Der Fremde im Zug

Berliner Abende Kolumne

Das wär ja die Hölle für mich, sage ich zu dem Mann neben mir. Er ist Ende 30, heißt Konrad und hat mir gerade erzählt, was er beruflich treibt. Wir stehen in einer Kneipe in Pankow. Neben ihm sein Kollege oder Kumpel oder was. Der ist Mitte 50, groß und dick und heißt Herr S. Zufällig kamen wir ins Gespräch. Ich bin Biografiker, hatte Konrad gesagt, wozu sein Kumpel nickte. - Biografiker? Frage ich.

Ja. Die Leute erzählen mir ihr Leben und ich schreib´s auf. Das Leben der anderen! Das boomt. Davon lebe ich. - Ein Vampir, denke ich, sage das mit der Hölle und frage: Was kostet denn dieser Spaß?

Achttausend. Pi mal Daumen. Antwortet Herr S.

Herr S. also! Um dessen Leben geht es hier.

Picture it, sagt Konrad und hebt vielsagend den Zeigefinger. Picture it heißt: Stell dir vor! Konrad stammt aus Rosenheim in Bayern, da spricht man sehr viel Englisch. Jetzt lebt er in Berlin, in Prenzlberg, wie er stolz sagt.

Man kann ja bei einem Feierabendbier über alles Mögliche reden, über Amüsantes zum Beispiel. Warum gerade vom Beruf?

Um runterzukommen nach so einem Tag, erklärt Konrad. Die Leute erzählen mir ja alles. Alles! (Wieder kommt der Finger ins Spiel.) Ich muss das verarbeiten, muss das Wichtigste rausschälen, die Knackpunkte. (Und wieder sein Finger.) Konrad erklärt gern und weiß Bescheid. Auch über Herrn S. natürlich und dessen Leben, das er gerade aufschreibt. Bestimmt erklärt er dem das auch. Die Menschen lieben es, ihr eigenes Leben erklärt zu bekommen. Besonders die Ossis. - Wer liest denn das Buch, wenn´s fertig ist? Konrad weiß es nicht. Herr S. hofft: alte Freunde, Bekannte. Optimist!

Der Mann lebt seit mehr als 40 Jahren auf Rügen. Jetzt ist er nach Berlin gekommen, hat sich ein Hotelzimmer genommen und aus seinem Leben erzählt. Besucht mit seinem Ghostwriter ein paar "Schauplätze". Hier in Pankow verbrachte er seine Kindheit. In der alten Grundschule waren sie schon. Wo ich gewohnt habe, sagt er leise und weich, da fuhr hinter dem Hinterhaus gleich die S-Bahn. Und da dahinter war schon französischer Sektor, Westberlin. Wie ein Kind steht er da und sonnt sich in seiner Erinnerung. Ein sehr großes, sehr dickes Kind, das immer gehänselt und geschubst wurde sein Leben lang und sich trotzdem noch von Herzen freuen kann. Es freut sich und schwitzt, das Kind. Denn jetzt wird sein Leben aufgeschrieben.

Wir sind durch den S-Bahnhof durchgelaufen, S-Bahnhof Wollankstraße, auf der anderen Seite konnte man ja damals noch einkaufen. Es gab einen Wechselkurs 1:4 oder 1:5, und man hat sich ja auch nur eine Coca-Cola gekauft. - Man? - Naja, ich als Kind, sagt Herr S., und scheint sich ein wenig zu schämen.

Die sagen nie "ich", erklärt Konrad gestresst und meint: die Ossis. Immer "man" und immer in der dritten Person. Das muss ich dann alles umändern!

Die Grenze war ja noch nicht zu, erzählt Herr S. weiter, und wir wussten, was es alles drüben gibt, waren auch mal im Kino dort und ich kannte Sinalco und so, das war ganz normal. Man konnte sich eine Micky Maus mitbringen oder eine Hörzu.

Warum schreiben Sie das nicht selbst auf, frage ich ihn.

Hab´s versucht. Oft genug. Ich komm nicht weit.

Konrad wird plötzlich unruhig, sieht auf die Uhr. Gehorsam stürzt Herr S. sein Bier herunter. Wo soll´s denn noch hingehn? Wo er gewohnt hat, sagt Konrad.

Mir fällt auf, dass er ständig in der dritten Person über seinen Klienten spricht. Ich komme mit, sage ich, ohne um Erlaubnis zu fragen. Herr S. strahlt. Konrad macht halbwegs gute Miene.

Wir stehen vor dem Wohnhaus. Es ist die Westseite der Brehmestraße, nach dem Mauerbau Sperrgebiet. Nur Schikane war das, sagt Herr S., kein Besuch traute sich mehr zu uns, da zogen wir bald weg, ich und meine Mutter. Im Sommer ´62, ich war zehn.

Auf der Bahnfahrt zum neuen Wohnort an der Ostsee, Möbel und Gepäck waren vorausgeschickt, las der Junge seine Comics: die Digedags. Ein Mann saß ihm im Abteil gegenüber, sie kamen ins Gespräch. Der Kleine offenbarte sich als Spezialist in Sachen Dig, Dag und Digedag. Dabei fehlten ihm schmerzlich ein paar Hefte! Der fremde Mann lächelte. Später sprach er die Mutter an. Sie schrieb ihm ihre neue Adresse auf. Das war mitten in den Sommerferien... - Und einen Tag vor Weihnachten, da kam plötzlich ein Paket mit allen fehlenden Heften drin!

Wer war denn der Fremde im Zug, frage ich.

Er hat sich nicht vorgestellt, sagt Herr S. und beugt sich nah an mein Ohr: Aber ich glaube, das war der Hannes Hegen selbst, der Zeichner, wissen Sie. - Konrad aus Rosenheim, jetzt Prenzlberg, langweilt sich. Er kennt die Geschichte schon. Aber Herr S. strahlt wie ein Kind. Und ich denke: Wie wird sich diese Geschichte wohl bald in seiner Biografie anhören?


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