Das wirkliche Blau

Alltag Alltag in einer Behörde - Die Abteilung M der DDR-Staatssicherheit widmete sich der Postkontrolle

Morgens, es geht auf halb acht. Im Dunkel eilt ein Mann den Bürgersteig entlang. Es ist Dezember, etwas Schnee ist in der Nacht gefallen, er liegt wie ausgespuckt am Weg. Der Mann betritt eine Villa, grau und unscheinbar. Ein Riss im Putz zieht die Fassade hinab, von der Regenrinne tropft Schmelzwasser aufs Trottoir. Das Haus steht in der Ostseestadt Rostock. Unbelebt scheint es, seine Fenster sind verhangen. Kein Firmenschild, kein Mietername, einfach nur die Hausnummer: Graf-Schack-Straße 1. Wir schreiben das Jahr 1985. Im Allgemeinen zeugt der Zustand eines Gebäudes von der Verfassung seines Eigentümers. Womit haben wir es hier zu tun? Mit volkseigener Armut? Mit dem Abbild seelischer Verwahrlosung?

Unser Mann ist indessen in dem Haus verschwunden. Er heißt Gerd Reinicke und arbeitet hier. Bei der Staatssicherheit. "Wie ich hinkam damals ´79, da waren das in dem Gebäude - ich denk mal so 30, 35 Leute. Es wurden nachher immer mehr, das ging dann bestimmt auf 60 hoch. Es war sehr eng dadurch, alles sehr muffig, es mussten ja die Fenster ständig zugehangen werden mit irgendwelchen Vorhängen, dass keiner reinguckt. Die Postkontrolle, die Abteilung M, war eine besonders konspirative Abteilung, die es eigentlich gar nicht gab, nach außen hin. Auch wenn die Leute munkelten, aber irgendwie hatte es diese Abteilung nicht zu geben."

Acht bis siebzehn Uhr dauert ein normaler Arbeitstag. Praktisch sieht es anders aus. Wer halb acht noch nicht da ist, wird schief angesehen und sollte eine gute Ausrede haben. Unser Mann aber ist pünktlich. Er hat seine beiden Kinder bereits zur Schule und in den Kindergarten gebracht. Abends, wenn er gegen 19 Uhr Feierabend machen wird und nach Hause geht, hat seine Frau den Kindern schon Essen gemacht, sie sind so gut wie im Bett, der Tag ist erledigt. Gerd Reinicke ist ein stiller Mensch. Vielleicht schon immer, vielleicht ist er still geworden. Er spricht langsam und bedacht, wie es viele Norddeutsche tun. Bei ihm mag es Vorsicht sein, er will nichts Falsches sagen.

Gerd Reinicke arbeitet im "Referat Auswertung und Information". Er sitzt tagein tagaus und liest fremder Leute Post. Jahrelang. Ein Abschreiber und Anschwärzer. In der Schule wird so einer gemieden, ausgelacht oder verhaun. Hier kriegt er Geld dafür. - Wie kommt einer dazu, Schnüffler zu werden? Ist es etwa so, dass da Bauernfänger kommen, dir das Blaue vom Himmel herunter lügen und ... Gerd Reinicke erzählt es so:

"Da kamen eines Tages bei mir zu Hause auf´m Hof zwei Offiziere in Marineuniform und haben darum gebeten, ob sie mit mir mal sprechen können, über meinen Wehrdienst und so. Sie wären von der Staatssicherheit, und ich, ja, ich wollt´ eigentlich zur Marine und das wär doch viel besser. Da haben die gesagt, das kannste bei uns auch, ´ne Marineuniform kannste bei uns auch kriegen. Naja, und es war damals ´ne ziemlich hohe Ehre, man wurde ja ausgesucht, ausgewählt. Zur Staatssicherheit melden konnte sich selber keiner. Es war immer so, dass die grundsätzlich sich die Leute aussuchten. Und das war natürlich für mich als Jugendlichen, da fühlte ich mich natürlich auch ganz gehoben und hab gesagt, na ja, wenn mir die hohe Ehre jetzt zuteil wär."

So fährt er also nicht zur See, der junge Mann. Er lässt sich - aus Eitelkeit, wie es scheint - fangen. Lässt sich um das Blau vom Himmel und um seinen Traum vom Meer betrügen und gerät geradewegs in die muffige Villa. Die erhoffte Uniform bekommt er natürlich nicht. Stattdessen trägt er jetzt einen blauen Nylonkittel, den man damals Dederonkittel nennt (worin sich das Wörtchen DDR versteckt) und weiße Baumwollhandschuhe, damit er die fremde Post nicht beschmutzt.

Die Briefe, die auf seinen Tisch kommen, sind bereits geöffnet und von Kollegen einmal quergelesen. Gerd Reinicke muss nun tiefer prüfen, was als verdächtig gilt. Kirche, Intelligenz, Universitäten, Schulen sind seine Fachgebiete. "Ich hab immer erst mal reingeguckt, den Brief rausgeholt, gelesen, schön drauf geachtet, dass er auch wieder ordnungsgemäß so reinkommt, wie er drin war, um zu sehen, ob das überhaupt für mich Wert hat. Nach dem Lesen, wenn ich das dann eingestuft hatte, gab ich die Briefe zur Technik zum Kopieren, verglich noch mal, ob alles in Ordnung war, richtig kopiert war..." Die Briefe werden wieder verschlossen und zurückgeleitet in den regulären Postverkehr. Post- und Fernmeldegeheimnis sind nämlich unverletzbar in der DDR. Steht in der Verfassung, Artikel 31. Da muss man sich also beeilen. "Alle Überprüfungsarbeiten, Schriftvergleiche und sonst was wurden alles an den Kopien gemacht. Es wurde auch immer so gesprochen, vom Original, wir haben nie vom Brief gesprochen. Das Original wurde sorgfältig behandelt, möglichst schnell wieder weg, das war immer die Hauptdevise."

Gerd Reinicke macht seinen Job gut. Er kennt sein Metier und seine Pappenheimer. "Ich wusste zum Beispiel, wenn Eingangspost aus´m Westen kam und da stand hinten P.S. und Postfach 1300 drauf - an der Schrift klingelte es dann, hatt´ ich schon den DDR-Bürger in der Hand, ging zur Kartei und wusste, von wem der Brief gekommen war. Wir hatten keine Computer, wir mussten den Kopf benutzen, es ging nicht anders."

Vor allem muss die Sache fix gehen, und weil es die achtziger Jahre sind, heißt es flott: Tempo 80. Es geht um Effektivität in der Produktion - der Produktion von Sicherheit, der Gewinnung von Hinweisen, dem Schaffen von Misstrauen. Jeder DDR-Bürger zum Beispiel stellt irgendwann einen Antrag auf Ausstellung eines Personalausweises, worin er Alter, Beruf, Wohnort angibt: So gelangt man zu einer landesweiten Schriftprobensammlung - in der "zentralen Absenderdatei" ist jeder, der auch nur seinen Namen schreiben kann, erfasst. Es ist wie im Märchen! Nur dass statt des süßen Breis das Papier überquillt, als wollt´s alle Welt satt machen, und ist die größte Not, und kein Mensch kann sich helfen. Es wird immer mehr, und immer schneller muss es gehen. Der Dämon Staatssicherheit ist am Ende ein absurd geblähter bürokratischer Octopus. Unfähig, das selbst gesammelte Material noch auszuwerten, geschweige denn nutzen zu können. Octopussy, überfressen und erstickt an der eigenen Spitzelei. ...und wer wieder in die Stadt wollte, der musste sich durchessen. Was Gerd Reinicke sieht, zeigt ihm immer mehr, dass es kaum je darum geht, irgendeinen Schaden von der DDR abzuwenden, sondern dass man den eigenen Bürgern grundsätzlich misstraut. "Das brachte mich in Zwiespalt und das wollte ich anfangs ändern. Ich hab gedacht, es muss doch möglich sein, offener miteinander umzugehen und nicht bei jeder kritischen Stimme sofort den Feind zu sehen." Aber laute Parolen werden ausgegeben. Die das kleine Land im positiven Sinne verändern wollen, denen wird "in die Schuhe geschoben, sie wollen dem Klassenfeind dienen und die DDR mürbe machen, dass der Klassenfeind hier einmarschieren kann und sonstewas! Ich habe ja viel Post auch von Leuten aus der Friedensbewegung gelesen, die sehr persönlich war, und die immer wieder sogar in den Westen schrieben, dass sie nicht möchten, dass der Westen sich zu sehr engagiert und ihnen reinpfuscht, sondern dass sie hier bleiben wollen und hier was verbessern und verändern wollen." Nur - in der Parteiführung interessiert das niemanden mehr. Im Gegenteil. "Es wurde alles pauschal: Feind, Feind. Spätestens, wie Gorbatschow nachher an die Macht kam, war auch für mich ganz klar, hier will keiner Kritik hören, hier will niemand was im Guten ändern, es hat keinen Zweck. Ich hatt´s dann irgendwo aufgegeben."

Und die Konsequenz?

"Ich hab gemeint, wir müssten endlich mehr innerparteiliche Demokratie durchsetzen, und mit einigen Genossen zusammen wollten wir unsern äußerst unfähigen Gruppenorganisator in der Parteigruppe abwählen. Endkonsequenz war ein fürchterliches ideologisches Verfahren gegen uns. Da hab ich mir dann gesagt, du machst diesen Spaß nicht mehr mit."

Und so setzt er sich also an jenem Dezembertag des Jahres ´85 an seinen Arbeitsplatz und schreibt. Sein Entlassungsgesuch. "Ohne Wissen der anderen, die saßen fast daneben, aber die wussten ja nicht, was ich schreib. Hab das begründet, dass ich persönlich mich dem nicht mehr gewachsen fühle, keine Zukunft sehe und schon Depressionen hab und so ähnlich und um meine Entlassung bitte."

Und dann?

"Lief die Maschinerie über ein Vierteljahr, um mir nachzuweisen, dass ich´n Feind wär, das gelang leider nicht, hat der Abteilungsleiter dann auch gesagt. Ja, dann war ich ein freier - in Anführungsstrichen - freier Mensch. Einfach erst mal ein ganz normaler DDR-Bürger. Das war ein ganz tolles Gefühl, sich nicht mehr abmelden zu müssen, und sich zu denken, ihr könnt mich alle mal, macht ihr da mal weiter euren Mist, aber ich nicht. - Angefangen hab ich dann als Lagerarbeiter."

Das Interview, das diesem Text zugrunde liegt, führte Britt Beyer. Karsten Laske ist Serienregisseur der TV-Reihe Damals in der DDR. Am 23. Januar um 22:05 zeigt der MDR eine neue Folge, in der auch Gerd Reinicke zu Wort kommt.


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