Der Virtuose

Die Klaviatur zerschlagen Vor 60 Jahren wurde der Pianist Karlrobert Kreiten ermordet

Das Klavier ist ein merkwürdiges Instrument. Eine finstere Kommode, schwer wie ein Ochse. Darauf klimpern kann jeder, aber wer kann schon spielen?

Offiziell hieß es Pianoforte, jede Familie, die etwas auf ihre Bildung hielt, besaß eins. Es stand in der Stube, man kaufte es wohl zur Hochzeit, vererbte es auch, versammelte sich zu Weihnachten um das gute Stück, und wehe, man musste umziehen. Der Vater spielte, wenn er auf Fronturlaub kam. Drei Schlager konnte er auswendig, alles andere spielte er nach Noten. "Ausgerechnet Bananen..." - Wenn er nicht da war, wurden die Tasten mit einem bestickten, schmalen Tuch bedeckt und der Deckel verschlossen. Einmal im Jahr kam der Klavierstimmer, ein verhuschtes Männlein, ein Zeuge Jehovas. Das Stimmen dauerte einen halben Tag und kostete 50 Pfennig. Irgendwann blieb der Mann fort, das Klavier verstimmte, aber da war der Vater auch schon gefallen.

Das Töchterchen konnte, so lange es klein war, leicht auf das Instrument hinauf klettern. Es ließ die Füße baumeln, legte sein Ohr an den Volksempfänger, der dort stand, und träumte von Papa. Da der nun tot war, musste es selbst spielen lernen. Aber es kam nicht weiter als bis zum Flohwalzer. Die alten Noten lagen unbenutzt und vergilbten. Dann brauchte man Holz, und das Klavier wurde zerhackt. Das dauerte einen ganzen Tag. Da man den Rahmen, auf den die Saiten gespannt sind, nicht herausbekam, hackte man immer und immer wieder auf den Kasten ein, der sich wacker hielt. So ein Instrument ist eben doch ein seriöses Möbel. Die Saiten schrien unter den schweren Schlägen. Das Mädchen weinte. Ihm war, als würde ein großes dunkles geliebtes Tier geschlachtet, mitten in der guten Stube.

Ein wahrer Paganini

"Wenn ich einen Tag nicht übe", hat der Pianist Horowitz gesagt, "dann merke ich das. Wenn ich drei Tage nicht übe, merken es meine Freunde. Wenn ich eine Woche lang nicht übe, merkt es mein Publikum."

Seit einiger Zeit versucht Karlrobert Kreiten seine Berliner Wohnung, die er sich mit seiner Schwester teilt, gegen eine eigene, größere einzutauschen. Jetzt, im März 1943, hat er endlich eine gefunden, die ihm zusagt, nun muss der Umzug stattfinden - ausgerechnet wenige Tage vor einem wichtigen Konzert. Wo jetzt üben? Frau Ellen Ott-Moneke, in ihrer Jugend mit Karlroberts Mutter Gesangsschülerin am Saarbrücker Konservatorium, stellt dem 26-Jährigen dankenswerterweise ihren Flügel zur Verfügung.

So ein Flügel ist natürlich etwas anderes als ein Klavier. Schwarz lackiert und Ehrfurcht gebietend steht das Instrument vor jedem, der sich zu ihm niedersetzt. Es ist anmaßend, es will gleich ein ganzes Orchester sein. Es zeigt seinem Spieler, wie klein er ist. Es fordert: bezwing mich. Pianisten sind einsame Musiker.

Auch die Frauen sind einsam in jener Zeit. Frau Ott-Moneke, stellen wir uns vor, bringt dem aufstrebenden Künstler eine Tasse echten Bohnenkaffee. Jetzt übt er schon die dritte Stunde, nun muss aber auch mal Schluss sein, denkt sie, so lange dauert ja das ganze Konzert nicht. Sie sieht sich um, wo sie die Tasse abstellen kann. Normalerweise bietet der Flügel genügend Platz, aber der junge Mann hat den Deckel hoch gestellt. Sie hört seinem Spiel zu; ein rechter Genuss ist es nicht, denn er repetiert immer die gleiche Stelle. Außerdem wird der gute Kaffee kalt.

Endlich unterbricht er und wendet sich ihr zu. Man plaudert. Er wirkt ein wenig unbeholfen, er kennt die Dame, die das Alter seiner Mutter hat, nur von gelegentlichen Begegnungen, sie war wohl auch schon in einem seiner Konzerte. Er erzählt von seiner letzten Reise, von den begeisterten Kritiken. Vielleicht hat er sogar einen Zeitungsausschnitt parat, etwa diesen: "In diesem Künstler nimmt sofort das Elementare einer Begabung gefangen, die man schlechthin als ›primär‹ bezeichnen muss. Ein wahrer Paganini und Hexenmeister des Klaviers, der die Lösung schwierigster Probleme der Klavierkunst nur so aus dem Handgelenk schüttelt."

Schon geht ihm die Konversation etwas flüssiger von den Lippen. Mag er ein wenig prahlen: "Einmal in Straßburg, keine Plakate, nichts. Ich stürze zur Konzertkasse und frage, ob ich mich etwa im Datum geirrt habe. Aber nein, Herr Kreiten, sagt man mir, es ist ausverkauft, restlos ausverkauft!"

Oder klagt er ein wenig über die Beschwerlichkeiten, die das Reisen im zurückliegenden Kriegswinter bereitete? "Aber was soll´s. Wer reist, macht Reisebekanntschaften, und die lassen die Unannehmlichkeiten meistens vergessen. Man stellt den Koffer in die Mitte des Abteils und spielt Mühle. Den meisten gilt das Spiel als simpel, umso überraschter sind sie, wenn ich sie besiege - und in diesem Spiel besiege ich jeden! Wenn man dann bekannter miteinander ist", plaudert er weiter, "werden auch manchmal Witze erzählt. Kennen Sie den? Kommt Hitler in den Himmel, fragt er Moses: ›Im Vertrauen, Herr Moses, den Dornbusch, den haben Sie doch selbst angezündet?‹ " - Kreiten lacht und übersieht, wie Frau Ott-Moneke vor Angst fast wegstirbt unter ihrer Tasse. "Ach, und Hitler will jetzt auch zwei neue Feiertage einführen: Maria Denunziata und Mariae Haussuchung." - "Der Krieg kann übrigens nicht mehr lange dauern, Frau Ott-Moneke, wir haben ja nichts mehr. Afrika ist verloren und die wöchentliche Fleischration wurde auch um 100 Gramm gekürzt."

Nein, Frau Ott-Moneke hat nicht gelacht. Sie hat sich Rat geholt. Eine Treppe tiefer wohnt nämlich Frau Ministerialrat Windmöller. Die ist aufgebracht. Sie bespricht den heiklen Fall mit Frau von Passavent, mit der sie in der NS-Frauenschaft aktiv ist. "Diese beiden Weiber", klagt Frau Ott-Moneke, die Denunziantin, später der Mutter Kreitens, die einst ihre Schulfreundin war, "gaben einfach keine Ruhe. Sie setzten mir die Pistole auf die Brust."

Ein nettes, helles Zimmerchen

So wird also eine Anzeige verfasst und bei der Reichsmusikkammer eingereicht. Dort mahlen die Mühlen langsam. Vielleicht hofft sogar der, dem die Sache auf den Tisch kam, sie würde sich im Sande verlaufen. Doch die Damen haben ein wachsames Auge. Als in der Zeitung steht, der junge Musiker werde nach Florenz reisen und dort ein Konzert geben, wird die Anzeige sicherheitshalber an die Gestapo gegeben. Nun endlich kommt der Stein ins Rollen. Das Visum wird verweigert, es folgt die Verhaftung. Das Spiel ist aus, der Spaß vorbei. Der Deckel schlägt zu.

Die Eltern erfahren zunächst nicht, was gegen ihren Sohn vorliegt, nicht einmal, wo man ihn hingebracht hat. Emmy Kreiten, eine elegante, selbstsichere Frau, macht sich auf die Suche. Drei Tage lang läuft sie in Heidelberg, wo ihr Sohn verhaftet wurde, von Dienststelle zu Dienststelle, ins Wehrkreiskommando, zum Reichsarbeitsdienst, zur Hitlerjugend. Keiner weiß etwas. Man schickt sie zur Polizei und Gestapo. Aber die kennen angeblich nicht mal den Namen des Verhafteten. Ein Polizist meint: "Vielleicht hat ihn eine Wehrmachtsstreife aufgegriffen? Ein gesunder junger Mann in seinem Alter müsste an der Front sein." - "Mein Sohn ist holländischer Staatsbürger, weil sein Vater Holländer ist." - "Sehr bequem."

Nach zwei Wochen Gestapo-Haft in Heidelberg - sie kannten also den Namen - wird er nach Berlin gebracht, um vernommen und der Denunziantin gegenübergestellt zu werden. Besuche von Angehörigen sind nicht gestattet. Zwei Monate später, es ist inzwischen Anfang Juli, wird er vom Gestapohauptquartier ins Untersuchungsgefängnis Moabit überführt. Hier darf er den ersten Brief an seine Eltern schreiben.

"Endlich, endlich, daß ich euch schreiben kann! Hoffentlich erreichen euch auch bald diese Zeilen, daß ihr wißt, wo ich bin. Jetzt ist ja alles nur noch halb so schlimm, nachdem die Zeit in der Prinz-Albrecht-Straße und am Alexanderplatz überstanden ist. Macht euch bloß keine Sorgen um mich! Ich habe hier ein nettes, helles Zimmerchen und höre die Bahn vom Lehrter Bahnhof, und manchmal meckert eine Ziege, wer weiß woher. Nachts geht es leider nie ohne Wanzen. Meine Tagesbeschäftigung ist, gefütterte Tüten herzustellen. Um 6 Uhr stehe ich auf, dann mache ich etwas Fingerübungen am Tisch, um 7 Uhr Frühstück: Kaffee-Ersatz und eine Scheibe Brot. Hoffentlich wird bald mein Termin sein! Was wird das für eine Freude geben, wenn ich erst wieder bei Euch bin!! Grüßt alle, die ich kenne und seid herzlich umarmt von Eurem Karlrobert. - Ach, was ich vergessen habe: ich brauche zwei Paar Strümpfe und Zahnpasta."

Ein Gnadengesuch an Hitler

Weiter versuchen die Eltern, sich Klarheit zu verschaffen. Sie knüpfen Kontakt zum Sachbearbeiter des Falls am Volksgerichtshof, sie schalten Anwälte in die Sache ein. Jede ihnen überbrachte Äußerung von "höherer Stelle" wird genau bedacht und gewogen. Sie rechnen mit allem Möglichen, aber nicht mit dem Schlimmsten.

Am 3. September erfahren sie durch einen Telefonanruf, dass ihr Sohn am Vormittag zum Tode verurteilt wurde. Wehrkraftzersetzung und Feindbegünstigung sprächen aus seinen Äußerungen. Nicht einmal seine Rechtsanwälte wussten von dem angesetzten Termin.

Die Klaviatur des Bürgerlichen ist endgültig zerschlagen.

Jetzt geht es nur noch darum, die sofortige Vollstreckung des Urteils zu verhindern. Es folgen Tage ununterbrochenen Vorsprechens bei den verschiedenen Ministerien, Amtsstellen, einflussreichen Persönlichkeiten. Endlich, am 8. September, reicht die Familie in der Kanzlei des Führers ein Gnadengesuch ein. Man versichert ihnen, dass nun die Urteilsvollstreckung bis zur Entscheidung über das Gesuch ausgesetzt sei. Aber da ist Karlrobert Kreiten schon tot.

Am 4. September wird die Haftanstalt Plötzensee von Fliegerbomben getroffen. Man fürchtet um die "Sicherheit" der Todeskandidaten. Auch ist das Fallbeil durch den Angriff aus seiner Verankerung gerissen. Die Reparatur würde eine Woche dauern. Was tun? Die Gefangenen auf Schießständen der Wehrmacht erschießen? Man findet eine andere Lösung: Ein Bausachverständiger prüft die Stabilität der Wände im Hinrichtungsraum. Sie sind fest genug, eine Hängevorrichtung für jeweils acht Schlingen zu tragen. Das Sterben kann beginnen.

"Mit Grauen erinnere ich mich an jene schaurige Nacht nach einem Luftangriff, bei dem das Haus in Brand geriet, in dem dreihundert zum Tode Verurteilte gefesselt lagen", schreibt der Gefängnisgeistliche. "Keiner kam durch die Bomben zu Tode, aber in der nächsten Nacht wurden einhundertsechsundachtzig in Gruppen zu acht erhängt, ohne daß man ihnen Zeit zu einem Abschiedsbrief gelassen hätte. Kaum, daß uns Geistlichen die Möglichkeit zu einem letzten tröstlichen Wort, zu einem kurzen Gebet verblieb. Erst um 8 Uhr morgens stellten die Henker wegen Übermüdung ihre blutige Arbeit ein, um sie am Abend wieder aufzunehmen."

Es gibt ein paar historische Aufnahmen, die Kreiten in den dreißiger Jahren eingespielt hat. Ich habe versucht, sie zu besorgen. Aber sie sind vergriffen und werden wohl auch nicht wieder aufgelegt.


Gleicher Mord für alle

Es gäbe - Ironie der Geschichte - vielleicht keine Erinnerung an den Pianisten Kreiten, wenn es nicht den "Fall Höfer" gegeben hätte. Werner Höfer? "Ein schmutziger Bursche, und gewiß einer der dümmsten. Hat er doch 1943 der Hinrichtung eines Düsseldorfer Pianisten, der einen Witz über Hitler wiedererzählte, in dem Berliner 12-Uhr-Blatt applaudiert. Höfer war dafür, daß Menschen, die Witze über Hitler erzählten, hingerichtet wurden, ob sie nun einfache Volksgenossen oder Künstler sind. Er meinte: gleicher Mord für alle", schrieb Hanns Eisler an Karl Eduard von Schnitzler im SONNTAG, Mai 1962.

Es brauchte 25 Jahre, einen "Spiegel"-Report und eine Menge Aufruhr, dass der "Frühschoppen" im Dezember 1987 abgesetzt und sein Moderator Höfer endlich in sein "hoffentlich finsteres Privatleben" (Eisler) versetzt wurde.

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