Das Klinikum Benjamin Franklin in Steglitz ist gar nicht echt, höre ich. Es sei eine in die Jahre gekommene Kopie irgendeines amerikanischen Wüstenkloppers, aus einer Zeit stammend, als uns die Amerikaner noch freigiebig Geschenke machten und wir bereit waren, sie begeistert anzunehmen. Eine ähnliche Sache wie die Amerika-Gedenkbibliothek also. Schönes altes West-Berlin. Der Komplex, sagt man, sei bestens ausgelegt, missourischen oder louisianischen Sandstürmen standzuhalten. Ob er auch gegen Überschwemmungen gefeit ist, weiß ich nicht. Das Steglitzer Haus jedenfalls wird nur von ein paar ADAC-Hubschraubern und Horden von Krähen angeflogen. Die einen knattern, die anderen krächzen. Das Haus sieht aus wie ein notgelandetes schrilles Retroprojekt eines bekifften Architektenduos. Deshalb geriet es wohl letztens auch auf den Einband einer Kolumnensammlung von Max Goldt. Es ist eben alles Ironie, oder?
Was Ende der sechziger Jahre als schick galt, blättert. Die Beton-Wirbelsäulenornamente, die die Fassade umkleiden, haben Skoliose bekommen. Die Stationen siechen vor sich hin. Mühsam werden sie renoviert, aber das dauert. Seit irgendeiner von tausend Reformen gehört das Klinikum zum "Campus Charité", was sehr vornehm klingt und dem Hause zur Ehre gereichen mag. Für die Medizinstudenten bedeutet es weite Fahrten durch die ganze Stadt, und von der Kaputtspar-Hysterie im Land ist die Klinik nun - mitgefangen, mitgehangen - selbstverständlich auch betroffen. Man mag die "Sparzwänge" als ökonomisch unumgänglich begreifen, so lange man nicht einen Kranken kennt, der in dem Haus auf Heilung hofft.
Nehmen wir die Hämatologie. Dort gibt es enge Dreibettzimmer, zu zwei Zimmern gehört jeweils eine Toilette auf dem Flur. Ein Patientenbad gibt es zwar, eins für die ganze Station, aber es ähnelt eher einer Rumpelkammer, und in der Duschkabine mit dem versifften Vorhang wird das Wasser nie richtig warm. So also die Zustände in einer Abteilung, in der - wegen der Chemotherapien, die hier durchgeführt werden - viele immungeschwächte Patienten liegen. Ganz folgerichtig kämpfen die Schwestern und Ärzte regelmäßig mit hauseigenen, Antibiotika-resistenten Keimen. In wenigen Jahren wird man diesen Kampf wohl aufgeben, dann werden sie alle, Schwestern, Pfleger, Ärzte und Patienten, so gründlich durchseucht sein, dass man diese Keime einfach akzeptieren muss. Noch gibt sich jedoch keiner geschlagen, alle tragen Mundschutz, Gummihandschuhe und grüne Kittel und desinfizieren sich und jeden - fast möchte man sagen: bis der Arzt kommt. Blumen und Kinder sind auf der Station verboten. Ein normaler Krankenbesuch natürlich nicht. Diese Besuche spenden Trost und helfen heilen. Auch die Sonntagnachmittagsbesuche, selbst wenn die Zimmer dann vor Menschen überquellen, Trauben sammeln sich um jedes Bett.
Besuch hat zum Beispiel Herr Hinze.
Herr Hinze ist ein kleiner egomanischer Herrscher, früher stets mopsfidel, der gern mit Krakeel regierte - aber sein Reich schwindet. Seine Kräfte verlassen ihn, und Verzweiflung bemächtigt sich seiner. Wie ein schrumpfender Käfer liegt er in seinem Bett auf dem Rücken. Dass ihm die Augen versagen, trifft ihn am meisten. Die Lider heben sich nicht mehr, doch auch wenn man sie ihm hochklebt, scheint er kaum noch etwas zu erkennen. Der Krebs hat den Sehnerv befallen.
Noch vor einer Woche regierte er geschwätzig über Bett und Tisch und "Ente", sein kleines Reich, das er fest im Griff hatte. Er prustete und pustete, er stöhnte auf unnachahmliche Weise optimistisch, indem er einem abfallenden "aahhh-" ein aufschwingendes "-ha" anhängte. So machte er sich Mut. Er pflegte Routinen. Früh das Radio, um die Nachrichten zu hören, da wusste er gleich, wo es einen Stau gab in Berlin. Es folgte, in ungeduldiger Erwartung des Frühstücks, eine Katzenwäsche, und gleich schon die Frage: was wird´s zu Mittag geben? Am Nachmittag kommt seine Frau zu Besuch, die Auto fährt, ihm frische Wäsche bringt, am Abend Herrn Hinzes Freundin. Herr Hinze managte es stets so, dass sich Frau und Geliebte nie begegneten, selbst jetzt noch, im Krankenhaus. Ein Filou.
Er kommentierte alles, was er tat und unterhielt sich angeregt mit den Joghurts und Puddings in seinem Beistellschränkchen. Nachts manchmal überkam ihn der Appetit und er genehmigte sich einen Pudding außer der Reihe. Jetzt musste er die Becher alle wegwerfen, denn er kommt auch mit sonst keinem Essen mehr zurecht. Er wird über einen Tropf ernährt. Was er isst, kotzt er aus. Das Stehaufmännchen trudelt aus.
Um sein Bett sitzt die Familie, die Geliebte bleibt außen vor. Man ist ratlos, aber Berliner Schnauze gestattet sich kein Sentiment. "Ja dann, Vadder", sagt der Sohn. Und die Tochter: "Ja dann." "Tja", sagt die Frau. Und dann schweigt man wieder.
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