Fräulein Schulz

Kehrseite I Dass sich das Tor noch in den Angeln hielt! Es stand offen da: groß, eisern und von Rost zerfressen. Es ließ sich längst nicht mehr bewegen. Auch der ...

Dass sich das Tor noch in den Angeln hielt! Es stand offen da: groß, eisern und von Rost zerfressen. Es ließ sich längst nicht mehr bewegen. Auch der ganze prächtige schmiedeeiserne Zaun war bis in sein Innerstes und bis hinauf an die spitzen, wehrhaften Zinnen verrostet, und es hatten sich kleine grünweiße Flechten auf die kunstvoll geschwungenen Stäbe und Streben gelegt.

Vor mir lag der helle Kiesweg, der hinüber zur Villa führte. Ich spürte die harten, kugeligen Steine unter meinen Sohlen, als ich lief. Vorsichtig, denn ich durfte ja die Pilze, die ich in meinen Händen trug, nicht verlieren.

Letzte Nacht hatte ich davon geträumt. Vom Zaun, von dem Kiesweg. Von der Villa. Heute morgen hatte ich in unserem Garten, in der taunassen Wiese, die Pilze gefunden. Hatte die Nachtfeuchte die Pilze wachsen lassen oder mein Traum?

Es hatte das Tor nicht gegeben in der Nacht, also war ich über den Zaun gestiegen. Rostige kleine Krümel waren herabgefallen, rieselten mir in Haare und Ohren und Mund, schmeckten kalt und bitter, nach Metall und Dreck. Ich hing an dem Zaun, kam nicht höher, nicht zurück. Seine rostigen Spitzen schnitten mir in die Hände. Der Zaun war so hoch. Ich hatte vergessen, was ich hier wollte. Ich sprang ab. Erwachte, noch den Metallgeschmack im Mund. Sprang aus dem Bett, lief hinaus, fand die Pilze, mitten auf der Wiese, versteckt im Gras. Traumpilze.

Jetzt stand ich vor der Villa. Neben der Haustür das Klingelschild. Bei Fräulein Schulzes Name war ein Pilz aufgeklebt, ein Fliegenpilz, klein wie ein Marienkäfer, ein Abziehbild, mit dem man Ostereier verziert oder das man in Ermangelung schönerer, glänzender Lackbilder ins Poesiealbum einer Mitschülerin klebt. Schon draußen, an dem gemauerten Pfosten, der das marode Tor hielt, stand es: Pilzberatungsstelle. Niemand, der hier Beratung suchte, konnte fehl gehen. Ich kannte das Schild vom ungezählten Vorübergehen. Irgendwann hatte ich es zum ersten Mal lesen können, Pilzberatungsstelle, ein schweres Wort. Endlich würde ich erfahren, was es damit auf sich hat.

Ich wollte klingeln, aber ich hielt die Pilze. Mit der Nasenspitze drückte ich den Knopf, vorsichtig, dass ich nicht abrutschte, sicherheitshalber zwei Mal. Ein Summer schnarrte, ich lehnte mich gegen die schwere Tür und drückte sie auf.

Drinnen war es kühl. Auf den Stufen, die zu den Wohnungen hinauf führten, lag Teppich. Noch nie war ich in diesem Haus gewesen. Es war eine Villengegend, früher hatten hier dicke Fabrikbesitzer gelebt, reiche Leute, Kapitalisten. Heute wohnte hier, neben anderen, das pilzkundige Fräulein Schulz. Auf leisen Sohlen pirschte ich die Stufen hinauf. Mein Herz schlug, ich spürte es bis zum Hals. Ich erwartete wohl, ich Hänsel, nun in das Reich einer zauberkundigen Hexe zu gelangen.

Stattdessen geriet ich in den sterilen Haushalt einer Krankenschwester. Fräulein Schulz war eine Arbeiter- und Bauern-Inspekteurin. Das hieß nun nicht, dass sie Arbeiter und Bauern inspizierte, obwohl ich mir das lustig vorstellte, wie sie denen auf die Zunge oder in ihre Bauchnabel sah, ob sich dort etwa ein Belag oder Dreck angesammelt hatte: im Bauchnabel, das wusste ich aus eigener Erfahrung, sammelte sich immer irgendein Dreck. Nein, Fräulein Schulz sah in Betrieben und Verkaufsstellen nach der Hygiene und Ordnung. So ging sie zum Beispiel zum Fleischer und kaufte 300 Gramm Gehacktes, eilte in ihr Arbeiter- und Bauern-Institut, wog das Fleisch nach und stocherte darin nach Fliegeneiern und Maden. Ob sie anschließend daraus Bouletten machte mit ihren Kolleginnen, entzog sich meiner Kenntnis. In ihrer Freizeit jedoch, soviel wusste ich nun, beriet sie die Menschen in Pilzfragen. Pilzbücher und Lysol. Das war ihr Leben. So sah ihre Wohnung aus, und so roch sie, die Wohnung, und Fräulein Schulz auch. Scharf prüfte sie, was ich mitgebracht hatte, blätterte in einem ihrer Bücher, sah prüfend auf mich. Sie schüttelte den Kopf. Ich musste die Pilze dalassen. Sie waren giftig: spitzkegelige Irgendwas. Ich schlich mich davon.

In der folgenden Nacht erschien mir eine berauschte Frau. Sie schwebte im weißen Hygienekittel über die Wiese hinter unserem Haus, ein Stethoskop um den Hals. Es war das Fräulein Schulz. Sie war auf Pilzsuche.

Karsten Laske, Jahrgang 1965, zuletzt im Freitag 14/2005 mit dem Text Das magische Auge.


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