Samstag, der 24. Juni 2006. Die Sonne scheint über Deutschland wie über jedes gute Land, über Westsachsen natürlich auch. Es ist Fußball-WM, und eigentlich steht nur eins zur Debatte: Wie spielen wir gegen Schweden? Doch plötzlich kommt Unwetter auf. Es blitzt und hagelt, nur ein Viertelstündchen lang, aber der Wolkenbruch tut ganze Arbeit. Faustgroße Hagelkörner fallen vom Himmel, prügeln auf alles und jeden ein, durchschlagen Glasscheiben und Dächer. In Leipzig vertreibt der schmerzhafte Schauer die "public viewers" der WM vom Augustusplatz. Allein daran kann man sehen, wie heftig die Sache ist.
Am schlimmsten trifft es des Deutschen Liebstes: Autoschäden en masse. Frontscheiben gehen zu Bruch, Wagendächer und Motorhauben werden zerbeult. Für den Versicherer Allianz, den größten vor Ort, kommen allein in Leipzig und Umgebung 15.000 Schadensfälle zusammen. Auf dem VW-Gelände in Mosel bei Zwickau stehen Hunderte fabrikneue Autos unter freiem Himmel, bereit zum Abtransport. Der ist nun verhagelt.
Des einen Leid, des andern Freud
Doch alles Gute kommt von oben, trotz alledem. Aus den Hagelkörnern, kaum sind sie am Boden aufgeschlagen, werden auf wundersame Weise kleine Goldkrumen, das Unwettergebiet wird zum Markt. Fleißige "Hail repair teams" in aller Herren Länder riechen den Braten, und es klappert - sozusagen mit der Grillzange, um im Bild zu bleiben - der deutsche Autofahrer: Zu Tisch, zu Tisch! Kaum nämlich war das Unwetter losgegangen, griff dieser schon zum Telefon und meldete seiner Versicherung den Schaden. Jene wiederum weiß inzwischen aus Erfahrung: Wenn in der ersten Viertelstunde eines Hagel-Unwetters schon drei, vier besorgte Autobesitzer anrufen, werden es am Ende Tausende sein - und informieren die diversen Hagelschaden-Zentren, zum Beispiel das in Ulm.
Dort im Büro laufen viele Fäden zusammen. Über Wetter-Seiten im Internet und ihre gut gepflegten Kontakte zu den Versicherern ist das kleine Ulmer Team stets auf dem Laufenden. Wenn irgendwo ein Hagel niedergeht, sie erfahren es als Erste. Nun schnell die Koffer gepackt, die Konkurrenz schläft nicht. Monteure werden in aller Eile zusammengetrommelt, ab geht´s ins verhagelte Gebiet.
Es werden Hallen angemietet, Garagen und Stellplätze gesucht. Die Leute bringen ihre verbeulten Autos. Versicherungsgutachter kommen vorbei. Und schließlich machen sich die Karosserie-Experten ans (Kunst-Hand-)Werk. In Leipzig, hört man, werden die Teams vielleicht bis Dezember zu tun haben. Es lohnt sich also, mit von der Partie zu sein. Die Firma Cirkin aus Neuss zum Beispiel ködert ihre Kunden damit, dass sie einen Teil ihres Gewinns karitativen Einrichtungen vor Ort spendet. Wer möchte da nein sagen?
Fix-a-Ding, Der Dellendoktor oder Mister Car heißen die Firmen. "Lackschadenfreie Ausbeultechnik" nennt sich ihr Handwerk, es ist billiger und umweltfreundlicher als das herkömmliche Ausbeulen und neu Lackieren der Wagen. Aufwendige Reparaturen zur Beseitigung kleinerer Schäden und Dellen sind nicht mehr nötig. In den USA und Australien macht man das schon seit 60 Jahren so, in Deutschland erst seit relativ kurzer Zeit. Man braucht spezielles Werkzeug, Erfahrung und sehr viel Fingerspitzengefühl. Deshalb kommen die Mechaniker aus allen Ecken Deutschlands und dem Ausland. Sie sind schnell, sie sind gut, sie sind des Autofahrers Rettung. Ihre Einsatzgebiete sind nicht auf Deutschland begrenzt. Im Frühjahr und Frühsommer ist hierzulande Hagel-Saison, zu anderen Zeiten geht´s gegebenenfalls bis nach Übersee. Arbeit für Monate lockt in die USA und bis nach Australien.
Auf nach "Mahagonny"!
Die Sache hat Symbolkraft: Nomaden der Arbeit aus aller Welt treffen sich in einem eilig zusammengezimmerten "globalen Dorf" und bieten ihre Arbeitskraft zum Kauf an. Das liegt im Trend. Eines der modernen Mantras, die uns täglich vorgebetet werden, als stünden wir alle beim Zirkus unter Vertrag, heißt ja: Flexibilität. Also rauf aufs Trapez und mitgeturnt! Flexibilität wird - simsalabim - zu einem Freiheitswert. Heute hier, morgen da. Unsere Wurzeln verkommen. Auf die Walz also, vaterlandslose Gesellen!
Dazumal, als das Wandern noch des Müllers Lust war, durfte nicht jeder mitziehen: Nur wer die Gesellenprüfung bestanden hatte, jünger als 30 Jahre war, ledig und schuldenfrei. So schrieb es die Tradition vor. Sie gilt heute noch. Aber was schert uns die Tradition der Wanderburschen, wenn´s ans Eingemachte geht? Jeder fünfte Berufstätige muss heute täglich oder zum Wochenende pendeln, eine Fernbeziehung führen, für eine Arbeitsstelle umziehen oder an wechselnden Orten arbeiten. Beruflich mobile Frauen bleiben in Deutschland übrigens fast immer kinderlos.
Wir dürfen gespannt sein, wie die (Familien-)Politik auf die Forderung, um jeden Preis mobil der Arbeit nachzujagen, in Zukunft reagieren wird. Will sie wie gewohnt nach der Pfeife der Industrie tanzen und gleichzeitig weiter ihr reaktionäres Familienbild propagieren? Das wird dem Wähler zunehmend schwieriger "zu kommunizieren" sein. Denn es bleibt ein objektiver Widerspruch, dass der Kapitalismus auf die bürgerliche Kleinfamilie als Verbraucher setzt und sie als Ressource braucht - und sie andererseits immer mehr zerstört.
Man fühlt sich erinnert an Brechts Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. Der glitzernd öde Ort am Meer zog Glücksritter und Goldsucher an. Es galt die Losung, dass man dort "alles dürfen darf". Freundschaft und Liebe waren hoch gehandelte Werte, es sei denn, einer erwies sich als zahlungsunfähig, "was das größte Verbrechen ist, das auf dem Erdenrund vorkommt." Ein nahender Hurrikan sorgte für Aufruhr und den entscheidenden Aufschwung - die aber letztlich beide, Hurrikan und Aufschwung, ausblieben. Der Zuschauer lernte in Brechts Lerntheater: "Wir brauchen keinen Hurrikan, wir brauchen keinen Taifun. / Was der an Schrecken tuen kann, das können wir selber tun." Vielleicht geht über unserem "globalen Dorf" ja ein zweiter, alles reinigender, alles zerstörender Hagelschauer nieder?
Oder gibt es sie dann doch, die Solidarität? Und entwickeln sich soziale Bindungen zwischen uns "Job-Nomaden", die wir uns als Leiharbeiter, abhängige Selbstständige oder befristet Angestellte von Projekt zu Projekt hangeln? Werden wir vor Ort, zwischen den verbeulten Wagen, Freundschaften schließen, gar Familien gründen?
Enrico, Luigi, William und Co.
In Leipzig hat die Firma Dent Wizard Quartier bezogen, ein amerikanisches Unternehmen, 1983 in den USA gegründet, in Deutschland seit 1997 präsent und inzwischen Marktführer. Auf einem Gewerbegebiet im Stadtteil Lindenau wurde eine 2.000 Quadratmeter große Halle gemietet, die HUK Coburg hat ihre Leute gleich mit dorthin geschickt. Draußen ein Stehtisch mit gelbem Sonnenschirm. Drinnen arbeitet in blauen Sweatshirts das Hagel-Team. Die beschlipsten HUK-Herren sitzen an Klapptischen, jeder sein Laptop vor sich. Kunden bringen ihre Wagen. Sie kommen aus Delitzsch, Halle oder dem Muldental. Mit einer Teil-Kasko sind sie ausreichend versichert. Der Schaden wird begutachtet und geschätzt. Pro Auto liegen die Kosten zwischen 400 und 6.000 Euro, je nach Schwere des Schadens, im Schnitt muss die Versicherung um die 3.000 Euro berappen. Dent Wizard garantiert seinen Kunden: Die Dellen verschwinden, der Lack bleibt unbeschädigt. Darauf gibt es drei Jahre Garantie. Für den Autobesitzer entsteht kein Wertverlust an seinem besten Stück, weil kein Teil ausgetauscht werden muss.
Natürlich versuchen die Schlipse, hier und da eine Delle zu übersehen. Man hat ja gehört, wie viele Jobs bei der Konkurrentin Allianz in Kürze den Bach runtergehen, da möchte man seinem Arbeitgeber jetzt, hier und in Zukunft gern zur Freude gereichen.
Doch der Projektleiter Guido Lazar guckt sich die Sache dann noch einmal genau an. Unter einem Licht-Tunnel nimmt er die Wagen ins Visier. Die Neonleuchten werfen ihre hellen Linien auf den Wagen, und jede noch so kleine Delle wird sichtbar. Die Schäden werden mit Fettstift markiert. Gegebenenfalls muss die Kostenschätzung korrigiert werden. Anschließend "entkleidet" ein Automechaniker, dessen Job hier Headliner heißt, die Autos so weit, dass die Techniker schließlich - ein italienisches und ein slowakisches Team, die eigentlichen "Dellenzauberer" - mit ihren Werkzeugen ans Metall gelangen, das zu reparieren ist.
Die Halle, die in den ersten Tagen dieses langen Sommers noch angenehm kühl gewesen sein mag, hat sich inzwischen aufgeheizt. Es stehen Ventilatoren neben den Autos und schaufeln den neun Männern etwas Kühlung zu. Auch sie haben die Autos mit Neonlampen umstellt. An Stativen befestigt, können sie die Lichter optimal justieren. Dann rücken sie dem Blech zuleibe.
Man kann das alles auch mächtig albern finden. Wer hat eigentlich irgendwann die Losung ausgegeben, dass ein Wagen mit ein paar kleinen Dellen oder Beulen ein schlechtes Auto sei? Ich verkneife mir, das zu fragen. Stattdessen sehe ich den Arbeitern bei ihrem Handwerk zu - vor dem man nur Respekt haben kann! Sie drücken nicht nur einfach mit ihren "Tools", langen Haken und Hebeln, die eingedellten Stellen im Metall nach außen. Sie massieren, sie hebeln, sie wischen, sie klopfen, sie hämmern. Mit scharfem Blick prüfen sie wieder und wieder. Ein Job, der Geschick, ein genaues Auge und hohe Konzentration verlangt. Eben las man in den Zeitungen von polnischen Erntehelfern, die in Italien in Arbeitslagern gehalten wurden. Davon kann hier keine Rede sein. Die Karosserietechniker sind stolze Künstler ihres Fachs.
Enrico Magi ist 45, er stammt aus Florenz. Zuhause hat er einen Jungen und eine Tochter und ist verheiratet. Fünf, sechs Wochen, sagt er, arbeiten sie hier am Stück, zehn Stunden am Tag, auch samstags. Dann fahren sie für ein langes Wochenende heim. Sein Freund Luigi stammt gleichfalls aus der Nähe von Florenz, er hat auch zwei Kinder, das Mädchen ist ein Jahr, der Sohn fünf. Natürlich schmerzt ihn die Trennung, zumal seine Frau gern mitgekommen wäre, denn sie spricht Deutsch, er nur etwas Englisch. Aber mit zwei kleinen Kindern? Das ging nicht. Es bleiben die täglichen Telefonate am Abend.
Die beiden Männer arbeiten zusammen an einem Volvo, den das Unwetter schwer mitgenommen hat. Einen ganzen Tag brauchen sie dafür. Es muss schnell gehen und sie müssen perfekt sein. Sie arbeiten auf Leistung, sie sind aufeinander angewiesen.
William kommt aus der Slowakei. Er ist 24, hat blonde Strähnchen im Haar und sieht ein bisschen aus wie Lukas Podolski. Er wohnt wie die anderen in einem guten Hotel im Stadtzentrum. Leipzig gefällt ihm, hier ist viel mehr los als in der slowakischen Kleinstadt, aus der er stammt. An ihren freien Tagen bleiben die Slowaken deshalb oft hier - und unter sich. Sie gehen shoppen, tanzen, trinken. Der Verdienst ist sehr gut, sagt William. Vier Monate muss er hart arbeiten, dann kann er den Rest des Jahres frei machen. Zumindest in der Slowakei.
Keiner der Männer spricht Deutsch. Man hilft einander, die Italiener den Italienern, die Slowaken den Slowaken. Die Grenzen der beiden Teams werden nicht überschritten. "Man arbeitet hier", sagt Enrico, "der Job ist hart. Wir sind zum Geldverdienen da, nicht zum Spaß." Er wischt sich den Schweiß von der Stirn und lächelt. Die Hitze nervt. Der nächste Hagel kommt bestimmt.
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