Volker Braun hat sich seine Verse nicht und nicht das dialektische Denken ausreden lassen. Sprache in Form. Denken in Widersprüchen. Damals nicht in der DDR. Heute nicht. Ein Denken und Sprechen, das mit dem Benennen der wirklichen Zustände anfängt, was deren Kenntnis voraussetzt und das Standing, sie auszuhalten. Aber damit nicht schließt, und schon gar keinen faulen Frieden. Sondern sie in Bewegung setzen will, diese Widersprüche, tatsächlich, endlich, hoffentlich, einer Schärfung oder Lösung zu. „Es genügt nicht die einfache Wahrheit.“
So hieß ein Reclam-Bändchen mit Notaten und Gedichten, das 1975 erschien. Nach erheblichem Hickhack, und das hatte mit ebendem Denken, ebendieser Rede zu tun. Der Autor wagte den Widerspruch. Dabei: „In keiner der vorliegenden Arbeiten geht es Volker Braun um die Negation sozialistischer Gegenwart. Seine Zweifel, seine Polemik, sein ‚Wie es ist, bleibt es nicht‘ sind marxistischen Ursprungs.“ Hohen Ton schlugen Verleger an, wenn es galt, ein Buch durch die Druckgenehmigungsverfahren genannten Zensurvorgänge zu lotsen. Wildwasserkajak. Manch Herrschende meinten eben, manche meinen es heute noch, von Dichterworten stürzten Mauern ein. Deshalb muss man Geduld haben. Steter Tropfen und so weiter. Geduld gehört zur Begabung Brauns, unbedingt. Muss. Denn von dem, was er in der DDR zu Papier bringt, kommt nichts je vom Schreibtisch rasch an sein Publikum.
Die Unvollendete Geschichte etwa. In Sinn + Form darf sie 1975 erscheinen. Als Buch nicht. Die Uraufführung des Theaterstücks Guevara oder der Sonnenstaat, am Berliner Deutschen Theater 1978 geprobt bis zur Premierenreife, wird kurzfristig abgesagt. Der Hinze-Kunze-Roman („Warten war das halbe Leben; warten musste jeder, alle warteten hier auf was“) kommt 1985 heraus. Noch mit der Druckgenehmigung rät ein Abteilungsleiter des zuständigen Ministeriums dem Mitteldeutschen Verlag: „Obwohl aus dem Verlagsgutachten hervorgeht, dass der Autor nunmehr zu keiner weiteren Überarbeitung des Manuskripts noch bereit ist, möchten wir Ihnen dringend empfehlen, Volker Braun zu den angestrebten Veränderungen zu bewegen, insbesondere in Bezug auf die Szene ‚Demonstration nach Friedrichsfelde‘.“ Der das schreibt, weiß aus erster Hand, die Verrisse sind schon in Auftrag gegeben.
Mein Land geht in den Westen
Wenig später, das Buch ist im Verkauf, wird am 10. September um 7.30 Uhr (es geht zu wie bei der Reichsbahn) die weitere Auslieferung eingestellt. Die Bestände werden gezählt. Was ist schon über die Ladentische, was in die Bibliotheken, was ins Ausland gegangen? Was kann noch zurückgehalten werden? Durch Genossen Dr. Klaus Selbig – demselben, der noch im letzten Moment zu den Änderungen riet und im Übrigen später zu genau dem Mitteldeutschen Verlag wechselt, von wo man ihm 2002, als er sich von da verabschiedet, hinterherschreiben wird: „Der promovierte Historiker war insgesamt 30 Jahre im Verlagswesen tätig.“ Ja, genau. – „Durch Genossen Dr. Klaus Selbig wurde der Minister für Kultur auf Bestände der Brecht-Buchhandlung Berlin, 500 Exemplare, sowie die noch Ende September offene Buchpremiere aufmerksam gemacht.“ Hinze-Kunze wird in Bibliotheken aussortiert. Später wieder in die Regale zurückgeräumt. Hickhack eben.
Und diese Buchpremiere! Keine Lesung, ein Verkauf bloß, eine Signierstunde. Aber wir müssen, weil es einfach zu schön ist, hier den Bericht der „Abteilung Literaturverbreitung und -propaganda“ dazu zitieren: „Die Interessenten fanden Einlass durch die Tür zum Brecht-Zentrum und wurden über den Hof in den Vortragsraum geleitet; dadurch keine größeren Menschenansammlungen auf der Straße. Das Publikum bestand überwiegend aus ‚jungen Intellektuellen‘.“ – Warum die in Anführungszeichen gestellt sind? Werden sie von vorn und von hinten belächelt? Von vorne bis hinten observiert? Das Theaterstück Lenins Tod endlich (Stalin tritt auf, Trotzki spielt mit, personae non gratae), 1970 verfasst, liegt ewig, muss warten. Kommt 1988 am Berliner Ensemble. Zu spät.
Alles zu spät? Ebenfalls 88 reüssiert Die Übergangsgesellschaft, frei nach Tschechows Drei Schwestern. Es trifft blank liegende Nerven. Es zeigt, man lebt verrenkt, verrannt, hockt fest. Kein Horizont mehr. Und die Ideale balsamiert. Nach Moskau! sehnt sich eine Hoffnung. Das heißt oder wird so verstanden: hin zu Gorbatschow. „Die Revolution kann nicht als Diktatur zum Ziel kommen.“ Das Stück ist ein Renner.
Das Volk auch. Es läuft weg. Was dem folgt, ist bekannt. „Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.“
Als Volker Braun Anfang der 90er Jahre in Frankfurt am Main ein Buch bei Suhrkamp machen will mit Texten kurz vor, kurz nach dem Umbruch – einem Gedicht etwa, das, Brecht zitierend, die Gegenwart meinend, endet: „Es ist gekommen, das nicht Nennenswerte“ – sagt der berühmte Verleger Unseld zu ihm: Das überschreitet die Grenzen des Zulässigen. Und das Buch kommt bei Suhrkamp nicht. Déjà-vu.
Unsere Freiheit. Das Privateigentum. Die Heiligen Kühe. Scheißen wie andere Rindviecher auch. Doch es ist unsittlich, davon zu sprechen, und es ist ganz und gar schamlos, die Machtfrage zu stellen. Aber „die Literatur hat nur einen Sinn. Das wieder wegzureißen, was die Ideologen hinbaun“. Volker Braun ist nicht verstummt mit dem Aus der DDR. Andere sind’s. Braun hat weitergearbeitet. Zu Literatur hat ihn getrieben der Hungerstreik der Bergleute von Bischofferode beispielsweise. Er hat seiner Unvollendeten Geschichte einen Nachtrag beigeführt, als er erfuhr, dass das Mädchen, das ihm einst die Story erzählte, ihn inspirierte, ihn zugleich aushorchte. Und er hat im vergangenen Jahr eine Rede gehalten, die aufmerksam gehört wurde. „Nicht die Flüchtlinge machen das Problem, sie machen es bewusst.“ „Wir sind um den Verstand gekommen. Wir leben von der Armut der Welt.“ – Volker Braun, der Sachse, ist kein Provinzler.
Wird ein Dichter, der die Hälfte seiner Zeit in der DDR schrieb, je als „gesamtdeutscher“ Autor in Betracht gezogen? In 100 Jahren vielleicht. Also Geduld. Geschichte ist für Überraschungen gut. Das freut jede Dramaturgie. Und macht Hoffnung jenseits der Bücher. Wie fragt der Autor? „Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle. / Wann sag ich wieder mein und meine alle.“ Er lässt sich’s einfach nicht ausreden. Herzlichen Glückwunsch, Volker Braun!
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