Der Schiffbrüchige

Zeitgeschichte 1933 Vor 80 Jahren erhält Ivan Bunin als erster russischer Dichter den Literaturnobelpreis. Der Antikommunist lebt im französischen Exil, das ihm nie zur Heimat wird
Ausgabe 47/2013

Auf der Nobelpreis-Homepage kann man ein kurzes Video sehen. Es stammt aus dem Jahr 1933. Eben hat der Exilrusse Ivan Bunin erfahren, dass er den Literaturnobelpreis bekommt. Jetzt steht er an einem trüben Novembertag in Paris am Straßenrand, schlank, aufrecht, mit Kneifer; hinter ihm irgendein Fenster, das mit einer Gardine verhangen ist, im Glas sieht man Schatten von Fahrzeugen passieren. Bunin ist 63 Jahre alt, „stateless, domicile in France“ – wie die Internetpräsenz der Nobelstiftung verrät. Glücklich sei er, erklärt er auf Französisch, für sich selbst und die russische Literatur, und hoffe, persönlich nach Stockholm reisen und den Preis in Empfang nehmen zu können.

Knapp 14 Jahre vorher, Ende Januar 1920, unternahm er eine ganz andere Tour. Er floh auf dem letzten Schiff, das den Hafen von Odessa noch verließ, bevor die Rote Armee die Stadt endgültig einnahm. In seiner Erzählung Das Ende hat er diese Fahrt als apokalyptisches Ereignis beschrieben. Der Dampfer ist alt, überfrachtet. Er gerät in Schneetreiben und Orkan. „Der verfluchte Schiffsboden, schräg, niederträchtig, tanzte unter mir, sackte weg.“ Die schwere See droht, die boat people zu vernichten. Zwei Flüchtlingsschiffe, die zuvor Odessa verließen, so erzählt man sich an Bord, seien bereits gesunken. Der Erzähler sagt sich russische Verse vor und erkennt inmitten des Chaos, auf welchem Weg er sich befindet: „Ich bin auf dem Schwarzen Meer, mit Russland hat es ein Ende, und alles, mein ganzes bisheriges Leben ist zu Ende, selbst wenn ein Wunder geschieht und wir nicht umkommen in diesem bösen, eisigen Abgrund.“

Bunin überlebt die Fahrt. Er siedelt sich in Frankreich an, heimatlos. Vorbei ist die Zeit, da er, ein Verehrer Lev Tolstojs, heimlich dessen Schriften verteilte und dafür ins Gefängnis kam. Verstorben ist sein Freund Anton Čechov. Zerbrochen die Freundschaft zu Maxim Gorki. Vorüber auch die Zeit vor dem Weltkrieg, da Bunin schon einmal im sonnig-südlichen Odessa seinen Wohnsitz nahm. Der Gymnasiast Valentin Kataev, später einer der originellsten sowjetischen Autoren, suchte den Meister auf – und beschrieb seine Faszination 50 Jahre später im Gras des Vergessens: „Ich liebte ihn glühend.“

Kataev erbat Rat in Sachen Poesie. Bunin, „ganz der Sommerfrischler aus der Hauptstadt: vornehme Schlichtheit, teure Sandalen, englische Socken, tadellos gebügeltes loses halsoffenes Leinwandhemd“, ließ den jungen Mann begreifen, dass ein sprachliches Bild erst trifft, wenn es überraschend konkret ist. Dass auch Gefühle nie allgemein sind. Dass es in der Literatur keine verbotenen Themen gibt. Und dass sie nicht entsteht, indem man nachempfindet, was man aus Büchern weiß.

Vorbei die wechselvollen Jahre 1918/19, als Bunin sich aus dem bolschewistischen Moskau wieder nach Odessa absetzte, in die jetzt vom Bürgerkrieg umkämpfte Stadt. Die Deutschen, die Odessa zuerst in Händen hielten, erfanden einen kurzlebigen ukrainischen Staat, an dessen Spitze sie einen ehemaligen Zaren-Offizier setzten. Dann zogen die Sieger des Weltkriegs ein, die Alliierten der Entente. Dann kam die Rote Armee. Sie wurde verjagt. Es übernahm Generalleutnant Denikin das Zepter, ein Kommandeur der Weißen. Einmal flog das Munitionslager der Artillerie in die Luft. Schließlich rückten die Roten wieder heran, diesmal unwiderruflich. Bunin hätte sich früher davonmachen können, es gab Gelegenheiten, doch er will kein Emigrant sein. Er läuft, hager, nervig, ganz Auge und Ohr, durch die chaotische Stadt. Das Straßenbild wechselt, je nach der politischen Lage. Der Dichter betrachtet seine Umwelt mit „höllisch trainierten Augen“, macht sich Notizen.

Und wieder hat Kataev die Gelegenheit, ihn zu treffen: „Ich beobachtete Bunin auf dem hauptsächlich von Soldaten frequentierten Trödelmarkt. Wie ein Fels stand er in der sich schiebenden Menge, in der Hand sein Notizbuch, und schrieb gelassen, ganz ohne Eile.“ Um ihn her Schwarzmeer-Matrosen, Chinesen, der „Gestank von Sesamöl, Knoblauch und ätzenden menschlichen Ausdünstungen. Bunin schien das nicht zu bemerken. Gelassen arbeitete er, füllte Seite um Seite mit Aufzeichnungen.“ – Und klammert sich an die Hoffnung, es würde vielleicht doch ein Wunder geschehen und Schluss gemacht werden in Moskau und Petrograd mit den Bolschewiki. Aber die Geschichte, wie wir wissen, läuft anders.

Bunin lebt nun also seit 1920 in Frankreich, abwechselnd in Paris und der Provence. Er ist, was er nicht sein wollte: ein Exilant. Die Mentalität der Franzosen bleibt ihm fremd. Sein Schicksal scheint es zu sein, der Heimat schmerzhaft verbunden zu bleiben, lebenslänglich, und der Sprache natürlich, die er so meisterhaft beherrscht. Er verfolgt, was zu Hause geschieht. Liest, was dort erscheint. Aber kein Weg führt ihn zurück. Stattdessen wettert er: „Die Revolution in der Poesie ist jetzt, wie im Leben, zum Bolschewismus entartet und erhebt, wie der Bolschewismus, Anspruch auf das Monopol für alles Russische und sogar auf den Messianismus.“

Wenn er schreibt, schöpft er aus der Erinnerung. Das gerät ihm bisweilen zum verzweifelten Vermissen. Und weniges davon erscheint auf dem Buchmarkt.

„Da, in der Dunkelheit, ein vorsichtiges Geräusch neben mir, dann das Licht einer Taschenlampe, jemand berührt mich an der Schulter und sagt feierlich und erregt, halblaut: ‚Ein Anruf aus Stockholm …‘“

Endlich erfährt Ivan Bunin die Wertschätzung, auf die er so lange sehnsüchtig gewartet hat. „Straffheit und Ausdrucksreichtum“, heißt es in der Laudatio, „vereinen sich zu einer beinahe einzigartigen, bis zur Vollendung entwickelten Genauigkeit der Beobachtung. Obwohl von Natur aus Lyriker, hat er doch das Erschaute nie beschönigt, sondern mit unbedingter Treue aufgedeckt.“ Am 10. Dezember 1933 nimmt er den Nobelpreis selbst entgegen. Es hat also doch geklappt mit seiner Reise nach Stockholm für ihn, den Staatenlosen.

Die russischen Emigranten jubeln. Denn natürlich ist der Preis auch ein politisches Statement. Der frische Ruhm gibt neuen Auftrieb. Eine elfbändige russische Werkausgabe erscheint zwischen 1934 und 1936 in Berlin. Bunin schreibt seine schönsten Liebesgeschichten. Aber Preisgeld und Tantiemen sind bald verbraucht, auch großzügig verschenkt an andere Exilanten.

Bunin und seine Frau leiden zunehmend seelische und materielle Not. Man überlegt, in die USA zu emigrieren. Das zerschlägt sich. Es geht das Gerücht, Alexej Tolstoi, einst ebenfalls Emigrant, aber schon 1923 in die Sowjetunion zurückgekehrt, habe im Juni 1941 an Stalin geschrieben, dass Bunin ihn um Hilfe gebeten und den Wunsch geäußert habe, „nach Hause“ zurückzukehren. Der Brief, wenn es ihn gab, ist nie beantwortet worden.

Der Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion nimmt den Dichter schwer mit. Von 1941 bis in die Mitte des Jahres 1943 bringt er fast nichts zu Papier. Halb Frankreich ist deutsch besetzt. Die Bunins werden von tiefen Ängsten gequält.

In seine Pariser Wohnung, die das Paar während der Kriegsjahre untervermietet hat, kehren die Bunins erst im Mai 1945 zurück. Die finanzielle Not bessert sich aber auch dann nicht. Weiter sind sie auf Geldspenden angewiesen. Und zunehmend lebt das Paar, von anderen russischen Emigranten isoliert, verbittert und desillusioniert. Ivan Bunin stirbt in Paris am 8. November 1953. In seiner Erzählung Unbekannter Freund hat er, der die Frauen liebte, sich eine Leserin erfunden. Sie lebt einsam, die Literatur ist ihre Geliebte. Jetzt sendet sie dem Autor des Buchs, das sie gerade las, Tag für Tag sehnsuchtsvolle Briefe: „Ich kann Sie mir nicht vorstellen, ich habe nichts vor Augen, nicht einmal Ihr Äußeres. An wen schreibe ich denn? An mich selbst? Aber das ist gleichgültig. Denn auch ich bin – Sie!“

Karsten Laske schrieb zuletzt über den Ersten Allunionskongress der sowjetischen Schriftsteller 1934

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