Die Welt am Draht

Erst Funkstille, dann Sondersendung In den DDR-Medien war Tschernobyl auch ein Anlass, vorsichtig auf Distanz zu Gorbatschow zu gehen

So schön konnte es also sein, das Leben! Die Sektflasche, auf die die bunten Maßbandschnipsel aufgeklebt waren, wurde geköpft. Alles jubelte, schrie. Unser Glück musste in die Welt hinaus, jeder sollte es hören. Wir passierten das Tor ein letztes Mal, und zwar in die richtige Richtung: nach draußen; und in den richtigen Klamotten: zivil. Wir siezten uns und sprachen uns mit "Herr" an. Wir waren davongekommen. Wir hatten keinen Finger eingebüßt an der Panzerluke, keinen Schuss abgegeben auf irgendein Lebewesen, wir hatten die Manöver überlebt und mussten keinen Tag nachdienen. 18 Monate waren wir feldgrau gewesen, Duckmäuser auf Befehl. Jetzt blühten wir auf. Wir umarmten uns, umarmten die Freiheit. Endlich draußen!

Am Morgen noch, als wir unsere Uniformen zurückgaben, als alles gezählt, begutachtet und auf Vollständigkeit überprüft worden war, hatte DT 64 laut über den Flur geschallt. Einmal, so hieß es, hatte ein Moderator des Senders auf den Entlassungstag angespielt, seither wurde jedes halbe Jahr das Programm auf ein solches Wort hin abgehört; sehnsüchtig lauschten die Sklaven auf den Text zwischen den Zeilen. Aber es kam nur das Übliche: Nachrichten, Musik. Es war Montag, der 28. April 1986. Wir fuhren fort, nach Hause, auf Nimmerwiedersehen. Der Spuk war vorbei.

Meine Mutter hatte meiner Freundin und mir eine Reise nach Hiddensee geschenkt. Sie war schon dort, ich fuhr hinterher. Natürlich nicht auf direktem Weg, so frei war die Freiheit nun auch wieder nicht. Erst musste ich mich auf der Polizei-Meldestelle meines Wohnorts einfinden, um meinen Personalausweis abzuholen, der dort während meines Wehrdienstes wachsam verwahrt worden war. Dadurch verlor ich einen ganzen Tag.

Aber dann! Endlich.

Es war inzwischen der 30. April. Ich fuhr allein mit dem Zug nach Stralsund, unterwegs las ich Richard III.: "Nun ward der Winter unsres Missvergnügens / glorreicher Sommer durch die Sonne Yorks! / Die Wolken all, die unser Haus bedräut, / sind in des Weltmeers tiefem Schoß begraben. / Nun zieren unsre Brauen Siegeskränze, / die schart´gen Waffen hängen als Trophä´n. / Aus rauhem Feldlärm wurden muntre Feste, / aus furchtbarn Märschen holde Tanzmusik. / Der grimm´ge Krieg hat seine Stirn entrunzelt, / und statt zu reiten das geharnsch´te Ross, / um drohnder Gegner Seelen zu erschrecken, / hüpft er behend in einer Dame Zimmer / nach üppigem Gefallen einer Laute..."

Mit der Fähre zur Insel. Ich stand an Deck und genoss den Wind. Neben mir Kellnerinnen und Kellner, Zimmermädchen und Köche, die nun ein halbes Jahr dort bleiben würden, denn am 1. Mai begann wie überall auch auf Hiddensee die Saison. Meine Freundin empfing mich am Hafen, wir wohnten in Neuendorf, dem südlichen Ort der Insel. Die Unterkunft war ein besserer Schuppen, die Bettwäsche hatte man selbst mitzubringen - aber wen störte das? Die Sonne schien. Das Maigrün brach aus den Zweigen. Ich war angekommen. Auf der Insel: fast im Paradies. Hier in Neuendorf gab es nicht einmal Zäune zwischen den Grundstücken! Die schilfgedeckten Häuser standen frei auf der Wiese, die Fischernetze hingen da, und die Wäsche trocknete an der Luft. Wir kauften frische Milch in einem winzigen Konsum und blasse Inselbrötchen beim Neuendorfer Bäcker. Der April war kalt gewesen. Bis zum 26. gab es täglich Niederschläge, die bis zur Monatsmitte noch als Schnee gefallen waren. Die Sonne ließ sich selten sehen. Umso mehr genossen wir diesen plötzlichen Sommer, das erste Mai-Wochenende brachte Temperaturen über 25 Grad.

Natürlich hörten wir keine Nachrichten, schon gar nicht am 1. Mai. In dem Zimmerchen gab es keinen Fernseher, und falls wir ein Radio hatten, hörten wir nur Musik. Die Zeitung lasen wir selbstverständlich auch nicht. Der XI. SED-Parteitag lag kaum zwei Wochen zurück, mit den Reden und Berichten waren wir Soldaten noch tagtäglich genervt worden. Und jetzt gab´s das alljährliche Gejubel zum 1. Mai. Wer wollte damit behelligt werden? So lebten wir wie unter einer Glocke. Während in westdeutschen Großstädten einige mit Gasmasken herumliefen, Jod-Tabletten verteilten und die Grünen die Abschaltung aller Atomkraftwerke forderten, saßen meine Freundin und ich ahnungslos am Strand unter einem leuchtenden, blauen Himmel - unweit des AKW Greifswald.

Erst bei einem Spaziergang zum Norden der Insel, da schallte plötzlich ein Radio. Es mag Samstag, der 3. Mai gewesen sein. Irgendjemand ließ auf seinem Hof wütend und sehr, sehr laut NDR 3 laufen. Ein Kommentator überschlug sich vor Aufregung. Da merkte ich, dass irgendetwas nicht stimmt. Ich kaufte eine Zeitung. Darin fand ich eine Meldung, die ich nur zur Hälfte verstand, und zum ersten Mal las ich das Wort, das sich uns nun einbrennen würde: Tschernobyl.


Wenn man sich heute die 20 Jahre zurückliegende mediale Darstellung des Ereignisses noch einmal ansieht, überfällt einen die Diskrepanz der Berichterstattung in Ost und West aufs Neue. Der Kalte Krieg steht in jeder Zeile. Die sowjetische Informationspolitik fällt in Schreckstarre, zurück auf Breschnew-Niveau: verschweigen, verharmlosen, leugnen, zurückweisen. Nichts ist übrig von Gorbatschows neuer Offenheit. Deshalb weiß selbst die FAZ am 28. April auch nur, dass Bayern München wieder einmal deutscher Meister geworden ist. Da waren bereits am Vortag in Schweden und anschließend auch in Finnland, Norwegen, Dänemark und Polen hohe radioaktive Luftwerte gemessen worden. Alle Welt rätselt, was geschehen sein könnte. Die Zeichen deuten Richtung Osten.

Am 29. April gibt die FAZ, am 30. das Neue Deutschland eine TASS-Meldung wieder, die von einer Havarie und "eingeleiteten Maßnahmen" berichtet. Diese erste Meldung fällt so dürftig aus, dass sie weltweit wilde Gerüchte um Ursachen, Hergang und Folgen des Unfalls provoziert.

Am 30. April bringt das DDR-Fernsehen abends eine Sondersendung, in der man sich des Themas annimmt - ein Indiz, dass Erich Honecker, unter dem Dauerfeuer des Westfernsehens, zaghaft versucht, auf Distanz zu Gorbatschow zu gehen. Verschiedene Experten kommen zu Wort. Natürlich werden keinerlei Spekulationen über Tschernobyl angestellt. Es geht ausschließlich um die Situation in der DDR. Man macht deutlich: unsere Kernkraftwerke sind anders, bei uns herrschen keine ukrainischen Verhältnisse. Am 4. Mai nennt die Aktuelle Kamera sogar ein paar Strahlenwerte - für DDR-Verhältnisse eine seltene Offenheit. Üblicherweise wurden Umweltdaten geheim gehalten, als seien es Nachrichten aus Honeckers Schlafzimmer. So kommt selbst die FAZ damals zu dem Urteil, Ost-Berlin habe der Katastrophe "verhältnismäßig große Aufmerksamkeit geschenkt".

An jenem 30. April andererseits im ND ein Foto auf der Berlin-Seite: Kleine Kinder brauchen Sonne! Ein Dutzend Knirpse ist mit ihren Erzieherinnen im Volkspark Friedrichshain unterwegs. Darunter: "Das war ein Frühlingswetter gestern! Dieser Kindergarten-Ausflug ist nur ein Beispiel dafür, was man bei diesen Temperaturen so alles machen kann."

Plötzlich gibt´s in den ostdeutschen Gemüseläden frischen Salat, den die Westberliner nicht essen wollen. Und am 6. Mai startet die "Internationale Friedensfahrt" mit einem Prolog - in Kiew. Die westlichen Radsportverbände und Rumänien "zogen kurzfristig ihre Meldungen zurück", wie das ND schreibt. Aber die DDR-Fahrer treten natürlich vollzählig an und munter in die Pedale. Uwe Ampler wird der "strahlende Sieger von Kiew", wie das DDR-Volk witzelt.

Mehr als eine Woche ist vergangen, da gibt Moskau endlich auf einer Pressekonferenz ein paar erste Informationen zum Unfallhergang preis. Der Sarkophag, von dem wir viel später hören, wird zum Symbol für die endgültige Erstarrung und schließlich für das Begraben des ganzen Systems.


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