Fiktion der Heimat

Wandlung Franz Fühmanns "Ruppiner Tagebuch" aus dem Nachlass

Gern machen wir unser Erinnern an Jubiläen fest: Einstein im letzten, Freud in diesem Jahr. Manche fallen leider durch das Raster. Franz Fühmanns 20. Todestag 2004 beispielsweise hat niemanden interessiert. Seine Tagebücher, die seit seinem Tod gesperrt waren, sind nun zugänglich. Aber will das noch jemand wissen? "Ich habe alles in allem 5.000 Leser", hat der Autor einmal geäußert. Das war im "Leseland DDR" und klang ein bisschen nach Understatement. Heute dürften es weniger sein. Zu sehr Zweifler scheint Fühmann, zu sehr den Irrungen des 20. Jahrhunderts verfallen, als dass er noch in die Landschaft passte. Frau Heidenreich jedenfalls, steht zu befürchten, würde ihn nicht empfehlen.

Trotzdem ist jetzt in seinem alten Hausverlag ein Buch aus dem Nachlass erschienen, in dem er noch einmal "seinen" Weg zurücklegt, den Weg einer Wandlung. Es ist kein düsteres Buch geworden, auch wenn Fühmann das Projekt damals nicht zum Abschluss brachte. Warum auch? Nicht um jeden Preis zum Ziel zu kommen, muss kein Scheitern sein.

"Morgen also nach Neuruppin. Es ist aufregend seltsam: Da fährt man also in eine Stadt, von der man sich einbildet, daß sie jetzt zur Heimat gehört oder Heimat ist ..." Angehalten, zum 20. Jahrestag der DDR einen neuen "Fontane" vorzulegen, macht Fühmann sich in den Jahren 1967/68 mehrfach auf, seine Wanderungen durch die Mark zu schreiben. Das Ziel steht fest, bevor der Weg gegangen ist: Das Buch soll vom Neuen in der alten preußischen Sandbüchse künden, es soll ein "parteiliches" Buch werden, natürlich. Ihm selbst, hofft Fühmann, wird die Arbeit einen Landstrich und einen Menschenschlag näher bringen, die ihm reichlich fremd sind.

Der innere Zensor - vom Autor bemerkt und sehr genau notiert - wandert vom ersten Schritt an treu an seiner Seite. Er flüstert ihm Maßregeln zu: Schönfärben, Weglassen, das "Typische" suchen. Es ist das Handwerkszeug, das in den Rucksack jedes sozialistisch-realistischen Schriftstellers gehört. Ob es die Allgegenwart der sowjetischen Truppen in und um Neuruppin ist, wie sich´s in seinem Hotelzimmer wohnen lässt oder was die LPG-Bauern reden, es schickt sich nicht, das so "naturalistisch" aufzuschreiben. Fühmann tut es in seinen Notizen dennoch und setzt gleich dazu: "Darf ich nicht schreiben."

Schnell hat er deshalb keine Lust mehr auf das Projekt. Doch dem Verlag ist´s versprochen und der Mann ein gewissenhafter Arbeiter. Also wandert er weiter, "steilab und wieder steilauf, dann über einen Kahlschlag, nochmals durch wunderbaren Buchenwald, und dann, selige Erinnerungen an die Kindheit: "Rauch und Feuer ... ". Er spielt Reporter und erledigt seine Hausaufgaben im Wahlpflichtfach Heimatkunde mit Bienenfleiß. Er sondiert das Land, sucht Kontakte, führt Interviews. So entsteht im Laufe zweier Jahre ein Berg Skizzen, Notizen, Exzerpte - aus dem die Herausgeber jetzt ein umfangreiches, aber gut lesbares Buch gemacht haben: Beobachtungen in Fülle, Preußen in den Farben der DDR. Dann bricht Fühmann die Arbeit ab. "Schluß damit!" Er beendet eine Sache, die am Ende doch nur für die Schublade sein kann. Und die - letztlich und in aller Konsequenz - einen Namen hat: Selbstverleugnung.

Dass dieser Abbruch kurz nach dem Panzersommer ´68 passiert und sich mit einem vehementen Bekenntnis zur Heimat Böhmen verbindet, kann gar nicht anders als ein politisches Statement verstanden werden. "Ich bin von der Theorie eines Heimatfindens ausgegangen. Sie hat sich als Fiktion erwiesen; für jede Zerstörung einer Illusion soll man dankbar sein. Ich weiß jetzt mehr denn je, dass meine Heimat Böhmen ist." Die Genossen haben kapiert. Es gibt Gerede, Gezerre und schließlich eine Aussprache. Aber das Problem sitzt tiefer.

Immer hat Fühmann die Gegend, der er entstammte, in leuchtenden Farben zu zeichnen gewusst: "die Berge, der Wald, der Brunnen, das Haus, der Bach und die Wiese; der Steinbruch, in dessen Grotten die Geister, die ich mir ausdachte, hausten; Kröte; Hornisse; der Käuzchenruf; die Vogelbeerenallee vor der grauen Fabrik; der Jahrmarkt mit seinem Duft von türkischem Honig und dem Drehorgelgeschrei der Schaubudenausrufer und schließlich die Schule mit ihrem kalkgetünchten, trotz der hohen Fenster stets düstren Korridor, durch den aus allen Klassenräumen heraus die Menschenangst wie ein Nebelschwaden kroch ... Das Gesicht, vor dessen Augen man die seinen, zum ersten Mal durch eine rätselhafte Macht verwirrt, niedergeschlagen hat, man vergißt es nicht".

Das schreibt er im "Judenauto" 1962. Da war er gut zehn Jahre aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurück, hatte hinterm Ural eine "Wandlung" vom Nazi zum Kommunisten erfahren, die seither sein Schreiben bestimmte. Trauer über die Abwesenheit seiner "sudetendeutschen Heimat" hätte er sich in jener Zeit nie gestattet und sie als puren Revanchismus von sich gewiesen, Sehnsucht nach dem alten Zuhause wäre ihm nicht im Traum eingefallen - oder vielleicht doch im Traum, gerade im Traum? Darauf wird er später kommen. Zuvor schreitet Fühmann den "Bitterfelder Weg" wie kaum ein zweiter DDR-Autor aus - arbeitet auf der Rostocker Werft, lässt sich in einem Chemiefaserwerk blicken, fährt unter Tage - bis er ihn endlich als Sackgasse erkennt.

Böhmen also, das Land, in dem er zu sprechen lernte. Lesen und Schreiben und Geschichten Erfinden. Jetzt, als Protokollant in der Ruppiner Heide, nach Jahren und mitten im märkischen Sand, überfällt und überrollt ihn die Erinnerung daran geradezu. Ihm wird ein Manko bewusst, dem mit Parteilichkeit auf Dauer nicht beizukommen ist. Hundertmal mag er sich sagen, du hast deine Heimat "durch politisch-historische Gründe, die unbedingt zu akzeptieren sind, verloren". Irgendwann dämmert´s dem allzu klugen Kopf: Sie fehlt dir. Da gehen Fühmann, angesichts der dürren preußischen Bäumchen, auf einmal die Worte aus. "Blätter segeln wie Vögel. Quatsch. Genauer bitte: wie ... warum streng ich mich überhaupt so an - wer kontrolliert denn das, wer kann denn das überhaupt kontrollieren. Selbst wenn er hierher in den Tempelgarten fahren und nachgucken würde, könnte ich immer noch sagen: Am 16.11.67 fielen sie eben so, sela. Also. Blätter, segelnd fallend wie sehr müde tunesische Reiher. Basta."

Das Ruppiner Tagebuch. Auf den Spuren Theodor Fontanes. Herausgegeben von Barbara Heinze und Peter Dehmel. Hinstorff, Rostock 2005, 360 S., 29,90 EUR


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