Die Kinder am Fluss

»Grenzkommando Nord«, 25. Juli 1983 Es wurde nicht geschossen in jener Nacht

Es gab einen Kinderreim, erinnere ich mich, »wir woll´n die goldne Brücke bau´n, wer hat sie denn zerbrochen?« Zwei Erzieherinnen standen voreinander und bauten den Kindern, an den Händen gefasst, eine Brücke, durch die sie in langer Reihe zogen. » Ziehe durch, ziehe durch, der erste kommt, der zweite kommt ...«

Ich sitze in einem heißen, trockenen Lesesaal und blättere mich durch eine Akte. Durch das offene Fenster dringt der Lärm spielender Kinder. Hinter dem Gebäude, unten im Hof, muss ein Kindergarten sein. »Der Letzte wird gefangen, mit Spießen und mit Stangen.« Niemand will der Letzte sein.

Ich blättere in der Akte. Im trockenen Stasi-Deutsch - jener pedantisch-militanten Amtssprache, die bar semantischer Grundkenntnisse die Verachtung des Menschen so gründlich zu konservieren wusste - notiert der Untersuchungsbericht des Grenzkommandos Nord, Abteilung Abwehr am 25. 07. 1983: »Gegen 1.00 Uhr wurde der Soldat Meyer, Mirko*, Zerspaner, ledig, Linie seit 28. 04. 1983, in der Einheit seit 08. 07. 83, operativ aufgefallen ... ohne Mitnahme der Waffe, Uniform und Wehrdienstausweis aus dem Ausgang in die BRD fahnenflüchtig. Die Fahnenflucht erfolgte, indem er den Grenzsignalzaun durchkletterte und diesen dabei auslöste. Danach überwand er durch Überklettern den Grenzzaun I, durchschwamm zuerst die Sude und die danach die Elbe Ekm 557,2 ...«

Der Kanten ist kein Spielplatz, hieß eine Regel damals, und der Feind schläft nicht. .Es war ein merkwürdiger Kindergarten. Manchmal war einer ungezogen. Und der Tod war auch dabei.

Ein Sommertag, heute. Die Landschaft ist flach und weit. Menschenleer. Es ist heiß. Eine Gruppe Windräder steht beisammen, sonst kreiselnde Mercedessterne, jetzt stehen sie still. Ein totes Tier liegt auf der Straße, still verwesend. Ein knorriger schiefer Hochstand. Jemand hat ein Fahrrad weggeworfen, es verrostet. Grillen schreien. Ein Storch posiert, ohne Regung. An einer Scheunenwand wird vor einer Frau namens Viola gewarnt: »Die Hure hat AIDS!« Ich stehe mitten im kleinen Dorf Gothmann. Es ist Juli.

Damals muss es eine warme Sommernacht gewesen sein - damals, vor 14 Jahren, als Mirko abgehauen ist. Als am nächsten Morgen um 5.30 Uhr Hauptmann Dey, »Sachkundiger für Spurensuche und -sicherung«, am Fluchtort eintrifft, vermerkt er im Protokoll über das Wetter: »... wolkenlos, Sonnenschein, sehr trocken«. Die Trockenheit hat Mirko die Flucht erleichtert. Er musste eine weite, von Wassergräben durchzogene sumpfige Wiese durchlaufen, ehe er, von Boizenburg kommend, am Dörfchen Gothmann vorbei und unter den Wachtürmen durch, das Ufer erreichte.

»Dabei ist zu beachten, dass alle vier sich unter erheblicher Alkoholeinwirkung ...«

Was war passiert?

Sie hatten gesoffen. Zu acht saßen sie am Kneipentisch im Kulturhaus Kurt Bürger und tranken alles durcheinander. Jeder schmiss eine Runde. »1 Liter Bier, 1 Glas Sekt, 5-6 doppelte Weinbrand, 2 doppelte Pfefferminzlikör sowie 1 doppelten Wodka.« Die Stasi hat nüchtern nachgezählt.

Gegen halb elf verlässt Mirko M. mit drei anderen die Gaststätte. Gemeinsam nehmen sie den kürzesten Weg zurück zur Kaserne, der durch eine Kleingartenanlage führt. Mirko bummelt, bleibt zurück. Die anderen bieten sich an, ihn abzuschleppen, aber Mirko lehnt ab. »Dabei ist zu beachten, dass alle vier sich unter erheblicher Alkoholeinwirkung befanden.« Plötzlich ist Mirko verschwunden. Seine Kumpel suchen nach ihm, aber Mirko ist weg. In der Kaserne angekommen, erstatten sie dem diensthabenden Offizier, einem Unterleutnant, Meldung. Der reagiert zunächst nicht, weil er davon ausgeht, die nachfolgenden Ausgänger werden den betrunkenen Soldaten schon auffinden und mitbringen. Erst als Mirko auch um Mitternacht noch immer nicht im »Objekt« ist, wittert der Offizier »das Schlimmste«. Er schickt den »Alarmzug« los. Sie durchkämmen die Gegend bis halb zwei. Ohne Erfolg.

Indessen schlägt um halb eins der Grenzsignalzaun Alarm, und der »Kommandeur Grenzsicherung« fordert vom diensthabenden Offizier den »Alarmzug« zur Absicherung der Staatsgrenze an. Die Jungs jedoch sind irgendwo in den Kleingärten zwischen Rhabarber und Stachelbeerstauden auf der Suche und stehen nicht zur Verfügung. »Unter Beachtung dieser Situation löste der diensthabende Offizier Grenzalarm aus und brachte alle in der Einheit anwesenden Kräfte entsprechend der Anforderung des K-Grenzsicherung an der Staatsgrenze zum Einsatz. Unter diesen insgesamt 19 Kräften befanden sich sieben Angehörige der GT (Grenztruppen - d. Red), welche unter Alkoholeinwirkung stehend kurz vor 24.00 Uhr aus dem Ausgang zurückgekehrt waren.«

»... nicht mehr in der Lage, schwimmend seine Absicht durchzuführen«

Also ein torkelnder, aus dem Schlaf geschreckter Haufen, der schwankend einen Lkw besteigt und - schimpfend auf das »Kameradenschwein«? - in Richtung Elbe fährt. Dort stolpern sie blind über die nächtlichen Wiesen. Im Licht ihrer Taschenlampen suchen sie den Geflohenen. Was, wenn sie ihn aufspüren? Wenn er plötzlich vor ihnen aufspringt? Schießen sie?

Eine an der Grenze patrouillierende Kontrollstreife hat inzwischen eine erste Fußspur am Signalzaun, eine zweite am »Grenzzaun I« entdeckt. Man verfolgt die Spur und findet Uniformhose, Hemd, Brieftasche, Wehrdienstausweis, Koppel und schließlich Fußspuren am Flussufer. Hier muss Mirko M. ins Wasser gesprungen sein. Ein aufgeregter Unterfeldwebel lässt drei Soldaten am Ufer zurück, sie sollen die Fußspur »sichern« - was immer das heißen mag - und springt dem Flüchtigen hinterher.

»Beim Versuch, die Sude (Nebenfluss der Elbe, welcher unmittelbar danach in diese mündet) zu durchlaufen, verlor Ufw. Schultz* für ihn überraschend durch die dort vorhandene Tiefe den Boden unter den Füßen und war nicht mehr in der Lage, schwimmend seine Absicht durchzuführen. Nur durch das sofortige Eingreifen des ihm (!) begleitenden Kraus* wurde Ufw. Schultz vor dem Ertrinken von diesem gerettet. Zu beachten ist dabei, dass sowohl Ufw. Schultz als auch der Gefr. Kraus in voller Ausrüstung, einschließlich Bewaffnung, sich in das Wasser begeben hatten.«

Ziemlich bescheuert, möchte man sagen. Was weiter?

»Bei den anschließend durchgeführten Untersuchungen wurde auf einer Buhne der Elbe noch ein Barfußabdruck des Fahnenflüchtigen erkannt und gesichert.« Einem DDR-Grenzboot ruft eine »am BRD-Ufer befindliche Person zu: ›... abgehauen, ihr kriegt mich sowieso nicht!‹ «. Der Deutschlandfunk meldet tags darauf, ein 23jähriger Soldat der DDR-Grenztruppen sei in den Morgenstunden nach Niedersachsen geflohen. Er habe die Elbe durchschwommen und unverletzt das Bundesgebiet erreicht. Ende des Berichts.

Der Junge hat es geschafft. Er ist ihnen glücklich durch die Lappen gegangen. Betrunken die nächtliche Elbe zu durchschwimmen, was für eine Leistung! Was für ein Mut. Und welche Verzweiflung wahrscheinlich.

»Auf eigenen Entschluss und ohne Absprache untereinander begab sich ...«

In der Akte folgen Betrachtungen zur Person des Flüchtigen - »... der Fahnenflüchtige wurde bereits in seiner vorigen Einheit als Schwerpunkt eingestuft.« Dann Anmerkungen zum fehlerhaften Verhalten des diensthabenden Offiziers. Entsprechende Disziplinarmaßnahmen werden angekündigt. Die Lektüre beginnt zu langweilen. Ich will die Akte schon zuklappen. Plötzlich lese ich zwischen den minutiös recherchierten Vorgängen und haarklein aufgelisteten Spuren - »ein schwarzer, besandeter Strumpf«, »eine nasse Uniformhose, darin mehrere Zerreißungen« - noch einmal von den am Ufer zur »Sicherung der Fußspur« Zurückgebliebenen: »Auf eigenen Entschluss und ohne Absprache untereinander begab sich der Gefr. Mai* sowie unmittelbar danach der Gefr. Schüler* und Soldat Pauls* in die Sude, um diese zu durchlaufen bzw. zu durchschwimmen. Auch diese führten den Einstieg in die Sude in voller Ausrüstung, einschließlich der Bewaffnung, durch. Bei den Angehörigen der GT Mai, Schüler und Pauls handelte es sich um Kräfte, die erst gegen 23.30 Uhr vom Ausgang zurückkamen, unter Alkoholeinwirkung standen und vom diensthabenden Offizier trotzdem zum Einsatz an die Staatsgrenze gebracht wurden. Bei dem Versuch, die Sude zu überwinden, ertrank der Gefr. Mai. Seine Leiche wurde durch eingesetzte Taucher der GT am 25. 07. 83 um 09.44 Uhr geborgen ...«

Er war 21, als er starb. Seine Entlassung stand bevor. Da sein Name wie alle anderen in der Akte geschwärzt ist, weiß ich nicht, wie er hieß - hier steht ein erfundener. Er war verlobt, hatte ein Kind. Das ist alles.

Es wurde nicht geschossen in jener Nacht.

Ich will hoffen, dass sie nicht über deinem Grab, dummer, unbekannter Soldat, dir zur Ehre doch noch geschossen haben.

* Namen verändert

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden