Immer wieder neu erfinden

Kyritz Hier begann 1945 die DDR-Bodenreform. Nach 1990 überführt Helga Scheibner ihre LPG in eine schwankende Zukunft. Angela Städeke verliert ihren Job und rettet den Sohn
Ausgabe 11/2020

Die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) „Max Reimann“, Abteilung Tierproduktion im Dorf Vehlow, Kreis Kyritz, damals Bezirk Potsdam – sie steht, als es 1989/90 mit der DDR zu Ende geht, gut da. Es werden Schweine gemästet und Ferkel aufgezogen. 3.500 Tiere hausen in acht Ställen. „Ein Gestank!“, erinnert sich Helga Scheibner, Jahrgang 1953, heute noch.

Sie ist damals für die LPG als Buchhalterin tätig. „Wenn besamt wurde, freitagnachmittags, wurde ich abgestellt. Musste protokollieren. Die Nummern der Säue notieren. Ein Eber wurde in der Mitte durch den Stall geführt, um die Säue zu animieren. Dann wurden die besamt. Danach bin ich aber nach Hause, ab, sofort, duschen, schnell!“

95 Beschäftigte sind in der LPG tätig, darunter Maurer, Elektriker, Schlosser. Man hat eine eigene Werkstatt, Fahrzeuge, Lehrlingswohnungen. Die LPG hält außer Schweinen auch Milchkühe und Bullen und hat eine Fersenaufzucht. Auf Weideland, das hinter den Ställen liegt, werden die Kühe im Sommer getrieben. Ihre Milch verkauft die LPG an die nahe Kyritzer Molkerei. Dort arbeiten 130 Leute, sie stellen Käse und Butter her. DDR-weit kennt man den „Kyritzer Knatterfrosch“, einen Camembert, grüner Frosch auf der Verpackung. Aber die Molkerei wird bereits 1991 dichtmachen.

„Natürlich hatt’ ich schlaflose Nächte“, sagt Helga Scheibner, „wer nicht? Da gab’s große Unsicherheit!“ Sie spricht schnell, knapp, das Notwendige. Wo Zahlen eine Rolle spielen, hat sie die parat. „Plötzlich im Sommer ’90 die Bank zu! Was soll das jetzt? Ich muss meine Leute bezahlen!“

Zurück auf Los

Helga Scheibner hat nach der Schule als Telefonistin in der Kyritzer Molkerei angefangen. Macht dann eine Ausbildung zur Buchhalterin und arbeitet von 1971 an zehn Jahre in der Lohnbuchhaltung des Molkereibetriebs. Wechselt zur LPG und erledigt in Vehlow nun nicht nur die Lohn-, sondern die gesamte Buchhaltung. Zunächst mit einem älteren Kollegen zusammen. Später allein. Sie ist eine Frau, die anpackt.

1990 die Währungsumstellung. Die Genossenschaftsbank öffnet nach einer Woche wieder. Helga Scheibner kann die Mitarbeiter bezahlen. Erstmals in Westmark.

„Wir haben zum Zahltag immer Lohntüten ausgegeben, also das Geld in bar. Bis nach der Wende noch. Manchen Leuten hab ich zwei Mal im Monat Lohn gezahlt, Hälfte-Hälfte, die nicht so gut mit Geld umgehen konnten. Später musste das natürlich alles als Überweisung laufen. Das mussten wir auch erst lernen. Hab ich gefragt: Kann ich meine Spezies, kann ich denen eine Hälfte aufs Konto zahlen, die andere Hälfte zwei Wochen später auf die Hand? Nee. Nee! Das durfte nicht sein.“

Die Kleinstadt Kyritz in der brandenburgischen Ostprignitz. Zwei Dutzend Straßen und Gassen, hingehutzelte Häuschen, Kirche, Marktplatz, Rathaus und eine geschlossene Kaufhalle. So zeigt sich heute der Ort. Kommt man aus dem Bahnhof, läuft man auf ein dunkles Wohnhaus zu, da stehen Särge im Erdgeschoss. Das Denkmal für die Opfer des Faschismus ruft noch immer: „Ihnen der Lorbeer, unser die Pflicht“. Natürlich gibt es ein paar DDR-Neubauten. Seit den 1970ern durchfuhr die Stadt laut, für viele nervend, für manche verführerisch, der Transitverkehr auf der F5 zwischen Westberlin und Hamburg. An einer Tankstelle durften sie halten, tanken, die Westautos. Dann war 1982 die Umgehungsstraße fertig. Die Transitstrecke lief um die Stadt herum und war für die Sicherheitsorgane leichter kontrollierbar. Kurz darauf war dann sogar endlich die Autobahn fertig. In den Ort zog wieder Ruhe ein. Später kam die Wende, das andere Geld, ein anderes Deutschland. Kam ein anderes Leben.

Angela Städeke ist 1990 24 Jahre alt, ihr Sohn drei. „Meine Familie, wir hatten immer Westkontakte“, erzählt sie, „aber als die Mauer fiel – mir war das alles fremd. Ich habe mich innerlich dagegen gesträubt. Hinzufahren und mir mein Begrüßungsgeld abzuholen, das hab ich erst ganz spät gemacht und nur auf Druck hin.“

Sie arbeitet in der Stärkefabrik Kyritz als Lebensmitteltechnikerin. In dem Betrieb werden Kartoffeln aus dem Umland verarbeitet. Veredelt, wie es heißt. Unter anderem produziert man hier, und nur hier in der DDR, Tiefkühlpommes. 1991 übernimmt eine westdeutsche Firma das Werk. Die Arbeit läuft also weiter. Dass aber eine Entlassungswelle rollt, weiß jeder. Auch Angela Städeke. Doch sie blendet das aus. „Spätestens wenn mein Kind fünf ist, wird es auch mich treffen, das wusste ich. Das war so. Und das schwebt über einem. Aber ich hab darüber nicht nachgedacht.“

Für die junge Frau ist die Wende eine Zeit, in der das Private sie gefangen hält. Die Grenzöffnung, ein Runder Tisch, den es auch in Kyritz gab, die Wahlen im März 1990, Währungsunion und schließlich Wiedervereinigung. Das alles passiert. Aber Angela Städeke bleibt auf Abstand. Sie führt ein leises Leben. Sie muss durchhalten. Sie darf nicht anecken! Denn ihr Lebensgefährte ist gewalttätig gegen sie. Sie weiß, sie muss raus aus der Situation, sich und ihren kleinen Sohn retten. Aber wie? Sie schmiedet Fluchtpläne. Sammelt Mut. Sie hat kein eigenes Fahrzeug und keinen Führerschein, der damals noch Fahrerlaubnis heißt. Sie macht Fahrschule, heimlich. Sie plant den Ausbruch. Ihr Mauerfall – steht noch aus.

Die Gegend indessen wird umgegraben. Es geht an die Existenz. Und es stellt sich buchstäblich die Frage: Was wird mit unserem Land? Wird die Bodenreform rückgängig gemacht? Die Alten im Ort erinnern sich noch gut. Hier in Kyritz nämlich hat sie einst begonnen, zumindest propagandistisch. – Springen wir also kurz zurück auf Los und aus dem Jahr 1990 noch einmal 45 Jahre tiefer in die Vergangenheit.

Am 2. September 1945, es ist ein Sonntag, fahren gegen Mittag nach Kyritz Lkws herein. Darauf Bauern, Landarbeiter, Flüchtlinge aus dem Umland. Sie werden aus den Kreisen Ostprignitz und Ruppin herangekarrt, halten vorm Hotel „Zum Schwarzen Adler“. Dessen Tanzsaal ist schon lange ein Kino. Hier findet heute eine Veranstaltung statt, „die als Kreisbauernversammlung aufzuziehen ist“, wie eine interne Weisung anordnet.

Junkerland in Bauernhand

In Wahrheit ist die Zusammenkunft eine Veranstaltung der KPD. Was sie propagiert, ist die „Demokratische Bodenreform“. KPD-Vorsitzender Wilhelm Pieck, seit vier Monaten zurück aus dem Moskauer Exil, hält die Grundsatzrede und stellt sich der Diskussion. Seine Argumentation: Zu Unrecht gehören seit Jahrhunderten Äcker und Wald wenigen. Einstmals war es anders, und so soll es wieder werden. Alle sollen besitzen, was sie bestellen und hegen. Auch hätten zuletzt die Großgrundbesitzer schwere Schuld auf sich geladen durch ihre Mittäterschaft bei den Nazis. Daraus folgt: „Junkerland in Bauernhand“. Piecks Message an die Bauern lautet aber auch: Keine Angst! Es wird keine Kollektivierung, keine Kolchosen nach sowjetischem Vorbild geben.

Das ist damals die Generallinie, die Ansage aus Moskau. Stalin ahnt, dass die Westmächte Deutschland teilen wollen. Er versucht dagegenzuhalten. Die KPD-Heimkehrer, die im Gepäck seine Instruktionen haben, geben sich deshalb betont gesamtdeutsch, sprechen sich gegen eine Sowjetisierung Deutschlands aus. Auch die Bodenreform in der SBZ soll nur Startschuss und Vorbild sein für Bodenreformen in ganz Deutschland. Keine irre Idee! In ein paar Verfassungen westdeutscher Bundesländer wird das Ziel vier Jahre später noch eingeschrieben. Ohne freilich jemals realisiert zu werden. Doch im Osten werden aus Worten Taten, und das schnell. Eine Revolution auf dem Land findet statt. Eine angeordnete, befohlene. Am Ende der Diskussion in Kyritz zeigt Pieck, wie aus Versehen, bei wem die Macht liegt, als er den Bauern verspricht, sollte es irgendwo Schwierigkeiten mit der Umsetzung der Bodenreform geben, stünde die Rote Armee selbstverständlich bereit, um zu helfen. Es wird eine im Einzelfall auch ungerechte Revolution werden, die nun beginnt, und eine mitunter dilettantisch gemachte. Aber im Ganzen und am Ende gelingt sie. Sie hilft, Flüchtlingen und Vertriebenen Heimat zu geben. Sie verwurzelt die ostdeutschen Bauern tatsächlich in ihrem Land. Und bildet schließlich die Basis für die eben doch später kommende Kollektivierung – die aber nicht streng nach sowjetischem Vorbild läuft. LPGs in der DDR sind keine sowjetischen Kolchosen. Sie sind, nebenbei bemerkt, produktiver als jene.

45 Jahre später arbeiten 700.000 Menschen als LPG-Mitglieder. Es gibt genau 2.682 LPGs Tierproduktion, 1.162 LPGs Pflanzenproduktion und 199 Gartenbau-Genossenschaften. Ein Großteil des bestellten Landes ist, vor allem durch die Bodenreform, Privateigentum der Beschäftigten. Sie oder ihre Vorfahren haben es den bis 1960 geschaffenen LPGs zu einer „umfassenden und dauernden Nutzung“ überlassen, „freiwillig“ und kostenlos, als mit Tamtam und unter Druck ein „Sozialistischer Frühling auf dem Lande“ Einzug hielt. Die Einzelbauern wurden Genossenschaftler. Wieder zu ihrem Vorteil, wie sich bald herausstellte. – Aber ist es das jetzt noch? Ist das Land noch ihr Eigentum?

Erstaunlicherweise ja! In einer Zeit, wo alle sogenannten, aber auch alle echten Errungenschaften des Sozialismus als unnützer Ballast über Bord geworfen werden, wo es einem schwachen sowjetischen Parteichef Gorbatschow nicht gelingt oder nicht mehr sein Bedürfnis ist, Interessen gegen den Westen durchzusetzen, sich das Eigene womöglich teuer abkaufen zu lassen, sondern alles freigebig herschenkt (das russische Volk hasst ihn bis heute dafür) – in diesen Monaten passiert es, dass die Bodenreform auf dem Gebiet der DDR Bestand hat. Das unter sowjetischer Besatzung einst geschaffene Recht wird nicht angetastet!

Eine Angst ist also vom Tisch. Doch was wird aus den Genossenschaften? Die ja über die Jahre durch ihr Wirtschaften, durch die Arbeit ihrer Mitglieder, die Aufzucht von Tieren, den Kauf von Maschinen und Material, den Bau von Ställen, durch eigenen Wohnungs- und Straßenbau sich auch ein neues und tatsächlich genossenschaftliches Eigentum geschaffen haben? LPGs betreiben Kindergärten und -krippen, Arztzentren, Ferienlager, Erholungsheime, Kulturhäuser. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Es bestimmt das Leben in den Dörfern. Was wird damit? – Es sind die schlaflosen Nächte von Helga Scheibner.

Hört man die DDR-Wirtschaft beschrieben, wie sie an ihrem Ende dastand, fehlen nie die Worte marode und bankrott. Es werden Industrieanlagen als museumsreife Dreckschleudern in Erinnerung gerufen. Eine stinkende Pest. Eine Wirtschaft auf Pump. Ein Arbeiten auf Verschleiß. Das ist nicht falsch. In der Stärkefabrik zum Beispiel, wo Angela Städeke arbeitet, ist eine Anlage an die Hundert Jahre in Betrieb, ohne je modernisiert worden zu sein. Und ja, finanziell belastet sind viele LPGs durch hohe Kredite; nach der Währungsumstellung zum Kurs 2:1 liegen diese Altschulden bei insgesamt 7,6 Mrd. DM. Was in den Erzählungen aber immer ganz erstaunlich fehlt, sind die Menschen. Sie passen nicht in das Bild. Und sie stünden dem Satz im Weg, auf den alles hinausläuft und damals hinauslief: Das muss alles weg!

Doch genau darum geht’s. Während die Abschaffung der volkseigenen Betriebe Staatsauftrag ist und in den Händen der Treuhandanstalt liegt, sind die LPGs gefordert, sich selbst zu liquidieren oder neu zu erfinden. Dass es zu geschehen hat, ist alternativlos, seit die Regierung de Maizière – sie ist ab April 1990 im Amt – ein Gesetz erlassen hat, das es vorschreibt.

Angela Städeke

Foto: Privat

„Die vornehmste Aufgabe des bürgerlichen Staats ist es, die Interessen des Kapitals durchzusetzen“, stand in meinem Staatsbürgerkundelehrbuch. Ich hielt das immer für kommunistische Propaganda. Ich las da auch: Besitzverhältnisse sind Machtverhältnisse. Nun hat die frei gewählte ostdeutsche Regierung 1990 mit Mehrheit entschieden, den „Königsweg“ (O-Ton Helmut Kohl) zu beschreiten und das DDR-Volk hineinzugeben in den Geltungsbereich des bundesdeutschen Grundgesetzes, mit Haut und Haar und Eigentum. Ein wesentlicher Baustein der westlichen Freiheit ist die Unantastbarkeit des Eigentums. Das Volkseigentum gehört nicht dazu. – Die hässliche Wut manches Bürgers heute, kommt sie auch und ihm selbst womöglich nicht bewusst aus der Erfahrung, dass er damals bestohlen wurde?

Selbst gewählt oder nicht, da steht man. Neu in dem Alten. Guckt sich um. Und hat sich zu erfinden nach Regeln, die man nicht gemacht hat und noch kaum kennt. Übrigens, wieder unter Druck! Denn wird eine LPG nicht bis Ende 1991 durch Formwechsel oder Teilung in bürgerliches Eigentum überführt, also in eine eingetragene Genossenschaft, eine GbR, OHG, GmbH, GmbH & Co. KG oder Aktiengesellschaft umgewandelt, gilt sie ab 1. Januar 1992 von Gesetzes wegen als aufgelöst, als im Stadium der Abwicklung befindlich.

Was tut die LPG in Vehlow? Zunächst entledigt sie sich des aufgepfropften Namens. Tschüss, „Max Reimann“. Dann wird der Vorsitzende abgewählt. „Eigentlich ein guter Mann“, meint Helga Scheibner, „aber das war eben diese Zeit.“ Und dann beschließt man, sich nicht etwa „freiwillig“ aufzulösen, sondern, wie es im Land Brandenburg die meisten LPGs tun, umzuwandeln in eine eingetragene Genossenschaft (e. G.).

Geist der Liquidation

Als ab 1. Juli 1990 die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion gilt, macht Helga Scheibner sich auf den Weg. Sie ist im LPG-Vorstand und will und muss die Eigentümer überzeugen, ihr Land der Noch-LPG rechtskräftig zu verpachten, denn der sozialistische Deal ist nichtig. „Und wenn du das Land nicht hast, kannst du nicht wirtschaften!“ Sie fährt zum Grundbuchamt. Sie geht im Dorf von Haus zu Haus. Fast alle machen mit. Mit ihnen schließt Helga Scheibner Pachtverträge auf zwölf Jahre. 1.100 Hektar kommen so zusammen. „Nur drei wollten ihr Stück Acker zurück.“ Im Rechtssprech von damals heißen sie Wiedereinrichter. „Die einen betreiben heute noch Gartenbau. Haben Kartoffeln, Blumenkohl, Tomaten, Gurken, ein Gewächshaus und Hühner. Die machen das gut. Sind erfolgreich. Die anderen haben aufgegeben, und wir haben später noch ihr Land dazugekriegt.“ Auch durch die Treuhand kriegt die LPG Boden, der zu einem nun nicht mehr volkseigenen Gut gehörte, 350 Hektar.

Dass so wenige nur sich selbstständig machen in jenen Monaten, ist typisch. Ein westdeutscher Soziologe beklagt deshalb auch bitter, dass die Agrarindustrialisierung in der DDR dazu geführt habe, „dass die alten bäuerlichen Tugenden, wenn schon nicht verloren, so doch stark verschüttet waren“ und es kaum „wieder gelang, diese auszugraben“.

Nun denn. Als die Pachtverträge stehen, müssen im nächsten Schritt das in der Genossenschaft gebundene Vermögen, Schulden und stille Reserven bilanziert und den einzelnen Mitgliedern zugeordnet werden. Dann gilt es, Abfindungen festzusetzen für alle jene, die rauswollen. Denn wer diesen Weg wählt, kriegt nicht nur sein Land, sondern auch eingebrachtes Inventar zurück und wird ausgezahlt für etwa geleistete Mehrarbeit.

Das ganze Prozedere ist geregelt im Landwirtschaftsanpassungsgesetz (LwAnpG) von 1990, welches 1991 noch einmal revidiert wird, einem Normendickicht, für alle neu und historisch einmalig. Kaum dass man da durchsteigt! Es ist die Zeit der Berater. Wessis sagen den Ostlern, wie alles geht und zu laufen hat. Ihre Deutungshoheit erobert den Raum. Ein paar LPGs misslingt die Sache, ihre Umwandlung stellt sich im Nachhinein als unwirksam heraus. Außerdem verfügen die Genossenschaften über nicht genug Geld und können die Aussteiger nur schwer bezahlen. Weshalb es Stimmen gibt, die meinen, das LwAnpG sei ein vom „westlichen Geist der Liquidation dieser östlichen Landwirtschaft bestimmtes“ Machwerk.

Andererseits wird von LPGs selbst auch getrickst, nicht alles läuft rechtens, aber die meisten kommen damit durch. So wird etwa das Kapital gemindert, indem man zum Beispiel Rücklagen bildet für eine künftig anstehende Asbestsanierung. Beim Start ins bürgerliche Leben steht man nun besser da. Und es gibt weniger Abfindung für die Aussteiger. Da überlegt sich mancher, ob er nicht doch lieber bleibt. Und die künftig allein weiterwirtschaften, werden um ihnen zustehendes Geld gebracht, sie starten schlechter.

Zu all dem kommt, dass Landwirtschaft betrieben werden muss! Und auch diese, eigentliche Arbeit stellt sich anders dar. Eine völlig neue Preisbildung. Abnehmer gehen flöten. Die Kyritzer Molkerei zum Beispiel macht sehr schnell das Licht aus; der Kunde kauft lieber bayerische Müllermilch. Die Zeit der kurzen Transportwege ist vorbei. Ich sah schreckliche Aufnahmen, wo Ferkel, für die sich kein Käufer findet, vernichtet werden. Ich frage Frau Scheibner: „Mussten Sie auch Milch wegkippen oder Tiere notschlachten?“ „Nein, so was haben wir nicht gemacht! Wir haben etwas weniger gefüttert, die Tiere länger dabehalten. Und dann kriegten wir sie auch wieder verkauft.“

Die in der LPG Vehlow angestellten Schlosser, Elektriker, Maurer werden entlassen, Traktoristen mit 55 in Altersteilzeit geschickt. Die Maurer machen gemeinsam weiter als eigene kleine Firma. Die LPG laviert durch die Zeit. Keiner, übrigens, geht nach drüben.

Nicht zuletzt weil es Helga Scheibner gelang, fast alle Landbesitzer bei der Stange zu halten, ist es am 10. April 1991 so weit. Aus der LPG Vehlow wird die LEVAL e. G. Vorstandsvorsitzender wird ein Rückkehrer aus dem Westen. Helga Scheibner, weiter Buchhalterin, bildet mit zwei anderen den Aufsichtsrat. Noch im Lauf des ersten Jahres kommt sie dahinter, dass der Vorstandsvorsitzende die Firma betrügt. Sie trommelt den Aufsichtsrat zusammen. Der Vorsitzende wird abberufen. Was nun? Wie weiter? „Da haben die Männer gesagt, Helga, mach du das doch!“

Und sie macht es, gemeinsam mit einem Kollegen. Lässt den Kuhstall umbauen und ein neues Melkhaus errichten. Schafft die Schweinehaltung ab. Macht fünf Jahre Schule, weil sie sich sagt: „Für die Sache musst du Landwirt sein!“ Macht dann noch ihren Landwirtschaftsmeister. Bildet Lehrlinge aus. Kocht nach Feierabend für die Mähdrescherfahrer, die bis tief in die Nacht auf den Feldern sind. Verlängert die Pachtverträge mit den Bodeneigentümern. Das soll ihr erst mal jemand nachmachen! Sie verkauft schließlich 2010 den Betrieb einem Interessenten aus Niedersachsen, der zuvor schon andere Landwirtschaftsbetriebe im Osten Deutschlands erworben hat. „Da hab ich mich zuvor mit meinem Mann ins Auto gesetzt. Sind wir hingefahren zu den Standorten, hab ich mich umgehört. Funktioniert das? Der Eindruck war ordentlich.“

Helga Scheibner selbst arbeitet dann noch vier Jahre weiter in dem Betrieb, bevor sie aufhört. Die Firma am Standort Vehlow hat heute 14 Mitarbeiter, davon ist einer Auszubildender.

Angela Städeke gelingt Ende 1991 die Flucht. Ihr Chef in der Stärkefabrik hat einen Lkw organisiert und stellt ein paar Arbeiter frei. Eines Morgens – der gewalttätige Lebenspartner ist eben aus dem Haus – fahren die Fluchthelfer vor und laden die Habe ihrer Kollegin auf. Den Sohn hat sie bei sich. Sie hat ihn im Kindergarten schon abgemeldet. Und eine kleine eigene Wohnung gemietet, andernorts. Alles still, alles heimlich. „Und dann fing ich an, mir mein Leben neu zu organisieren. Überhaupt erst mal, mich wieder ans Leben ranzutasten. Ich musste lernen, Leuten, vor allem Männern, zu vertrauen.“

Und im Betrieb? „Die Frauen wurden generell weniger.“ Angela Städeke kriegt ihre Kündigung Ende ’92, denn im Januar ’93 wird ihr Sohn fünf. Sie wusste es ja! Sie kann noch drei Monate beim Wachschutz weitermachen. Da verdient sie gut. Bekommt deshalb auch ein gutes Arbeitslosengeld. „Im Arbeitsamt stand man zu der Zeit Schlange, die Flure lang, Treppe runter bis auf die Straße raus. Ich musste mir einen ganzen Tag nehmen, mich arbeitslos zu melden. Trotzdem. Ich empfand meine Entlassung als Befreiung.“

Angela Städeke hat ihr Auskommen. Die Eltern finanzieren ihr ein Auto. Der Bewerbungsdruck, den das Arbeitsamt damals ausübt, ist noch nicht so hoch wie heute; es gibt ja auch in der Gegend keine freien Stellen. „Nur der Westen, ehrlich gesagt, der hat mich überhaupt nicht angezogen. Ich hab mir meine Freiheit hier gegönnt.“ Freiheit. Da ist das Wort also doch.

Fortbildung, Café, Insolvenz

Anderthalb Jahre lebt sie von ALG 1, da ist sie noch nicht mal dreißig. Dann wird sie Platzhandwerkerin auf einem nah gelegenen Flugplatz, eine ABM-Maßnahme. „Mädchen für alles. Rasen mähen, sauber machen und die Zimmer herrichten für die, die da übernachteten.“ Der Flugplatz wird von Agrarfliegern genutzt und eine Waldbrandstaffel ist dort stationiert. „Herrlich, mit den Männern zu fliegen und über den Wäldern die Fuchsköder auszuwerfen. Toll!“ Nach fünf Jahren endet die ABM-Maßnahme.

Kein Job, den sie annimmt oder für sich selbst entwirft in den nächsten 15 Jahren, wird auf einem haltbaren Fundament stehen. Was nicht heißt, dass sie nicht jedes Mal neue Kraft, Liebe und Hoffnung investiert. Sie macht eine Raumausstatter-Ausbildung. Macht sich selbstständig. Bildet selbst Kücheneinrichter aus. Eröffnet ein Café in Neuruppin. Verkauft es, wird betrogen. Muss in die Privatinsolvenz. Lebt fast ein halbes Jahr mit ihrem Sohn von 308 Euro Kindergeld pro Monat, bis die Hartz-IV-Zahlung endlich anläuft.

2014 fängt sie im Kyritzer Historischen Heimatverein an. Sie hat da jetzt eine halbe Stelle. „Endlich. Ich hab mich immer wieder neu erfinden müssen. Mehrfach. Und dass du immer kämpfst! Um alles kämpfen musst. Ich hab das manchmal so satt! Ich fühl mich nicht wohl in dieser Gesellschaftsordnung. Wie wenn du ein Tier streichelst gegen die Fellrichtung. So fühlt sich das an.“

Vielleicht ist eine „völlige Anpassung der Lebensverhältnisse des Ostens an den Westen“ gar nicht, was alle wollen. Ich bin überzeugt, im Zerbrechen des vergesellschafteten Eigentums damals, seiner Vernichtung oder Übergabe in den Einzelbesitz, liegt handfest und greifbar einer der Gründe unserer Vereinsamung heute. Jeder ist Einzelkämpfer. Mancher fühlt sich atomisiert. Was wurde aus den Leuten, von denen Helga Scheibner sprach, „die nicht so gut mit Geld umgehen konnten“? Wo sind sie eingebunden? Werden sie noch gebraucht?

Das Kyritzer Hotel „Zum Schwarzen Adler“ ist kein Hotel mehr. Bis zur Unkenntlichkeit saniert, schweinchenrosa steht es in der Straße, fremd. Die Drogeriemarktkette Rossmann betreibt darin eine Filiale. Wie geht der Werbespruch der Konkurrentin dm? „Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein.“ Na dann! Fehlt es uns ja an nichts.

Karsten Laske, Jahrgang 1965, ist Regisseur und Drehbuchautor. Er lebt in Berlin

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