Einmal, Ende der neunziger Jahre, saß ich im Berliner Deutschen Theater und verfolgte eine Podiumsdiskussion. Es wurde die Frage diskutiert, ob wir Deutschen ausländerfeindlich seien. Christoph Hein sagte: „Wir sind nicht ausländerfeindlich, wir alle lieben Ausländer!“ Er sagte es einmal, er sagte es noch einmal, und er sagte es ein drittes Mal. Damit überschritt er deutlich spürbar den Rahmen der kulturvoll und bildungsbeflissen vor sich hin dümpelnden Debatte. Unruhe erfasste das Publikum. Erst dann setzte er fort: „Aber wir hassen die Armut!“
Und man könnte ergänzen: nicht nur wir Deutschen.
Ein Beispiel aus Polen, es liegt weit zurück. Noch 1940 gibt es in der Stadt Kielce im südöstlichen Polen ein Judenviertel, dann ein Getto. Es gibt auch einen katholischen Bischofspalast und ein Bernhardinerkloster. Im Januar 1945 wird Kielce von der Roten Armee eingenommen, der Krieg ist vorbei. Da leben keine Juden mehr dort. Sie sind geflohen, sie wurden verschleppt, vergast, erschossen.
Zweihundert, die den Holocaust überlebt haben, kehren in der Folgezeit zurück oder stranden zufällig im Ort. Man quartiert sie in ein dreistöckiges Eckhaus ein. Darin leben sie auf engem Raum, aber wenigstens nicht mehr in Lagern oder auf der Straße. Sie sind Displaced Persons, ohne Heim, ohne Habe. Aber sie werden von Hilfsorganisationen mit dem Nötigsten versorgt. Das ruft Neider auf den Plan. Am 4. Juli 1946 scheint ein Junge aus der Stadt verschwunden zu sein. Plötzlich feiert die alte Ritualmordlegende, die auch die Nazis propagierten, stürmische Auferstehung. Die Juden, heißt es wieder, fangen Christenkinder, um sie zu schlachten und ihr Blut einzubacken ins Pessachbrot. Dass die Juden im Juli nicht Pessach feiern, interessiert in der Aufregung keinen. Der soziale Querschnitt der Kielcer Bürger – Katholizismus im Kopf und Hunger im Bauch – formiert sich zu einem Mob, man sammelt sich vor dem „Judenhaus“. Es kommt zu ersten Angriffen. Und die polnische Polizei schützt nicht etwa die jüdischen Bewohner, sondern greift mit an. Zivilisten und Uniformierte stürmen gemeinsam das Gebäude, um nach den Kinderleichen zu suchen. Natürlich finden sie keine. Etwa 40 Juden werden getötet. Die übrigen fliehen. In der Folge fliehen Juden aus ganz Polen. Es ist ihnen allzu deutlich gezeigt worden: Ihr seid hier auch nach Krieg und Holocaust unerwünscht!
Unsichtbare Sinti und Roma
Viele Jahre später. Ein anderer Schauplatz, ein anderes Ereignis. Die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen im Spätsommer 1992. Die Molotowcocktails, die gegen den Neubaublock fliegen – jeder kennt die Bilder – scheinen auf die Vietnamesen zu zielen, die in dem Plattenbau leben. Doch in erster Linie wendet sich der Volkszorn gegen Sinti und Roma, die seit Wochen um das Haus herum campieren. Die sollen weg. Die vor allem und als Erste.
In der DDR gab es keine Sinti und Roma, und wenn doch, fielen sie nicht auf. Sie lebten unauffällig, domestiziert und gingen einer geregelten Arbeit nach. Ich hatte eine Freundin, deren Vater ein Sinto war. Gelegentlich traf er sich mit seinen Verwandten. Einmal war ich zu Besuch, die Männer saßen im Wohnzimmer bei Kaffee und Kuchen, die Tür war geschlossen. Sie sprachen „in ihrer Sprache“, wie die Tochter es nannte, sie verstand davon kein Wort und wollte es auch nicht. Sinti und Roma waren in der DDR unsichtbar.
Nur wenn der DDR-Bürger reiste, in die ČSSR, nach Ungarn oder Rumänien, begegnete er „Zigeunern“ – das war die allgemein übliche Bezeichnung. Sie waren arm, und man sah sie auf der Straße betteln. In der DDR gab es keinen, der bettelte. Sie boten auch an, aus der Hand zu lesen. Wenn man sich dem hingab, verursachte es ein kribbeliges Gruseln. Aber man war doch froh, dass diese Leute weit weg waren und weit weg blieben.
Wieder daheim hörte der Urlauber im Radio die westdeutsche Alexandra, sie sang mit ihrer schönen Kachelofenstimme: „Die Wagen so bunt, die Pferdchen so zottig …“ – das Lied vom Zigeunerjungen. Das erinnerte die Älteren an Zarah Leander, die ja auch so warmherzig von der Puszta geträllert hatte.
Dann kam die Wende. Da waren alle aus dem Häuschen. Es ging ums Eigentliche, um Sein oder Nichtsein. Die Zukunft war groß und offen, die DDR lag mitten in der Welt. Man konnte über alles reden. Die D-Mark kam. Dann die Nachwendezeit. Und die Ostler merkten schnell, wie alle Vorschläge, die sie machten – etwa das Schul- oder Gesundheitssystem betreffend –, mit einem Lächeln abgetan wurden. Und plötzlich war die Zukunft wieder weg. Der Alltag schloss sich eng über den Menschen. Was DDR gewesen war, wurde Provinz im eigenen Land.
Dabei hatte man sich doch so sehr bemüht. Man wollte schnell Anschluss finden, ganz dabei sein und alles richtig machen. Fix hatte der Ostler seinen Beutel aus Regenschirmstoff gegen Plastiktüten (die er manchmal aus Versehen noch Plastetüten nannte) eingetauscht. Mit den an seiner Tür erscheinenden Drückerkolonnen schloss er Abo-Verträge über Zeitschriften, die er nicht las. Er klebte an sein Auto freiwillig den Tchibo-Aufkleber Oh, frische Bohne – ich erinnere mich genau, dass es in Mecklenburg so gewesen ist, Tausende fuhren damit rum. Man studierte den Großen Konz, damit man bei seiner Steuererklärung alles richtig macht. Man unterwarf sich fremden Gepflogenheiten, änderte sein Sprechen. Man spürte zwar, dass diese neue Macht viel raffinierter agierte als die alte, aber das steigerte womöglich zunächst die Lust an der Unterwerfung. Doch dann reichte es. Eine Gewissheit machte sich breit: dass man nicht gemeint ist. Man wusste ja, dass es im Kapitalismus um die Geschäfte geht. Aber dass es tatsächlich nur um die Geschäfte geht, das war irgendwie enttäuschend.
Die Rostocker traf es besonders hart
Gerade Mecklenburg, zu DDR-Zeiten Urlaubsparadies, Landwirtschaftsregion und künstlich aufgepäppelter Industriestandort, verkam zur Provinz. Und die Rostocker traf es besonders hart. Schon 1991 hatte die Neptun-Werft den Schiffsneubau einstellen müssen, die Zukunft der Warnowwerft war 1992 völlig unklar. Von VEB Jugendmode und anderen Betrieben redete sowieso kein Mensch mehr. Schwerin war Landeshauptstadt geworden und nicht Rostock, weil die Abgeordneten lieber in einem schnörkeligen Schloss am See residierten. Und der Fußballklub Hansa Rostock landete in jener Spielzeit auf Platz 18 und stieg ab in die zweite Liga. Man sah sich abgehängt und zu einer Bedeutungslosigkeit verurteilt, die man nie für möglich gehalten hätte. Das macht wütend. Und nun kommen auch noch die „Zigeuner“, machen sich breit und wollen etwa mitessen?
Ich erinnere mich, gleich nach der Wende standen in den Läden meiner Heimatstadt Reisigbesen. Ich fragte, was das soll. Das schreckt die Zigeuner ab, das ist so ein Aberglaube bei denen! Mal dahingestellt, auf wessen Seite der Aberglaube herrschte – die Besen zeigten, wofür man die ungebetenen Kunden allesamt hielt: Für Diebe und Gauner, wie der Name ja schon sagt. Eine Mauer war gefallen. Jetzt hätte man sie gern ein Stück weiter östlich wieder aufgebaut.
Kurz vor den Anschlägen auf das Rostocker Ausländerwohnheim bin ich zufällig dort gewesen. Die hygienischen Zustände um das Haus herum waren untragbar. Man sah mit einem Blick, dass es so nicht weitergehen konnte. Aber die Politik war im Urlaub. Da zeigten die Bürger, dass sie noch da sind. Deklassiert, ohnmächtig – aber doch immerhin noch da. Und gewaltbereit. Die Diskussion um den Ausländerhass, die den Ereignissen folgte, eröffnete einen Nebenkriegsschauplatz, auf dem kaum gekämpft worden war. Er mag Katalysator gewesen sein. Er hatte dafür gesorgt, dass es richtig laut knallt. Und blieb im Übrigen, wie bei einer chemischen Reaktion, gänzlich unbeeindruckt von dem, was geschah.
Denn wir lieben Ausländer. Wir hassen nur ihre Armut.
Karsten Laske hat auf dieser Seite zuletzt an den Moskauer Theaterregisseur Konstantin Stanislawski erinnert
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