Hollywood steht auf seinem Shirt. Der junge Mann trägt Kurzhaar und um den Hals ein Schlüsselband. Als ich genauer hinsehe, heißt es: Hoolywood. Uuuh! Ich fahre Straßenbahn, mit der Linie 88 von Friedrichshagen Richtung Rüdersdorf. Nur so zum Spaß, der Weg ist das Ziel. 1910 wurde die Strecke gebaut. Fahrscheine gibt´s beim Fahrer.
Wer gern die Welt betrachtet, fährt Bahn. Dachte ich. Bis in Berlin die Folienwerbung aufkam. Seither sind Bus- und Bahnfenster verklebt, die Fahrgäste versacken in höhlenartigem Halbdunkel. Draußen schliert unkenntlich eine Stadt vorbei, man kneift verzweifelt die Augen zusammen, aber sieht trotzdem nur trübe Soße. Ich fuhr schon Werbung für Vattenfall, Jägermeister und den 1. FC Union. Einmal durchquerte ich Lichtenberg in einer Maggiflasche. Irgendwie gefiel mir das nicht. Bin ich unmodern?
Diese Bahn hier ist, wie sie sein soll, oll und weitgehend unverputzt. Teilweise einspurig rasselt sie durch Siedlungen und Wäldchen, passiert so putzige Haltestellen wie "Berghof Weiche". Sie hält nur auf Wunsch, drücken Sie "Fahrgasthaltewunsch".
Schöneiche. Als Fahrschüler war ich vor Jahren mal in der Gegend unterwegs. Ein Rechts-vor-links-Paradies, nur die Straßenbahn hat immer Vorfahrt. Wenn wir am Ende einer Einbahnstraße links abbiegen wollen, auf welcher Seite ordnen wir uns da ein? Links, Herr Lehrer.
Jetzt steigt ein Neuer ein, auf seiner Brust steht: kill Bush! Heute scheint der Tag der lustigen T-Shirt-Aufschriften zu sein. Die klappernde Bahn unterquert den Berliner Autobahnring. Nahebei liegen die Rüdersdorfer Kalkfelsen und der Kalksee. Dort wurden, als es Babelsberg noch nicht gab, Filme gedreht. Harry Piels Actionstreifen mit damals atemberaubenden Stunts, 1920 der erste deutsche Monumentalfilm, Das Indische Grabmal. Murnau, Lang, Lubitsch, Elefanten, Tiger, Pferde, Krokodile. Bunt soll´s am Seeufer zugegangen sein. Die Filme waren trotzdem schwarzweiß.
Die Bahn kreischt um eine Kurve. Es ist warm. Mir fallen die Augen zu. Meine Gedanken fahren alleine weiter.
"Close your eyes and visualise", riet Alfred Hitchcock. So entwarf er seine Filme im Kopf und auf Papier, bevor er sie drehte. Gelernt hatte er unter anderem bei Murnau in Berlin. Mein Gott, alle sind sie fort, Murnau, Hitchcock, Lubitsch, Lang, alle nach Hollywood, in die grünen Hügel über der Stadt, die nach den Engeln genannt ist. Bahn fahren meine Gedanken. Weiter.
Wie hieß gleich dieser russische Film? Sklavin der Liebe. Von Nikita Michalkow. Da gibt es zum Finale eine atemberaubende Sequenz, da rattert die Tramway auch ewig an Feldern entlang, so wie diese. Der Fahrer ist allerdings längst abgesprungen, führerlos rast der Wagen, und die Stummfilmdiva, einziger Fahrgast an Bord und inzwischen durch die Liebe zur Revolutionärin gereift, wird von reitenden Weißen, die der Bahn folgen, erschossen. Sterbend fährt sie Straßenbahn, wunderschön und einsam. Was für ein Ende!
Die Schauspielerinnen tropften sich zu Stummfilmzeiten Belladonna, das Gift der Tollkirsche, in die Augen, damit ihre Pupillen trotz der gleißend hellen Scheinwerfer groß und sanft und verträumt blickten. Natürlich sahen sie nichts, kein Requisit, keinen Partner, und das Licht schmerzte. Blinde Diven. Heute gibt´s Kontaktlinsen. Aber sollen nicht die sehschwachen Schauspieler die magischsten gewesen sein? James Dean - bella donna! - blind wie ein Maulwurf.
Krachend hält die Bahn. Ich schrecke aus meinen Träumen. Wo, was? Übereilt steige ich aus. Wie viele Stationen habe ich verschlafen? Wo bin ich?
Torellplatz. Ein Supermarkt, tote leere Einkaufswagen am Sonntag. Stille Ödnis. Die Bahn ist fort. 30 Minuten, dann kommt der Gegenzug. Grad mal eine Station hab ich verschlafen. Was uns in diesem Schlaf für Träume kommen... Es heißt ja, dass man sterbend noch einmal sein Leben sähe. Abgesehen davon, ob man das wirklich will - was mag uns da bewegen? Erleuchtete Gedanken, profane, sentimentale? Drücken Sie "Fahrgasthaltewunsch".
Die Rückfahrt verläuft dann sehr heiter. Auskenner bevölkern die Bahn. Sie reden über den T24 und den offenen TW10. Ob das Panzer sind, mit offener oder geschlossener Luke? Ein Kind schaut mit offenem Mund zwischen Vati und Onkel hin und her. Es will "Tuma-Tram" fahren. "Puma-Tram", korrigiert Papa, "aber die fuhr doch nur zur WM." Stimmt. Zum Beispiel an meinem Haus vorbei. Puma, get on it. Sende AFRIKA per SMS.
Papa fordert indessen die Prügelstrafe für Sprayer und Scratcher. Und Videoüberwachung. "Die Filme stellen wir dann ins Netz. Da kann sie jeder sehn." Na, das würde euren Feinden gefallen, denke ich. "Seht mich und meine Tags (ich bin der coole Typ im schwarzen Kapuzenshirt, leider ist mein Gesicht nicht zu sehen) - hier zum Runterladen, kostenlos."
Das Kind lacht. Ich mit ihm.
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