Ecke Schönhauser

Berliner Abende Kolumne

Wo sich am Prenzlauer Berg Schönhauser und Danziger kreuzen, die Straßenbahn M1 und die U-Bahn U2 halten, wo Kastanienalle und Pappelallee aufeinander treffen, am U-Bahnhof Eberswalder Straße, da sehen wir uns. Freitagabend um elf.

Ich steh unterm U-Bahnbogen, es ist noch Zeit. Ich seh mich um, 360 Grad. Hier ist rush hour. Jede Menge junges Volk, Zugereiste, Touristen. Ein Kiosk, gleich unten an der Treppe: Akuma Matata. Da läuft Musik, es gibt Zeitungen, die um diese Zeit keiner kauft, Zigaretten, vor allem Bier. Unterm nächsten U-Bahn-Bogen stehen Fahrräder, dicht wie ein Dickicht. Die Schönhauser rauf ein Spätverkauf: Die Notlösung. Noch ein Stück weiter, auf einem Fleckchen Grün, ein neuer Biergarten, das Verandadeck. Da kann man, quasi mitten im Verkehr, im Liegestuhl liegen. Berlin ist südländischer geworden, zumindest was seine Biergärten betrifft.

Der Platz hier, wo ich stehe, ist angesagt. Fast jeder ist mit Flasche unterwegs, Beck´s oder Sternburg Pils. Man macht sich fit, gleich um die Häuser zu ziehen. Oder will hier abhängen. Auf dem Fahrbahngeländer sitzen, die Flasche am Hals. Am Kiosk stehen, den Leuten im Weg. Der Platz ist ungemütlich, laut und schmutzig. Der Platz ist cool. Es geht um Reinickendorf, Bastian Schweinsteiger, normale und perverse Pornos, um Schwierigkeiten mit der Waschmaschine, den letzten Alkoholkonsum, um Titten und das neue Fotohandy. Was man eben so redet. We are all beautiful people. Könnte das Motto sein. Heißt ein Secondhand-Laden, gleich hier. Was die Jungen nicht wissen: Das war schon einmal so. Zumindest im Film. Als man Leute ihres Alters noch "Halbstarke" nannte, zwei Generationen zurück.

Am 30. August 1957 hatte im Kino "Babylon" am Rosa-Luxemburg-Platz ein Film Premiere, der begann mit einem 360°-Schwenk. Genau hier. Berlin, Ecke Schönhauser. Da fuhren die Straßenbahnen wie jetzt, nur die Wagen waren anders. Wo heute Rossmann drin ist, waren die Fenster dicht. Das damalige Bettwäschegeschäft Hoffmann ist jetzt ein Klamottenladen, der nennt sich "Meldestelle", weil ein Stockwerk drüber einst die Volkspolizei saß.

Der Film handelte von jungen Leuten im geteilten Berlin. Es ging um irgendwelche Geschäfte mit DDR-Personalausweisen, die man angeblich in Westberlin teuer verticken konnte, weil das imperialistische System sie für dubiose Machenschaften missbrauchte. Man meldete seinen "Perso" als verloren. Bekam für 30 DDR-Mark einen neuen. - Ich kenne den Deal aus anderem Zusammenhang. Wer zur Fahne kam, musste seinen Personalausweis abgeben. 18 Monate war man bei jeder Kontrolle, auch auf Urlaub, durch seinen Wehrpass als Soldat kenntlich, als Mensch zweiter Klasse. Wer darauf keinen Bock hatte und schlau war, hatte vorgesorgt. Seinen Ausweis rechtzeitig "verloren". Gab den neuen ab, behielt den alten. Der Straf-Preis von 30 Mark hat sich bis zum Ende der DDR nie geändert.

Nicht der Ost-West-Konflikt war es, was den Film ausmachte. Sondern: Er war echt. Er spielte wirklich hier und wirklich unter Menschen. Die "Halbstarken" sprachen, wie Leute reden. Das war in der DDR ein ungewohnter Ton. (Auch heute wieder: Man redet Papier.)

Das Leben im Film spielt zwischen Danziger Nr. 4, wo Angela - Ilse Pagé, damals noch Schülerin in Westberlin - mit ihrer Mutter (Helga Göring) wohnt, und dem Pratergarten, wo die jungen Leute sich zum Tanz treffen. Das ist ihr Kiez. Mitten durch geht die Schönhauser.

Was für Männer gefall´n dir´n eigentlich, fragt Dieter (Ekkehard Schall) seine Zukünftige.

Ärzte und Boxer.

Quatsch, ich mein, wie die aussehn müssen.

Wie Marlon Brando.

Ein Lächeln fliegt über Schalls Gesicht. Marlon Brando - wenn´s weiter nichts ist! Dieter rechnet sich Chancen aus. Und wir Zuschauer trauen Ekkehard Schall zu, einer wie Brando zu werden. Der Film war ein Hit bei Publikum und Kritik.

Ein Jahr später, im Juli ´58, rechnete eine Filmkonferenz mit dem "Revisionismus" ab, dem die DEFA erlegen sei. Das Studio wurde gerügt, es habe es an sozialistischer Parteilichkeit fehlen und eine zu große Nähe zum italienischen Neorealismus zugelassen. Aber Naturalismus und kritischer Realismus seien völlig ungeeignet, die sozialistische Wirklichkeit darzustellen. Das war das Aus für Filme wie diesen. Auf Jahre.

"Weil wir die kleinen Geschichten des Alltags erzählen wollten", entschuldigte sich der damals 38-jährige Regisseur Gerhard Klein, "haben wir den Klassenkampf, der sich in Berlin besonders zugespitzt abspielt, mit verkleinert. Wir hatten übersehen, dass wir unsere Ordnung, die doch vorwärts schreitet, defensiv dargestellt haben. Das heißt, wir haben sie nicht revolutionär, so wie sie ist, dargestellt."


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