Mit Graffiti gegen die Langeweile

Jugendkultur In Weimar mussten 1983 vier Punks wegen Spray-Aktionen ins ­Gefängnis. Ein Gespräch über Ausbrecherversuche im Inneren der DDR

Eines Morgens im Oktober 1983 prangten an einigen grauen Hauswänden im beschaulichen Klassikerstädtchen Weimar Graffiti-Sprüche. „Wehr Dich“, „Schlagt zurück“, „Alle Macht der Phantasie“ stand da plötzlich. Das Erschrecken der Staatsorgane war groß. Kein Mensch hätte damals auch nur ein Glas Bier darauf verwettet, dass genau sechs Jahre später alle Dämme brechen und kurz darauf die DDR am Ende sein würde. Damals wollten ein paar Thüringer Jugendliche anders sein. Sie hatten Bock auf „fetzige“ Partys, Punk, Leben in Wohngemeinschaften, auf ein unangepasstes Erwachsenwerden jenseits von Freier Deutscher Jugend und Gesellschaft für Sport und Technik. Es war der Versuch, dem vorgeprägten Leben einen eigenen Entwurf entgegenzusetzen, Irrtümer inklusive.

Vier dieser Punks haben ihre Erinnerungen nun in Form von Kurzgeschichten aufgeschrieben, jeder aus seiner Sicht: ihre Jugend in Weimar, ihre Haft im Erfurter Stasi-Knast, die Zeit danach. Ihr soeben erschienenes Buch heißt nach einem der Sprüche, die sie damals an die Wände sprayten: Macht aus dem Staat Gurkensalat.


Der Freitag: Die Geschichten, die Sie erlebt haben, spielen im beschaulichen Weimar. Gegen was konnte man denn dort mit solchen Sprüchen protestieren?

Holm Kirsten:

Weimar war damals für mich die langweiligste Stadt der Welt. Da wurden um sieben die Bürgersteige hochgeklappt, dann passierte gar nichts mehr. Natürlich gab es tagsüber die Touristen, das hat die Stadt bunter gemacht. Da waren auch Jugendgruppen aus den Niederlanden oder aus westdeutschen Städten, zu denen man mal Kontakt hatte. Aber alles, was wir unternehmen wollten, mussten wir uns selbst erarbeiten. Von den beiden Weimarer Hochschulen zum Beispiel, da gingen überhaupt keine Impulse aus, die waren völlig uninteressant für uns. Und von unseren Lehrern wurden wir verdonnert, ins Schillerhaus zu gehen, und wir sind regelmäßig auf den Ettersberg getrieben worden, zur KZ-Gedenkstätte Buchenwald.

Thomas Onißeit:

Zu allen Staatsfeiertagen wurden an der Schule Fahnen verteilt, und dann ging es hoch nach Buchenwald. Da stand man dann drei Stunden rum. Was uns immer wieder erzählt wurde, war, dass Ernst Thälmann dort erschossen wurde, das war das Wichtigste gewesen. Dann wurde noch zum „Platz der 76.000“ marschiert, und dann konnten wir endlich wieder nach Hause. Wir haben mitgemacht, weil wir mussten. Es gab keine ehrliche Auseinandersetzung, zumindest keine offene. Und meine Eltern, ja, die haben versucht, mich so zu erziehen, dass alles normal läuft, dass ich nirgendwo anecke. Meine Mutter war Lehrerin. Abends lief bei uns die Aktuelle Kamera und die Tagesschau. Das war der Zwiespalt, in dem sie steckte und den wir Kinder natürlich auch mitbekommen haben.

Jörn Luther:

War bei mir ähnlich. Weimar ist ja vor allem klein­bürgerlich. Und dort hinein waren wir nun zufällig geboren. Das war es dann auch, wogegen wir irgendwann rebellierten. Meine Mutter war Zahnärztin, sie war darauf bedacht, im Staat zurechtzukommen. Mein Vater spielte keine Rolle, er war vollkommen anpasslerisch. Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich 13 war. Als ich in Haft kam, waren sie schon getrennt. Da schob mein Vater jegliche Verantwortung von sich und ließ mich im Regen stehen.

Ulrich Jadke:

Meine Eltern waren Orthopädie-Handwerker. Sie haben versucht, sich anzupassen, aber ihr Status als private Handwerker hat ihnen oft das Leben schwer gemacht. Zum Beispiel als mein Vater Jäger werden wollte. Als Jäger war man in der DDR ja „Waffenträger“. Also hat mein Vater lange überlegt, wie er diesen Status bekommt, bis er auf die Idee kam, in die Liberaldemokratische Partei einzutreten. Das hat auch funktioniert, er durfte seine Jagdprüfung ablegen und war nun Waffenträger. Als dann klar wurde, dass sich sein Sohn nicht ganz systemkonform verhält, hat man ihm nahegelegt, dass er auf mich einwirken solle, sonst würde er seine Waffenerlaubnis wieder los. Aber ich wollte mich natürlich nicht von meinem Freundeskreis trennen. Das hat damals das Verhältnis zu meinem Vater sehr belastet.

Kirsten:

Ich kann mich noch an größere Runden erinnern, die meine Eltern zu Gast hatten, in denen ich mit dabeisaß. Mein Vater ist Lektor im Aufbau-Verlag gewesen und hatte durch seinen Beruf viele Kontakte ins sozialistische und nicht-sozialistische Ausland. Meist waren die Gespräche für uns Kinder langweilig, aber manchmal glühten uns die Ohren. Unsere Eltern haben sich immer sehr freizügig geäußert. Immer natürlich mit der Hoffnung, dass wir das nicht am nächsten Tag ausplappern, ich kann mich an die Ermahnungen noch erinnern: Das erzählt ihr aber nicht in der Schule! Und das hat dann auch so funktioniert.

Jadke:

Weimar hatte auch seine Vorteile! Es war eine Kleinstadt, und wer aneinander interessiert war, ist sich früher oder später über den Weg gelaufen. Es gab eine kleine, überschaubare Punk-Szene. Man war wie eine Familie, die ihre Abenteuer miteinander erlebt hat. Die Tristesse, das Grau und der Verfall, den man heute auf Fotos aus dieser Zeit sieht, das fiel einem nicht weiter auf, das war anderswo genauso.


Es war Ihnen zu eng, zu spießig. Das ging anderen auch so. Wie kam es, dass Sie Punks wurden?

Kirsten:

In der 8. Klasse geriet ich eher zufällig in eine kleine Methodistengemeinde. Da stellte der Pfarrer, der eine Junge Gemeinde aufbauen wollte, einen Aschenbecher auf den Tisch und sagte: ,Jetzt rauch’ mer erst ma eine‘. Das war mir natürlich zutiefst sympathisch. Da wurde frei diskutiert. Wir sind dann auch manchmal nach Erfurt oder Jena gefahren, wo „Offene Arbeit“ stattfand. Dort hat der Pfarrer einen Kasten Bier hingestellt, mitunter standen sogar Schnapsflaschen da, das war schon schräg. Kirche war für mich ein Anlaufpunkt, Gleichgesinnte zu treffen. Und Mädchen natürlich. Das hat immer eine große Rolle gespielt.

Luther:

Ich kam auch zunächst zu der Methodistengemeinde, also zu der Jungen Gemeinde dort. Das war zum ersten Mal eine Erfahrung von Freiheit, die es in der Öffentlichkeit sonst nicht gab. Trotzdem hat uns das irgendwann nicht mehr gereicht. Also ging es weiter: „Offene Arbeit“, Montagskreis…

Jadke:

Es gab in Jena, Erfurt, Weimar sehr engagierte Jugend­diakone und Pfarrer, und dadurch gab es große Freiräume. Natürlich hatten sie auch ein ureigenes Interesse, uns zu missionieren. Aber davor, dazwischen und danach gab es immer Möglichkeiten.

Luther:

Es sammelten sich da Leute, die das auch weiter ausreizen wollten. Wir haben den Pfarrer eben teilweise einfach überrollt. Da blieb ihm gar nichts anderes übrig, als sich zu fügen.

Kirsten:

Wenn die Leute es nicht angenommen haben, half es ihm auch nichts, Gesangsblättchen auf dem Tisch auszulegen. Er konnte uns ja schlecht rausschmeißen.

Jadke:

Dennoch, die Kirche hat ein Angebot formuliert, das es anderswo einfach nicht gab. Deshalb sind wir dorthin. Wenn ich denke, dass in Erfurt schon 1981 ein Punkkonzert stattfand, das wäre in einem FDJ-Jugendclub einfach nicht denkbar gewesen. Aber das hing eben immer vom Mut des einzelnen Pfarrers ab. Die Kirche insgesamt, die steckte ja auch im Zwiespalt, die musste sich auch anpassen.

Onißeit:

Die Kirchenführung war sehr eng mit dem Staat verwoben. Das hat dazu geführt, dass Freiräume erst geschaffen und manchmal auch schnell wieder geschlossen wurden – auch nach Aktionen von uns. Ich denke zum Beispiel an eine Aufführung, wo wir was Dadaistisches ausprobiert haben, so ein relativ sinnfreies Happening. Es gab eine Aufführung und Schluss.

Kirsten:

Es gab in Weimar einen Superintendenten, der hatte die Hosen immer gestrichen voll. Wenn der mitbekam, dass es Alleingänge von Jugenddiakonen gab, wurden Dinge radikal ab­gewürgt. Und wir waren natürlich enttäuscht, wenn so eine Sache nach nur einer Veranstaltung schon wieder vorbei war.


Anfang Oktober 1983 sind Sie dann losgezogen, es gab Nacht­aktionen in leicht wechselnder Besetzung. Sie haben ver­schiedene Sprüche an Häuser gesprüht. Auch albernes Zeug: Fuck Vor Peace oder Pitti lebt.

Onißeit:

Wir waren der jüngere Jahrgang im Montagskreis und fingen an, uns zu langweilen. Wir dachten über Aktionen nach, die nur uns betrafen, mit denen wir uns von dem Montagskreis abgrenzen konnten. Wir hörten Punk und gingen zu diesen Konzerten, wenn es mal eins gab. Wir überlegten also. Und da geriet uns dieses Buch in die Hände: Zürich, Anfang September von Reto Hänny. Darin geht es um Jugendunruhen in der Schweiz. Es war im Osten erschienen, die meinten wohl: Das hat nichts mit der DDR zu tun. Dass sie damit auch was lostreten, damit hatten die nicht gerechnet. Aber als wir das Buch lasen, fanden wir es einfach nur geil! Die Sprüche, die darin standen, gingen politisch nicht nur in eine Richtung, also nicht nur „Frieden schaffen ohne Waffen“, sondern das waren Anarchosprüche, die eben auch lustig sind.

Kirsten:

Es ging ja um Autonomie. Alternative Lebensformen, Häuser besetzen. Da haben wir drauf geschielt. Alles, was es bei uns nicht gab, war erst mal spannend.

Jadke:

Und diese Jugendbewegung, zu der wir uns zugehörig fühlten, wurde auch beschrieben. In dem Buch tauchten Graffiti auf, das kannten wir vorher nicht. Es fanden sich Bilder darin, wie der Sprayer-Künstler Harald Naegeli durch Zürich zog und seine Strichmännchen an die Wände sprühte. Da dachten wir: Das können wir auch!


„Macht aus dem Staat Gurkensalat“ ist nun der Titel Ihres Buchs.

Kirsten:

Auf den sind die Leute am meisten angesprungen. Der kommt ja von den 68ern und war auch in Zürich schon Zitat. Er hat aber immer noch gut provoziert. Auch die Stasi. Wobei die damit dann auch wieder nichts anzufangen wusste. Dabei – das muss man auch klar sagen – sind wir damals nicht losgezogen, um Aufruhr zu verbreiten und den Staat von unten auszuhöhlen. Im Vordergrund stand die spontane Idee…

Luther:

…eine eigene, autonome Sache zu machen.

Onißeit:

Und einem schon länger aufgestauten Unmut endlich mal Luft zu machen.

Kirsten:

Wir hätten auch andere Formen wählen können. Aber das mit den Sprüchen fanden wir in dem Moment am spannendsten. Wobei die Hausfassaden, die wir vorfanden, nie schneeweiß waren. Leider.

Jadke:

Orange war die einzige Farbe, die wir damals in Sprüh­dosen bekamen. Wir hätten gern Schwarz genommen oder Weiß, das hätte besser ausgesehen an den grauen Wänden. Aber es gab nur Orange. Und das war ziemlich blass.


Die Sprüche verschwanden ja auch immer wieder ganz schnell.

Kirsten:

Die waren teilweise am nächsten Morgen schon beseitigt. Das hat uns geärgert. Und da dachten wir: Na gut, wir haben auch einen langen Atem. Das können wir erneuern.

Onißeit:

Das dann wirklich un­mittelbar vor dem Nationalfeiertag noch mal zu machen, noch mal loszuziehen, das war eine bewusste Entscheidung. Das war unser Kommentar zum 7. Oktober.

Kirsten:

Und das war ein Punkt, in dem wir auch sehr naiv waren. Wir wussten, nach der ersten Aktion war eine Maschinerie angerollt. Wir ahnten noch nicht, welches Ausmaß die annehmen würde, aber wir wussten bereits, dass sie auf der Suche nach den Urhebern waren. Das hätte uns eigentlich Grund zur Besorgnis geben müssen, wir hätten uns vielleicht sagen sollen, bis hierhin und nicht weiter. Aber, na ja, uns juckte das Fell.


Polizei und Stasi haben mit viel Aufwand reagiert. Im Februar 1984 kam es zum Prozess. Sie wurden verurteilt. Ihre Mit­streiterin Grit Ferber und Sie, Herr Onißeit, zu sechs Monaten Gefängnis. Holm Kirsten und Ulrich Jadke zu fünf Monaten. Herr Luther, Sie bekamen nach zwei Monaten Untersuchungshaft ein Jahr Bewährung. In der Situation kam der Verdacht auf, einer von Ihnen könnte mit der Stasi einen Deal gemacht haben.

Jadke:

Das unterschiedliche Strafmaß hat uns stutzig gemacht. Uns hat zu denken gegeben, dass Jörn mit einer relativ geringen Strafe davongekommen ist, obwohl er einer der Hauptakteure war. Es gab Gerüchte: Der hat was verraten, der könnte „dabei“ sein. Kurz nach der Haftentlassung war ich offen für solche Gerüchte. Es gab zwar nie einen ernsthaften Verdacht…

Luther:

...aber Misstrauen.

Jadke:

Ja, wir waren befreundet, haben was zusammen unternommen. Aber wir blieben misstrauisch. Ein halbes Jahr vielleicht. Dann hatte sich das erübrigt. Aber bei der Arbeit an dem Buch, in dem Jörn auch formuliert hat, wie er sich damals fühlte, ist das alles wieder hochgekommen. Da gab es auch bei mir noch mal eine Auseinandersetzung mit dem Thema. Dass Jörn unser Verdacht damals so schwer getroffen hat, das war uns nicht bewusst.

Luther:

Aber das konntet Ihr Euch doch denken!

Kirsten:

Das Strafmaß und schon die Spielchen in den Verhören, das waren natürlich Zersetzungsmaßnahmen der Stasi. Das weiß man heute, das wussten wir damals so genau nicht. Die Haft selbst, die sollte uns natürlich auch kaputt machen, und sie hat auch jeden von uns auf die eine oder andere Art beschädigt. Aber auch wenn Jörn das bis heute anders sieht, ich kann mich nicht erinnern, ihn in der Zeit nach der Haft geschnitten zu haben.

Luther:

In meiner Geschichte steht gar nichts zu dir drin, Holm. Sondern zu Uli. So war meine Wahrnehmung. Ich bemerkte: Da läuft was komisch. Da war so ein Lavieren. Uli sprach mir gegenüber nie etwas konkret aus. Und ich selbst habe ihn später auch nicht darauf angesprochen. Aber es stand im Raum. Ich bin dann bald nach ­Berlin gezogen. Das hatte auch damit zu tun. Nicht, dass ich aus Weimar geflohen bin … Mit der Zeit hat sich das dann tatsächlich verflüchtigt.

Jadke:

Direkt nach der Haft gab es Situationen, in denen wir Jörn bewusst Informationen vorenthalten haben, weil wir ihm nicht über den Weg trauten. Ja, das war so. Womit wir allerdings wirklich Glück hatten: dass wir zurück in die DDR entlassen wurden. Dass sie uns nicht im Westen irgendwo verteilt haben. Die Gruppe war nach der Haft immer noch existent. In der DDR, in Weimar, in einer kleinen Stadt. Man hat sich getroffen und an neuen Ideen gearbeitet.

Kirsten:

Es ist zum Glück nicht gelungen, einen Keil in die Gruppe zu treiben, der sie gesprengt hätte. Als ich 1994 meine Akten einsah, war das für mich noch mal eine spannende Geschichte. Ich erinnere mich, dass ich einen Abend, bevor ich in die Stasi-Unterlagenbehörde ging, Jörn zufällig in einer Kneipe in Weimar traf. Er sagte: Warum willst du das machen, warum interessiert dich das? Und da blitzte bei mir plötzlich der Gedanke auf: Warum sagt der das jetzt? Ich hatte diesen Verdacht von damals schon längst verdrängt. Am nächsten Tag bin ich mit sehr gemischten Gefühlen in die Behörde gegangen.


Aber die Aktenlage ist ein­- deutig. Keiner aus der Gruppe hat jemanden verraten.

Kirsten:

Der Verdacht hat sich schon bei meinem ersten Termin in der Gauck-Behörde zerstreut.


Hat die Akteneinsicht Ihnen allen neue Einsichten gebracht?

Jadke:

Ich hab immer noch ein sehr düsteres Gefühl, wenn ich meine Aussagen während der Verhöre lese. Da wird mir mulmig. Wahrscheinlich habe ich das zum Teil anders gesagt, aber so wurde es zu Papier gebracht…

Kirsten:

Da wurde umformuliert! Verschärft oder entschärft – je nachdem, wie sie es brauchten. Man hatte nach einer langen Sitzung seinen Wilhelm darunter zu setzen. Das haben wir in aller Regel auch gemacht. Bei mir gab es ganz selten den Fall, dass ich darauf bestand: Das hab ich so nicht gesagt. Dann musste ich mit meinem Gegenüber feilschen. Der war natürlich stinksauer, weil er das ganze Blatt noch mal abschreiben musste. Wenn man die Akten liest, hat man plötzlich diesen Typen wieder vor sich, die Schreibmaschine. Es quält einen, sich das ganze Zeug anzugucken. Das sind ja riesige Mengen! Ich habe mich in den Lesesaal gesetzt, dann fuhren die mit so einem Wagen vor, ich frage: Welche Akte darf ich mir nehmen? Und die Frau sagt: Der ganze Wagen bleibt bei Ihnen stehen.


2003, 20 Jahre nach der Inhaftierung, haben Sie sich getroffen und die Stasi-Gedenkstätte in Hohenschönhausen besichtigt – und danach in einer Kreuzberger Kneipe beschlossen, Ihre Geschichte aufzuschreiben.

Onißeit:

Also, ich war all die Jahre nie ein Freund solcher Erinnerungen. Aber Holm und Ulrich haben mich gedrängt. Und bei der Arbeit wurde mir bewusst, dass die Haftzeit für mich 20 Jahre lang nie ein Thema gewesen war. Während des Schreibens, während des Erinnerns hab ich gemerkt, dass sie aber doch ein Thema ist. Bis dahin hab ich mir immer gesagt: Ja klar, Knast, dann Ausreise. In West- Berlin hab ich mich nicht um Haft­entschädigung gekümmert. Um die Rehabilitation später schon, aber damit war das Thema für mich erledigt. Ich wollte damit nichts mehr zu tun haben. Nun musste ich zurückgehen, richtig tief da reingehen, um die Sachen überhaupt beschreiben zu können.


Und wie war Ihr Gefühl dabei? Schmerzlich, befreiend, notwendig?

Onißeit:

Von jedem etwas. Auch schmerzlich natürlich. Ich habe immer noch olfaktorische Erinnerungen an die Haft. Bestimmte Gerüche, wenn die mir in die Nase kommen – billiges Deo, Nierchen –, dann sind plötzlich Sachen aus der Haft wieder präsent. Nicht, dass das besonders schmerzlich wäre. Aber es ist so. Das ist einfach da.

Kirsten:

Bei Pappeln zum Beispiel. Wir hatten kleine Freihöfe, und in der Nähe gab es Pappeln. Wenn ich Pappeln rieche, bin ich sofort wieder auf dem Freihof unterwegs.

Onißeit:

Und wenn heute die Frage diskutiert wird, ob die DDR ein Unrechtsstaat war, ist es mir auch persönlich wichtig, unsere Geschichte zu erzählen. Gar nicht großartig aus der Opferperspektive, sondern einfach, um zu zeigen: So war es.

Luther:

Ich hab sehr verhalten reagiert, als Uli und Holm mit der Idee ankamen, unsere Geschichten niederzuschreiben. Ich hab abgewartet und überlegt: Was würde mich daran interessieren? Und bin draufgekommen, dass es das ist, worüber wir eben damals nicht gesprochen haben und worüber wir die ganze Zeit nicht gesprochen haben. Das mal in Worte zu fassen. Mich haben Geschichten weniger interessiert, die darauf hinauslaufen, dass man sich gegenseitig auf die Schultern klopft. Und ich hab dann eine Geschichte beigetragen. Es hat lange gedauert, bis ich die fertig hatte.


Welche ist das?

Luther:

Die Geschichte, in der ich meine Zeit unmittelbar nach der Entlassung beschreibe. Der Stasi-Verdacht.

Onißeit:

Als Jörn seine Geschichte abgeliefert hat, da haben wir alle aufgehorcht. Weil es eine sehr ­mutige und ehrliche und offene Herangehensweise war. Er hat die Hosen runtergelassen, aber richtig. Da haben wir gemerkt, das ist die einzige Möglichkeit. Wir müssen authentisch erzählen. Bei der Geschichte bleiben, bei den Gefühlen bleiben, bei der Situation bleiben.


Als das Manuskript bereits beendet war, haben Sie 2010 noch Stasi-Unterlagen gefunden, aus denen hervorgeht, dass Sie ein junger Mann namens Jürgen, der in einigen Geschichten auftaucht, verraten hat. Hätten Sie ihm, wenn das eher bekannt gewesen wäre, eine andere Rolle in den Geschichten zugewiesen?

Onißeit:

Das wäre gar nicht vermeidbar gewesen. Wenn wir das früher gewusst hätten, wäre ­unsere Sicht in einigen Geschichten sicher anders ausgefallen. Denn der Verräter kam nun nicht aus der Gruppe, aber ganz aus unserer Nähe. Es ist nämlich mein Bruder. Aus welchen Motiven auch immer – er will sich dazu bis heute nicht offen äußern – hat er die ganze Szene verraten. Sein Führungsoffizier, Stasi-Leutnant Reinecke, hat ihn als IM geführt, es gab regelmäßige Treffen im Abstand von zwei, drei Wochen. Da hat Jürgen die Szene namentlich benannt, er hat also wirklich ein „Who is who“ der Weimarer Szene erstellt. Seit 1981 hat er mit Unterbrechungen bis zu seiner Ausreise berichtet. Es gab immer wieder Deals, auch nach seiner Haftzeit. Er hat Geld angenommen. Als es um unsere Sprayerei ging, hat er Holm, Ulrich und Grit genannt. Mich nicht namentlich, aus Rücksicht auf unsere Familie. Aber das war für die Stasi dann auch kein großes Problem. Ich wurde am gleichen Tag wie die anderen verhaftet.

Kirsten:

Trotzdem, er wäre in dem Buch nicht präsenter gewesen. ­Innerhalb unserer Gruppe hat er genau die beschriebene Rolle ­gespielt, es gab immer wieder mal Berührungspunkte, wir sind bei ihm zu einer Party gewesen, er war die erste Anlaufadresse für Uli, nachdem der im Westen ankam …

Jadke:

Es hätte nichts umgeschrieben werden müssen. Es wäre etwas dazugekommen. Nämlich zum Thema Verrat.

Onißeit:

Definitiv. Und das Thema ist für mich persönlich natürlich noch längst nicht abgeschlossen.


Macht aus dem Staat Gurkensalat Ulrich Jadke, Holm Kirsten, Jörn Luther, Thomas Onißeit, Hrsg. von Rüdiger Haufe, Wjs Verlag, 320 Seiten, 19,95

Jörn Luther
, 1966 in Weimar geboren. Nach zweimonatiger Haft 1983 zieht er nach Ost-Berlin, zwei Jahre später kehrt er zurück. 1992 macht er sein Abitur, studiert danach Germanistik und Philosophie in Halle/Saale. Seit 1995 lebt er wieder in Berlin.

Ulrich Jadke, 1966 in Weimar geboren, 1982 Ausschluss von der Oberschule wegen negativ-dekadenten Verhaltens. Er lässt sich zum Installateur ausbilden, 1988 reist er nach West-Berlin aus. Heute ist er Geschäftsführer eines Unternehmens für Solartechnik.

Thomas Onißeit, 1965 in Sachsenhausen bei Weimar geboren, sechs Monate Stasi-Haft, 1985 Ausreise nach West-Berlin. Dort arbeitet er unter anderem als Steinbildhauer. Seit 2004 lebt er in Dresden, ist freischaffender Grafik-Designer.

Holm Kirsten, 1965 in Freiberg/Sachsen geboren, wächst in Weimer auf, absolviert eine Lehre als Schriftsetzer. Später produziert er Filme und macht Musik. 1993 Abitur, danach Studium in Jena, unter anderem der neueren Geschichte. Heute arbeitet er in der Gedenkstätte Buchenwald.

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