/Oder mit dem falschen Pass erwischt und aus dem Zug geholt worden - und wird später zu acht Jahren Haft verurteilt. "Zur Bürgerin der DDR Ruske wurden Fahndungsmaßnahmen zur Festnahme eingeleitet." Aber man greift nicht sofort zu. Die Stasi verhaftet ihre DDR-Bürger nicht auf polnischem Boden. Auch das "Bruderorgan" tut es nicht. Stattdessen läuft man den dreien weiter nach. Und den Ereignissen hinterher. Bis zum Schluss.
Die Flucht per Fähre fällt also aus. Die drei geraten in Panik. Fühlen sich beobachtet. Sie ahnen, dass etwas passiert sein muss und ihnen nur noch wenig Zeit bleibt. Sie stecken in einer Sackgasse. Der Druck wächst. Sie müssen handeln, sonst wandern auch sie in den Knast. - Die Geschichte dieser Flucht erzählt, wie man Kriminalität herstellt. Die Gesetze der DDR (Republikflucht als Straftatbestand) erschaffen "Staatsfeinde", die Aktivitäten der Staatssicherheit machen sie zu Kriminellen. Die Strafe, die drohend im Raum steht, provoziert die Straftat.
"Am 28. 8. verkauften Tiede und Ruske auf dem Markt in Sopot Bekleidungsgegenstände." Brauchen sie Geld? Wollen sie Ballast loswerden? Ist es ein Ablenkungsmanöver, um im Gedränge des Markts unbemerkt etwas anderes kaufen zu können, nämlich ein Kinderspielzeug? Eine Zündplättchenpistole.
"Um 15 Uhr fuhren sie mit einer Taxe zum Flughafen Gdansk. Dort erkundigte sich Tiede nach freien Flugplätzen für den 30. 8. nach Berlin-Schönefeld. Er erhielt die Auskunft, dass mehrere Plätze frei seien. An diesem Tag nahm er noch keine Buchung vor. Die Ruske war bereits mit einer in Berlin vorgenommenen Rückbuchung in Gdansk angereist." Die Stasi weiß nun sicher, wann sie fliegen wollen. Kann sich vorbereiten. "Am 30. 8. fuhren Tiede, Ruske und ihre Tochter mit einem Taxi zum Flughafen Gdansk, wo Tiede eine Buchung nach Berlin-Schönefeld vornahm. Danach erschienen sie erst zehn Minuten vor dem Abflug der Maschine zur Abfertigung." Wieder lässt man sie passieren. Hat sie im Blick. Aber lässt den Dingen ihren Lauf.
Plötzlich der Ruf: Hijacking!
Jetzt sitzen sie also drin in dieser Maschine. Vorn im Flugzeug hat Falk Simon (Name geändert), 32-jähriger Soziologe aus Berlin, mit seinem kleinen Sohn Platz gefunden. Ganz hinten sitzt Monika Jeischik (24), Radiologie-Assistentin aus Erfurt. Dazwischen irgendwo auch das Ehepaar Uhlig. Zwei Stasi-Beamte sind mit an Bord, um, wie es heißt, Ingrid Ruske sofort nach der Landung zu verhaften. Einer soll sich gar als Pfarrer verkleidet haben, erzählt mir Horst Uhlig. Woher er das weiß, frage ich. "Das sah man denen doch an! Der eine trug eine Lederjacke." Und der falsche Pfarrer? "Wie der sich schon benahm!" - Erinnerung wird Anekdote, Geschichte zum Histörchen.
Eine halbe Stunde lang verläuft der Flug nach Plan. Gleich nach dem Start gibt es einen kleinen Imbiss. Monika Jeischik sieht aus dem Fenster. Ruske und Tiede sprechen nur einmal kurz miteinander. Zwei Mal geht Detlef Tiede an den Tresen der Bordküche, um sich dort Mut anzutrinken - und um die Lage zu peilen. Die Landung in Schönefeld wird angekündigt, die Anschnallzeichen leuchten auf. Die Maschine befindet sich schon über dem Gebiet der DDR. Die Bordküche ist jetzt durch einen Vorhang vom Passagierraum getrennt. Da steht Tiede auf und geht in Richtung Cockpit.
Ewa Przybysz, Jahrgang 1953, ist Stewardess an Bord. Sie sitzt in der Bordküche auf einem Container, mit dem Rücken zu den Passagieren. "Plötzlich riss mich jemand heftig an den Haaren. Ich wurde mit Gewalt zu Boden gestoßen und gegen den Container gedrückt. Im Genick spürte ich einen harten Metallgegenstand. Alles spielte sich in Sekunden ab, ich sah den Angreifer nicht. Dann forderte der auf Polnisch, dass das Flugzeug in Westberlin landen soll. Andernfalls, rief er, erschießt er mich. Zu dem Zeitpunkt war ich überzeugt, dass er eine Pistole an meinen Hinterkopf drückt."
Der Terrorist schwitzt und ist nervös. Sein Atem riecht nach Alkohol. Er ruft seine Befehle auf Polnisch, Deutsch und Englisch. Die Pistole im Nacken der Stewardess ist teils von ihren Haaren, teils von seiner Hand bedeckt, so dass die Stewards und die Crew das Spielzeug für eine echte Waffe halten. Falk Simon hört den heftigen Wortwechsel, er sitzt nah am Geschehen. Auch er hat bisher mit seinem Sohn aus dem Fenster gesehen. Jetzt schnappt er aus der Bordküche ein paar Worte auf, "geh zurück oder ich schieße". Da ist ihm klar, das Flugzeug wird entführt. Durch einen Spalt im Vorhang kann er etwas von den Vorgängen erahnen. Um sich und die anderen Passagiere nicht zu gefährden, beschließt er, nicht einzugreifen, sondern der Besatzung die Initiative zu überlassen. Auch von den an Bord befindlichen Stasi-Beamten greift keiner ein.
Einsatzbereit an Rollbahn A
Um 9.35 Uhr meldet Flugkapitän Ryszard Lukomski der Flugsicherung Schönefeld den Überfall und übermittelt die Forderung des Terroristen: "Er will landen in Tempelhof!" Schönefeld spielt auf Zeit und lässt die Maschine über Fürstenwalde kreisen. Die Besatzung besitzt keine Dokumentation für Tempelhof und bittet um Unterstützung.
Die meisten Passagiere haben zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts von der Entführung mitbekommen. Viele werden sogar erst in Tempelhof verwundert aus dem Fenster sehen. Falk Simon dagegen hat Angst. Er fürchtet, dass der Entführer doch noch das Feuer eröffnet. "Deshalb begab ich mich mit meinem Sohn in den hinteren Teil der Maschine und nahm dort Platz."
Indessen verhandelt der Pilot weiter mit Schönefeld. Er drängt auf eine Entscheidung.
9.45 Uhr LOT: "Wir warten ... für unsere Landung in Tempelhof." Flughafen Schönefeld (FS): "Warten Sie, warten Sie." LOT: "Wir warten."
9.50 Uhr LOT: "Wann erwarten Sie eine Freigabe von Tempelhof?" FS: "Warten Sie, warten Sie." LOT: "Aber mein Terrorist will nicht warten."
9.52 Uhr FS: "Rufen Sie auf der Frequenz 119,3 MHz für weitere Anweisungen und bitte informieren Sie uns über Ihre Absichten." - Die West-Frequenz teilt man nur mit, weil die Maschine sich in einem Luftnotfall befindet und der Pilot auch auf die Internationale Notfrequenz hätte umschalten können.
Tempelhof ist US-Militärflugplatz. Amerikanisches Personal arbeitet im Tower. Plötzlich der Ruf: Hijacking! Die Landeerlaubnis wird erteilt. Krankenwagen und Feuerwehr fahren an der Rollbahn auf. US-Militärpolizei formiert sich, ihre Waffen im Anschlag.
Schönefeld hofft, die Entführung doch noch verhindern zu können. Man gibt dem Piloten durch, dass eine Landebahn frei gehalten werde und alles zur Sicherung der Passagiere getan sei. Ein bewaffnetes Kommando hat, so steht es in den Akten, "Blockierungsräume bezogen und die Einsatzbereitschaft am festgelegten Liquidierungsort (Rollbahn A in Höhe der Radarstation) hergestellt". Liquidierungsort? So genau sagt man das dem Piloten natürlich nicht. Aber er antwortet sowieso nicht mehr, er funkt nur noch auf der West-Frequenz.
Gestrandet in Tempelhof
Um 10.04 landet die Maschine in Tempelhof. Ein riskantes Manöver. Für die Tupolew 134 ist die Rollbahn zu kurz. Ryszard Lukomski, der über 17 Jahre Berufserfahrung verfügt, muss seine Maschine beim Anflug sehr tief halten und die Geschwindigkeit so weit drosseln, dass Absturzgefahr besteht. Er weicht den Gebäuden des Flughafens aus und kommt schließlich zwölf Meter vor dem Ende der Landebahn zum Stehen.
Von dieser Beinahe-Katastrophe haben die Passagiere nichts mitbekommen. Sie sehen aus ihren Fenstern und können in großen Lettern lesen, wo sie hingeraten sind. Gestrandet in Tempelhof. Hinterm Eisernen Vorhang. Militärpolizei hat das Flugzeug umstellt. Über Funk wird der Pilot gefragt, wie er die Situation an Bord einschätze und ob medizinische Hilfe nötig sei. Aber der Entführer verhält sich jetzt ruhig. Ein US-Oberst ordnet per Megaphon an, die Einstiegstür zu öffnen. Tiede solle sich hinstellen, die Waffe herauswerfen, die Hände heben. Er folgt diesen Anweisungen. Dann wird eine Feuerleiter ans Flugzeug gefahren. Tiede spricht mit dem Oberst. Der hält jetzt die Pistole in der Hand. Ihm dürfte inzwischen klar geworden sein, dass die Waffe ein Fake ist. Passagiere, die das Gespräch durch ihr Fenster beobachten, sehen, es herrscht eine freundliche Atmosphäre. Der Amerikaner begrüßt den Terroristen mit den Worten: "Willkommen im freien West-Berlin." Tiede kehrt unbehindert und unbewacht in die Maschine zurück, holt seine Freundin, ihr Kind, das Handgepäck. Wendet sich an die anderen Fluggäste: "Wir sind in Westberlin gelandet, weil ich hier aussteigen will!" Wer ebenfalls aussteigen wolle, sagt er, soll mitkommen. - Aussteigen. Abhauen. Von einer Minute auf die andere ist es möglich. Wie viele werden das tun?
Sechs von 62
Insgesamt sind die Passagiere zurückhaltend, verängstigt, misstrauisch. Eben sind sie Opfer einer Flugzeugentführung geworden. Und schon werden sie in eine neue Situation geworfen. Ihnen wird eine Schicksalsfrage gestellt. Spontan alles fallen lassen? Das Gewohnte, Freunde, Verwandte, ihre Arbeit aufgeben? Fast alle sind überfordert. Wie viele erwägen die Frage überhaupt ernsthaft? Horst Uhlig sagt: "Ich hatte meine Kinder zu Hause. Der Sohn war 20, die Tochter 17. Meine Wohnung, meine Arbeitsstelle. Mein Vater war krank und starb ein halbes Jahr später. Den hätte ich ja nie wiedergesehen!" Für ihn kam das überhaupt nicht in Frage. - Wirklich nicht? Kein kurzer, übermütiger Gedanke an ein Leben im wilden Westen? - "Quatsch!"
Tiedes Aufforderung folgen nur wenige, kurz entschlossen und ohne etwas mit dem Entführer zu tun zu haben. Ein junges Dresdner Ehepaar mit einem Baby und einem dreijährigen Jungen. Ein Leipziger Paar. Und Monika Jeischik. Auch Falk Simon mit seinem Sohn. Monika Jeischik gibt später in der DDR zu Protokoll, sie habe die Situation nicht voll erfasst. "Diese Entscheidung konnte ich mit niemandem beraten. Ich hatte bisher noch nie vor Situationen gestanden, wo ich eine Entscheidung treffen musste und dabei ganz auf mich gestellt war." Falk Simon sagt: "Ich war froh, dass die Maschine überhaupt heil gelandet war. Ich hatte nur den Gedanken, das Flugzeug so schnell wie möglich zu verlassen." Dabei will er gar nicht im Westen bleiben, sagt er.
Die Geschichte dieser Flugzeugentführung ist schon ein paar Mal erzählt worden. Vor vier Jahr erschien der Roman Tupolew 134 von Antje Rávic Strubel. Es gab ein Theaterstück im Flughafen Tempelhof. RTL plant, wie man hört, einen Spielfilm. - Es ist dieser Moment nach der Landung, der fasziniert. Diese Aufforderung an alle: Entscheide dich! Die Passagiere erhalten eine Lebenslektion, die weit über den Tag hinausreicht und mehr meint als die Frage, will ich (damals oder jetzt) in der BRD leben? Ein Crashkurs in Sachen Existenzialismus. "Zur Freiheit verurteilt", "verlassen in der Welt" werden sie mit der Nase drauf gestoßen, dass Verantwortung nicht delegierbar ist. Nicht im "demokratischen Zentralismus" der DDR. Nicht in der besten aller Welten, in der wir heute leben.
Beäugt wie seltene Gewächse
Das Flugzeug steht. Die Triebwerke sind abgestellt. Die Klimaanlage ist aus. Nach einer Stunde Warten in stickiger Luft dürfen endlich auch alle anderen Passagiere aussteigen. Ihr Gepäck bleibt im Frachtraum. Horst Uhlig geht als Erster von Bord, seine Mutter sieht ihn am Abend im Westfernsehen die Gangway herunterkommen. Winkt er? Die Passagiere durchlaufen ein Spalier der Militärpolizei. Sie werden fotografiert und gefilmt. Beäugt wie seltene Gewächse. In ein Casino geführt. Es gibt Cola, Kaffee, Hamburger, Bockwurst, Zigaretten, kostenlos. Horst Uhlig besorgt Schokolade und Süßigkeiten für seine Kinder, einige Paar Strumpfhosen für die Frau. Sechs Stunden stecken sie fest. Warten. Zwischen beiden deutschen Staaten, im Niemandsland. Keiner hat Kontakt nach draußen. Niemand darf mal ein bisschen Westberliner Luft schnuppern. Noch sind die Einzelheiten der Entführung unbekannt. Noch ist nicht klar, ob Tiede außer seiner Freundin weitere Komplizen an Bord hatte. Die Fluggäste werden einzeln von bundesdeutschen Beamten befragt, die im Auftrag von US-Army und CIA ermitteln. Es wird den Passagieren wiederholt angeboten, in West-Berlin zu bleiben. Kein einziger entschließt sich noch dazu. Auch Falk Simon kehrt zurück.
Monika Jeischik fährt zu Onkel und Tante. Die sechs anderen Erwachsenen und Kinder, die bleiben wollen, werden ins Notaufnahmelager Marienfelde gebracht. Sechs von 62 Leuten. - Mehr nicht? Bei allem, was man heute zu wissen glaubt vom Ausreiseland DDR, hätten die Zahlen nicht umgekehrt sein müssen?
Ich erinnere mich des Fluchtplans eines Freundes, den er Mitte der achtziger Jahre hegte, an dem er feilte, den er immer wieder verfeinerte. Ein Transitraum spielte in dem Plan die zentrale Rolle. Mein Freund wollte einen Flug buchen, von Ost nach Ost, mit einer Zwischenlandung irgendwo. Er wollte Bekannte aus dem Westen bitten, zur gleichen Zeit auch zu fliegen, von West nach West, mit einem Zwischenstopp am gleichen Ort wie er. Sie sollten ein zweites Ticket buchen, für ihn. Im Transitraum, dachte er, würden sie sich begegnen, er könnte das West-Ticket nehmen, weiterfliegen, abhauen. Der Plan war voller Luftlöcher, die wir unserem Freund immer wieder aufzeigten. Was ist, wenn einer der Flüge sich verspätet? Du hast zwar das Ticket, aber keine Bordkarte. Und vor allem: Wirst du überhaupt mit deinen Freunden im gleichen Transitraum sein? Tief enttäuscht blickte er uns jedes Mal an. Um dann in sich zu gehen, weiterzugrübeln. - Er hat den Plan nie ausgeführt. Er lebt noch heute in Potsdam. Als die Mauer fiel, wartete er zwei Monate, bis er das erste Mal rüber fuhr.
Das Türchen öffnete sich
Ich erinnere mich eines Traums, den wir alle träumten. Der nicht nur dem eigenen Unbewussten, der dem kollektiven Unbewussten zu entsteigen schien. Ich ging an der Mauer entlang, so nah war ich ihr noch nie gekommen. Der Soldat auf seinem Turm hatte mich aus dem Blick verloren, ich wusste das. Vielleicht war ich auch an einen zufällig weniger bewachten Grenzabschnitt geraten. Plötzlich war da eine Tür. Sie war unscheinbar, wie ein paar an die Mauer gelehnte, vergessene Bretter, deshalb hatte man sie wohl übersehen. Auch ich, falls ich schon einmal hier gewesen war, hatte sie nicht bemerkt. Aber da war sie. Und nur aus Spaß dachte ich: versuch´s doch mal. Und klinkte. Und das Türchen öffnete sich, vielleicht mühsam, vielleicht nur ein wenig. Aber ich schlüpfte doch hindurch. Ich war drüben. War abgehauen. Wie sah es da aus? Eine verkrautete Wiese, auf der Hunde tobten. Eine stille Straße. Das war er also, der Westen. Ich ging umher, sah mich um. Es wurde spät. Ich wollte oder musste zurück. Aber ich fand die Tür nicht wieder. Oder fand sie verschlossen. Oder sie klemmte. Ich kriegte sie jedenfalls nie auf und erwachte mit panisch schlagendem Herzen. - Abgehauen. Da wurde mir zum ersten Mal der Doppelsinn des Wortes bewusst.
Zurück ins Jahr 78, zurück nach Tempelhof. Einen halben Tag bleiben die Passagiere dort. Dann können sie wählen, ob sie mit einem Bus oder dem Flugzeug heimkehren wollen. Die meisten entscheiden sich für die Fahrt. In einem Doppelstockbus der Westberliner BVG werden sie aber nicht etwa auf kurzem Weg nach Schönefeld gebracht, sondern kommen in den Genuss einer Stadtrundfahrt. Es ist ein gewöhnlicher Mittwochabend, trübes Wetter. "Die Fahrt führte", erinnert sich Falk Simon, "über Kreuzberg, den Ku´damm nach Wilmersdorf und auf die Stadtautobahn. Dabei spielte der Beamte, der uns begleitete, den Stadtführer und pries auf unangenehme Art Gebäude, Einrichtungen und Geschäfte, unter anderem das KaDeWe." Die Reisenden erfahren etwas über Kaufhausschnäppchen und Pkw-Preise. "Ich hatte den Eindruck, dass letztmalig versucht werden sollte, uns einen Verbleib in Westberlin schmackhaft zu machen." Die meisten Rückkehrer wollen aber einfach nur schnell nach Hause. Was ihrem "Reiseleiter" offenbar unvorstellbar scheint.
Grüße von Erich Honecker
Nach fast zweistündiger Fahrt trifft der BVG-Bus am Grenzübergang Rudower Chaussee ein. Alles steigt um in einen Bus der Interflug. Noch ein letzter Blick zurück. Die Grenze, die für die Passagiere einen halben Tag lang offen stand, schließt sich. Das Abenteuer ist vorbei.
Wer glaubt, damit sei das Drama überstanden, sieht sich jedoch getäuscht. Die Hauptabteilung IX des MfS hat im Flughafengebäude zehn Befragungsräume einrichten lassen, was nur unter Schwierigkeiten gelang. Manche Räume entsprechen nicht den Vorstellungen der Vernehmer. Einige Protokollanten sitzen mit der Schreibmaschine auf den Knien, nicht in jedem Raum gibt es Telefon. Um 18 Uhr trifft der Bus ein. Die Passagiere werden zunächst in einen Transitraum geführt. Man übermittelt ihnen die Grüße Erich Honeckers: Schön, dass Sie gesund, schön, dass Sie wieder da sind! Die Passagiere werden von ADN-Reportern umringt, fotografiert, befragt. Dann gehen die Vernehmungen los. "Da wurden wir noch mal durch die Mangel gedreht, aber richtig", erinnert sich Horst Uhlig. Im Schnitt dauert jedes Verhör zwei Stunden. Selbst in den Stasi-Akten steht: "Obwohl insgesamt die Passagiere sehr sachlich reagierten, waren doch Stimmen über die Dauer der Befragung zu hören." - Horst Uhlig erzählt: "Wenn man auf Toilette musste, stand einer mit MP vor der Tür. Und als ich zu Hause anrief, die machten sich doch Sorgen inzwischen, dann ging das auch nur unter Aufsicht." Die letzten Passagiere werden nachts um zwei entlassen. Horst Uhlig und seine Frau müssen noch nach Thüringen. Natürlich fährt jetzt kein Zug mehr. Sie bestehen darauf, dass man sie nach Hause bringt. Die Stasi chauffiert das Paar. Im Wolga geht´s zurück nach Schleiz.
Am nächsten Morgen erhält Joachim Herrmann, Politbüro-Mann für Presse und Propaganda, vom ADN-Generaldirektor den Entwurf einer Pressemeldung. Von den in Schönefeld durch seine Reporter gesammelten Meinungen hat der die schönsten Sprüche ausgewählt und wohl noch was dazu gedichtet. Alle Passagiere forderten, heißt es in dem Papier, die Auslieferung des Entführers, "wie es die UNO beschlossen hat, und die strenge Bestrafung des Verbrechers nach den geltenden Gesetzen des Völkerrechts." "Wir haben kein Verständnis dafür, dass DDR-Bürger in Westberlin geblieben sind. Sie sollten auch an die DDR ausgeliefert werden. Hier in der DDR ist unsere Heimat, sie ist unser Zuhause." Auch der Schleizer Kfz-Schlosser wird zitiert, auffallend nüchtern: "Alles, was unser Leben ausmacht, haben wir hier."
Am Schluss der Vorlage steht noch ein Absatz, den hat Joachim Herrmann dick angestrichen: "Kritisch wurde vermerkt, dass offensichtlich von der LOT ungenügende Sicherheitsmaßnahmen getroffen worden waren. Wir sind alle durch die Kontrolle gegangen, und nun war doch eine Waffe in das Flugzeug geschmuggelt worden. Ferner wurde kritisch vermerkt, dass das Personal der LOT nur polnisch und englisch sprach und dadurch keinerlei Verständigung mit den DDR-Passagieren, die in der Mehrzahl waren, möglich war. Es sei unverständlich, dass die LOT mit DDR-Bürgern an Bord ins Ausland fliegt und nicht in der Lage ist, sich mit den Passagieren zu verständigen."
Natürlich fehlt dieser letzte Absatz in dem Zeitungsartikel, der ansonsten wortwörtlich zwei Tage später im Neuen Deutschland und allen Bezirkszeitungen erscheint. - "Du warst der Ochse vom Dienst", erinnert sich Horst Uhlig. "Bist im Westen. Kommst zurück. Und schreist angeblich noch Hurra. Das war Spießrutenlauf!"
Zurück im Schoß des Vaterlands
Hinter den Kulissen kracht es. Honecker ist wütend über die polnische Schlamperei. Er will sich seine kosmische Freude nicht durch einen Luftpiraten kaputtmachen lassen. Der Himmel gehört den Siegern. Fieberhaft versucht man, den Imageschaden zu begrenzen. Es werden Rückführungspläne geschmiedet.
Im Fall von Monika Jeischik geht es leicht. Sie fuhr nicht nach Marienfelde, sondern zu Onkel und Tante. Sie ist ziemlich mit den Nerven runter. Ein Beamter gab ihr die Adresse vom Notaufnahmelager. Falls sie bleiben wolle, solle sie sich dort melden. Da steht sie nun bei den lieben Verwandten vor der Tür, mit Tasche und Tüten. Unangekündigt. Uneingeladen. Die raten ihr dringend, mit ihrem Vater in Erfurt zu telefonieren. "Zu der nicht in die DDR zurückgekehrten Jeischik wurde bekannt, dass sie am 30. 8. 19.00 Uhr ihren Vater aus Berlin (W) angerufen hat. Der Vater teilte mit, dass seine Tochter einen aufgelösten Eindruck hinterließ und am Telefon geweint hat. Sie habe zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht weiß, wie es weitergehen soll." Am nächsten Tag spricht sie noch zwei Mal mit ihrem Vater, den die Stasi inzwischen intensiv berät, und kehrt am Abend über den Grenzübergang Friedrichstraße zurück. Honecker erhält wenige Minuten später die Meldung: "Die junge Frau ist aus Westberlin zurück. Es war alles eingeleitet, dass sie bestens empfangen wurde, und es ist alles getan worden, damit sie sich wieder wie zu Hause fühlt." - Eine Seele konnte gerettet werden. Das Kind ist zurück im Schoß des Vaterlands. Sogar das Neue Deutschland meldet die glückliche Empfängnis.
Das Lager ist umzäunt
Bei den anderen läuft es nicht so gut. Man erarbeitet den "Maßnahmeplan Rückkehr". Im Umfeld der "Republikflüchtigen" wird recherchiert. Man befragt Nachbarn und Kollegen. In den letzten beiden Jahren hatte sich zum Beispiel das Leipziger Paar seine Wohnung neu eingerichtet, Stereoanlage, Fernseher, Teppichboden, Anbauwand gekauft. Das alles hielt sie nicht zu Hause. Die Familie aus Dresden war mit dem Wagen nach Polen gereist, baute dort einen Unfall, Totalschaden, zum Glück blieben alle unverletzt. Deshalb buchten sie einen Rückflug und gerieten mit hinein in die Sache. Nun sind sie fort.
Man hofft, die Landeskinder noch heimzuholen. Dazu werden ihre Eltern eingespannt. Der Vater des Leipziger Ingenieurs wird rübergeschickt. Ohne Erfolg. Auch der Vater der 28-jährigen Dresdnerin erhält einen Pass und wird am Bahnhof Friedrichstraße abgesetzt. Er fährt nach Marienfelde. "Das gesamte Lager ist mit Maschendraht umzäunt", berichtet er dem MfS, "ein Betreten und Verlassen ist nur durch den besetzten Eingang möglich. Es müssen zwei bewachte Personenschleusen durchlaufen werden. Beim Durchgehen wird eine Karte hochgehoben." Der Mann kommt unbemerkt ins Lager, weil er sich einer Gruppe anschließt und mitläuft. Aber er trifft die Familie nicht an. "Durch Fragen bei anderen Personen wurde das Zimmer festgestellt und ein Zettel unter die Tür gelegt mit der Bitte, abends erreichbar zu sein." Das funktioniert. Aber der Schwiegersohn stellt sich taub. Und "der Versuch, ein Gespräch mit seiner Tochter allein zu führen, verlief ergebnislos." Erst, als sie ihren Vater zum Ausgang begleitet, kann sie sich mit ihm für den nächsten Morgen verabreden.
Als er anderntags um halb zehn am Lager erscheint, sieht er vorm Eingang einen Kleinbus stehen, "in dem bereits die Eheleute mit beiden Kindern eingestiegen waren, sowie mehrere Pappkartons. Begleitpersonen waren Zivilisten, die ein stark gebrochenes Deutsch sprachen. Am Fahrzeug übergab ihm seine Tochter einen Beutel." Verabschiedung. Tränen. Nimmerwiedersehen. Die ehemaligen DDR-Bürger werden nach München ausgeflogen, um sie dem leichten Zugriff aus Ostberlin zu entziehen. Als der Vater später in der Tüte nachsieht, findet er einen Brief seiner Tochter. Sie will endlich ein Familienleben ohne die ständige Bevormundung durch die Schwiegereltern führen, schreibt sie. Sagen konnte sie ihm das in Anwesenheit ihres Mannes nicht.
Der OV "Rückkehr" wird geschlossen.
Ein Jahr nach Mogadischu
Letzter Akt im Kriminalstück, der Prozess. So spaßig es auch zuging zwischen Tiede und dem US-Oberst auf dem Tempelhofer Flugfeld: Der Mann hat eine Verkehrsmaschine entführt. Daran lässt sich nicht rütteln, auch wenn sein Ziel "die Freiheit" war. Was tun? 1969 hatten zwei Ostberliner ebenfalls ein polnisches Flugzeug gekapert, sie hatten es zur Landung in Tegel gezwungen. Vor das zuständige französische Gericht gestellt, erhielten sie zwei Jahre Haft wegen "Transportgefährdung und Nötigung", aus der sie vorzeitig entlassen wurden. Tiede wird - ein Jahr nach Mogadischu - nicht so glimpflich davonkommen. Darin sind sich die Westmedien einig. "Die internationale Pest der Luftpiraterie hat inzwischen zu schärferem Vorgehen und zu mehr internationaler Solidarität herausgefordert", heißt es in einem Kommentar des NDR. Und selbst die Welt meint: "Tiede hat bei seiner Tat die Gesetze der alliierten Lufthoheit über dem US-Sektor von Berlin verletzt. Er hat die Landung in einer amerikanischen militärischen Einrichtung erzwungen."
Amerikaner und Deutsche wenden den Fall mit spitzen Fingern hin und her. Keiner will zuständig sein. Eine Auslieferung nach Polen wird trotzdem abgelehnt. Schließlich nehmen sich die Amerikaner der Sache an. Sie graben ein Gesetz des Besatzungsrechts aus dem Jahr 1955 aus. Nach dem wird ein United States Court for Berlin eingesetzt, das bis dahin nur als Möglichkeit auf dem Papier bestand. Das Gericht manifestiert sich in einem starken Mann: Richter Herbert Jay Stern aus Newark (New Jersey), dem man eigens einen Verhandlungssaal ins Tempelhofer Flughafengebäude baut. Im Januar ´79 soll der Prozess beginnen. Das Zivilgericht verhandelt nach Verfahrensvorschriften für US-Bundesgerichte, würdigt die Tatbestände jedoch nach deutschem Strafrecht. Zwölf deutsche Geschworene müssen am Ende über Schuld oder Unschuld entscheiden. Das Strafmaß legt der Richter fest. - Der Kalte Krieg spielt eine krachende Boulevardkomödie.
Die US-Staatsanwaltschaft klagt Tiede zunächst der Flugzeugentführung, Freiheitsberaubung, Geiselnahme und des unerlaubten Waffenbesitzes an. Davon entfällt später alles außer der Geiselnahme. Der Prozess vertieft sich in Verfahrensfragen. Richter Stern wehrt sich immer wieder lautstark gegen die Einflussnahme amerikanischer Regierungsstellen, die "als Besatzer und Kommandeure hier auftreten wollen". Dabei entgeht ihm, dass er selbst das tut. Er macht sich zuhause kolossal unbeliebt, es wird sein erster und letzter Prozess dieser Art sein. Aber in diesem Fall setzt er sich durch.
Zu verantworten hat sich zunächst auch Ingrid Ruske, die ihren Freund zur West-Flucht animiert haben soll und mit ihm gemeinsam die Entführung plante. In der Hauptverhandlung steht sie jedoch nicht mehr vor Gericht. Diese Anklage lässt Richter Stern fallen, weil die Frau bei ihrer Festnahme nicht ausreichend über ihre Rechte belehrt worden war und zwei Monate lang keinen Anwalt zur Verfügung hatte. Stern steht auf dem Standpunkt: gleiches amerikanisches Recht für alle. Egal ob Texas oder Tempelhof, die US-Verfassung folgt der Flagge. Ende Mai verurteilt er schließlich den Entführer zu neun Monaten Freiheitsstrafe - die durch die Untersuchungshaft bereits abgegolten ist. Detlef Tiede ist ein freier Mann. Hijacking ein Kavaliersdelikt. Der Westberliner Fluchthelfer sitzt in der DDR im Knast. Und Ingrid Ruske und ihrer Tochter, wie geht es denen?
Horst Uhlig sind diese Leute wurscht. "Nur Scherereien hatte ich durch die. Drei Mal musste ich noch zum Verhör. Einmal den ganzen Tag. Ich wurde von der Arbeit geholt. Zum Betriebsdirektor hinbestellt. Wie´n Krimineller." "Sie hätten lieber auf das ganze Drama verzichtet", frage ich. "Ach, das nun wieder nicht. War ja auch aufregend. Man lebt nur einmal." Er hat noch Urlaubsfotos von damals. Und alle Zeitungsartikel. "Und wie´s dann später anders kam, wie die Wende war", sagt er noch, "mich konnte nichts mehr überraschen. Wir hatten ja schon mal den Probelauf."
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