Das magische Auge

Kehrseite I Die Gasuhr klackte. Sie hing im Treppenhaus oben über der Wohnungstür meiner Großmutter und zählte in regelmäßigen, unerbittlichen Intervallen. ...

Die Gasuhr klackte. Sie hing im Treppenhaus oben über der Wohnungstür meiner Großmutter und zählte in regelmäßigen, unerbittlichen Intervallen. Klack. Und zehn, fünfzehn Sekunden später wieder, hart und eisern: klack. Wir standen da, blickten hinauf, meine Großmutter und ich. Das Klacken füllte das Treppenhaus, es hackte sich in meine Ohren. Es tropfte, klopfte die Steinstufen hinunter, wo das Klo halbe Treppe lag und der eiserne Ausguss hing, es tickte, klickte die Holztreppe hinauf bis unters Dach, wo im Sommer die Hitze brütete wie nirgends sonst, wo die Westantennen hingen, wo ich zwischen den Dachböden der Mieter Willi Schwabes Rumpelkammer spielte.

Oma hatte mir abends gesagt, ich solle nachher schön schlafen und ruhig sein. Dann hatten wir noch ein Hörspiel im Radio gehört. Mich faszinierte das grüne Lämpchen, das zu leuchten begann, wenn man den Sender fand, und satt erglühte, wenn man ihn sauber einstellte. Es hieß das magische Auge.

Einmal hatte ich das Radio hinten geöffnet, hatte die Rückplatte abgetrennt, um sein Innenleben zu sehen. Ich war enttäuscht. Der Apparat war überhaupt nicht randvoll gestopft mit geheimnisvoll blinkender, magisch leuchtender Technik. Nur ein paar Röhren und Drähte und Staub und ganz viel Platz noch. Am ehesten mochte vielleicht eine Art Spinnennetz interessant sein, das da hing und im Takt der Bässe vibrierte.

Wenn man das Radio einschaltete, musste der Apparat erst warm werden. Dann leuchtete grün das Auge auf, funkelte wie ein Smaragd, und die Stimmen im Radio erwachten mit ihm. So mochte der Stein geleuchtet haben, den der arme Bursche im Wald bei den Wurzeln eines hohen Baumes fand und der ihm Reichtum brachte, aber sein Herz erkalten ließ. So stellte ich mir das Auge des Zyklopen vor.

Ich suchte nach fernen Sendern. Nie fand ich die, die auf der Skala standen, fremd klingende Namen, die ich kaum enträtseln konnte. Brügge Luxembourg Linz Louny. Ich stellte mir vor, wie sie von weit weit geflogen kamen, die Stimmen, herbeigeholt von meinem Smaragdstein, weit weit durch die Luft, die man in diesem Zusammenhang Äther nennt. Was mochte das grüne Auge wissen, so alt es war, doch immer noch leuchtend, pulsierend. Was alles hatte es schon gesehn? Mir ins Herz etwa?

Es folgten die Wasserstandsmeldungen: Namen und Zahlen in langer Folge. Das magische Auge hatte dafür nur ein müdes Blinzeln übrig. "Louny, 7 Meter." Das kannte ich, das stand auf der Skala. Louny!

Klack. Klack. Wir standen noch immer in dem Treppenhaus in einem trüben Licht, und es roch nach Klo. Wir hatten also ein Hörspiel gehört und dann hatte mir meine Großmutter einen Umschlag mit Geld gezeigt. Sie hatte ihn aus dem Büffet genommen, auf den Tisch gelegt. Es waren einige, wenige Fünfziger drin, drei oder vier. "Der Herr Lange war vorhin bei mir." Ihr Nachbar. Es war bekannt, dass seine Kinder wollten, er ginge ins Altersheim. So hieß es. So empfand er es wohl. Ich wusste es nur von Großmutter. Das Geld lag schwer auf dem Tisch. Großmutter nahm es und legte es zurück in das Büffet, schloss die Türen. "Ich glaub, der bringt sich um." Ich blickte sie ungläubig an. "Nur so´n Gefühl." Es stand die Frage im Raum, und selbst mir Sieben- oder Achtjährigem kam sie in den Sinn: ob man nicht helfen, etwas unternehmen, ob man den Herrn Lange nicht retten müsse? Aber meine Großmutter war eine praktische Frau. Sie bereitete mir das Bett auf dem Sofa, dessen dunkelbraunes Fell sich wie ein Dackel streicheln ließ, und wir gingen schlafen.

Klack. "Nicht klingeln!" Eine Nachbarin war von unten heraufgekommen. Es folgte ihr Mann. Nun wurde laut und heftig gerufen und gegen Herrn Langes Tür geschlagen. Die Tür vibrierte unter den Schlägen. Ein kurzes Dagegenwerfen reichte, und der Riegel sprang aus dem Holz.

Herr Lange lag in seiner Küche blass im Sessel, nur seine Lippen waren kirschrot, als seien sie zart geschminkt. Er hatte sich eine Heizdecke über den Schoß gelegt, die er aber vor dem Eintritt des Todes noch ausgeschaltet hatte, damit kein Unglück passiert. Der Hahn, aus dem das Gas strömte, war nur ein wenig geöffnet, denn der Herr Lange war ein sparsamer Mensch. Schnell stellte der Nachbar das Gas aus, riss die Fenster auf. Das Klacken im Hausflur verstummte sofort. Endlich. Alle atmeten auf. Die Polizei kam. Dann wurde ein Sarg gebracht. Den trug man offen die Treppen hinunter, alle Mieter standen vor ihren Wohnungen und warfen einen letzten Blick auf den Toten. Erst bevor die Träger die Tür zur Straße öffneten, wurde der Sarg geschlossen.

Aus der Gasrechnung konnten die Kinder des Herrn Lange später ablesen, dass der Tod ihres Vaters nur ein paar Pfennige gekostet hatte. Meine Großmutter behielt ihr Geheimnis, den Briefumschlag mit dem Geld, sicher in der Kommode verwahrt. Und ich verriet sie nicht.

Karsten Laske, Jahrgang 65, arbeitet als Autor und Regisseur für Film und Fernsehen. Er lebt in Berlin.


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