Mütter sind anders. Meine Freundin Gerit ist immer ein Arbeitstier gewesen. Eine workoholic, seit ich sie kenne. Auch als sie schwanger wurde, rackerte sie weiter. Noch aus dem Geburtshaus rief sie an, um etwas wegen ihrer Arbeit mit mir zu besprechen. Nun krieg erst mal dein Kind, sagte ich. Dann war eine Zeit lang Funkstille. Ich erfuhr, dass Henrietta Désirée glücklich das Licht dieser Welt erblickt hatte, ich bekam ein Foto gemailt, auf dem ein zerknautschtes Babygesicht zu sehen war. Sonst nichts. Henrietta Désirée!
Jetzt ist das Kind acht Wochen alt, und Gerit und ihr Freund Torsten luden mich zum Kaffee ein. Sie wohnen im Wedding, es gab Windbeutel und gezuckerte Erdbeeren. Ich brachte einen Strampler mit.
Das Kind schlief. Als es einmal erwachte, ging Gerit und gab ihm die Brust. Wir stocherten indessen weiter in unseren Windbeuteln herum, Torsten und ich. Torsten ist ein Handwerkertyp und immer auf Späße aus. Gestern hatte er Löcher gestopft, überall in der Wohnung. Wo aus dem Fußboden das Heizungsrohr kommt, eine Stelle am Fenster, wo früher mal ein Antennenkabel hindurchlief, lauter solche Ritzen und Löcher hatte er mit Dichtungsmasse zugespritzt. Sie quoll da gelb heraus und musste noch aushärten, bis man sie abschneiden und überstreichen konnte.
Guck mal, sagte Torsten, bei uns wachsen Pilze. Wirklich, es sah so aus, als ob aus Boden und Fenster gelbe Geschwüre wucherten, beinahe etwas Außerirdisches. Aber ich hatte in meinem Leben schon Dichtungsmasse gesehen und sagte deshalb: Genau. Aber Torsten lauerte weiter: Findst´ das nich´ eklig? Ich sah ihn an: Torsten, ich weiß, was das ist. Pilze, rief er, Äh! Angewidert lief er zum Fenster, schnupperte tatsächlich an der geruchlosen Masse herum, verzog das Gesicht: Mhäh, stinkt! Das müsst ihr eurem Vermieter melden, dass euch das nicht noch in die Möbel reinwächst, sagte ich.
Da kam Gerit zurück, und Torsten erzählte ihr sofort, wie herrlich schlau er mich verarscht hatte: Pilze! Wir müssen aufpassen, dass uns das nicht in die Möbel wächst! Das Lachen schüttelte ihn und seine mausgrauen Augen füllten sich mit Wasser. Das ist Dichtungsmasse, erklärte mir Gerit nachsichtig, und: den Scherz macht er mit jedem. Stolz blickte sie auf ihren gewitzten Liebling, der sich mit dem Handrücken die Lachtränen aus dem Gesicht wischte.
Willst du unser Video sehen? Es war Gerit, die das fragte, und ich ahnte nichts Schlimmes. Video?
Sofort wurde die Kamera in Stellung gebracht, der riesige Fernseher eingeschaltet. Ich hatte das Gefühl, es war alles vorbereitet für diesen Moment; mehr noch, dies war der Moment, für den ich eingeladen war. Die Kassette startete. Auf dem Bildschirm sah ich Gerit, in einem Zimmer des Geburtshauses liegend, ihre Eltern waren bei ihr, Torsten führte die Kamera.
Plötzlich schrie Gerit auf, klammerte sich an einen Haltegriff. Das sind die Wehen, erklärte mir Torsten, während Gerit gebannt auf den Bildschirm starrte, fasziniert von ihrem eigenen Schmerz. Das waren da noch so, Torsten überlegt, fünfzehn Minuten Abstand. Viertelstunde, präzisierte Gerit, ohne einen Blick vom Fernseher zu lassen. Endlich ließen die Schmerzen nach, sie fiel zurück, erschöpft, und ich merkte, dass ich meine Kuchengabel verbogen hatte.
Da hast du also die Geburt gefilmt, sagte ich zu Torsten und brachte alle Kunst der Körpersprache auf, um zu vermitteln, dass ich vollkommen genug gesehen hatte. Spul mal vor, wies Gerit ihren Schatz an. Im Schnellvorlauf sah ich, wie Gerit schwer atmete, die Mutter ihr die Stirn trocknete, der Vater kurz das Zimmer verließ. Wenigstens wechselte Torsten jetzt die Kameraposition und filmte vom Kopf her, sodass ich der werdenden Mutter nicht länger mitten in die Vagina blicken musste. Ansonsten aber schien kein Ende ihrer Qualen in Sicht. Ich stellte meinen Windbeutelrest weit weg von mir, und der Appetit auf die Erdbeeren war mir auch vergangen. Da!, kommandierte Gerit. Torsten drückte auf play. Und Gerit schrie wie am Spieß. Wollt ihr das eurer Tochter etwa später auch zeigen?, rief ich laut. Natürlich. Das ist das erste Kapitel aus dem Buch ihres Lebens!
Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Abends gegen neun verließ ich die Folterkammer. Ich fühlte mich wie eine Hebamme nach einem schweren Tag. Die Geburt Henrietta Désirées - ich kann sagen, ich bin dabei gewesen, kein blutiges Detail blieb mir erspart. Auch Gerit schien ziemlich mitgenommen. Torsten, dem Scherzkeks, versprach ich zum Abschied, beim nächsten Mal mein Beschneidungsvideo mitzubringen. Aber wie immer, wenn andere Leute einen Scherz machen, verstand er mich nicht.
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