Weithin leuchtet der Fernsehturm in den Farben der tschechischen Flagge, blau, weiß und rot. In den Waldstein-Gärten blühen schon die Bäume und am Grunde der Moldau wandern, wie seit tausend Jahren, die Steine. Oben, über die Karlsbrücke hin, schieben und drängen sich Touristentruppen in endloser, dichter Formation. Eine Prozession, an den dunklen Stein-Heiligen vorbei. Was suchen die Leute alle hier? Karel Gott?
Es ist Frühling in Prag und eine Invasion scheint über die Stadt hereingebrochen. Genervte Guides beiderlei Geschlechts tragen farbige Fähnlein in erhobenen Händen oder einen Schirm voran durch die Gassen. Amerikaner, Japaner, Italiener, Ungarn folgen. Die Idee des Tourismus wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift. Wir werden umspült und mitgerissen.
Vor einem Souvenir-Shop steht eine beleibte Amerikanerin wie ein Fels in der Brandung. Einen Burger mampfend betrachtet sie die glitzernde Billigware des Geschäfts, schüttelt den Kopf und ruft kauend: "Euro Trash!" Sie wird überrannt. Es gilt für den Städtebesucher wie für den Autofahrer: Du stehst nicht im Stau, du bist der Stau!
Fotohandys blitzen und eine Vier-Mann-Band spielt Swing. Man kann in einem schicken, alten, orangenen S?koda-Cabrio eine Stadtrundfahrt unternehmen oder sich beim Biertrinken dem Vergehen der Zeit überlassen. Vielleicht, denken wir, ließe sich betrunken am besten genießen, was die Stadt und das Leben einem aufbürden: die unerträgliche Leichtigkeit des Seins.
Prag geht auf den Strich. Aber wer, wie wir, den Hauptbahnhof glücklich hinter sich ließ, den kann nichts mehr schockieren.
Ein Flyer wird uns im Gedränge gereicht. Ausnahmsweise wirbt er mal nicht für das nächstgelegene "Cabaret", welches sich stets als Striplokal erweist, sondern für ein "Museum des Kommunismus". Die Ausstellung verspricht Erbauung und Grusel in drei historischen Etappen: the Dream, the Reality, the Nightmare. Das Museum ist täglich geöffnet von neun bis neun und scheint, wie alles hier, vor allem für jene Asiaten und Amerikaner gemacht zu sein, die schnell noch old europe sehen wollen, bevor es endgültig untergeht. "Zwei Mal begrüßten wir sowjetische Panzer", heißt es in dem Faltblatt, das uns gereicht wurde, "jedes Mal mit Tränen in den Augen." Ein Foto zeigt einen T 34, der mit seinem Geschütz im Balkon eines Wohnhauses steckt: "Die Panzer waren die gleichen. Unsere Tränen verschiedene."
Nun denn. Wir wühlen uns durch die begeisterten Massen und folgen dem angegebenen Weg, "above McDonalds, next to Casino". Aber die Passage zum Kommunismus ist mit Sperrholz vernagelt, dahinter wird renoviert. Der alte Menschheitstraum nimmt eine Auszeit. Oder sind wir es, die den Weg nicht finden?
Am Kiosk kaufen wir eine Süddeutsche. "Westliche Zeitungen werden in Prag frei verkauft - während Prager Zeitungen in Moskau schwarz gehandelt werden", erzählte man sich im Frühjahr ´68 aufgeregt in der DDR. Im Kaffeehaus sitzend lese ich über den militärischen Schutzschild, den die USA in Polen und Tschechien errichten und gegen Russland richten wollen. Warum Russland jetzt plötzlich wieder der Feind ist? Der Kellner bringt ein Omelett, das er "Ommälätt" nennt.
Wir logieren im Hotel Europa am Wenzelsplatz. Im Café dieses Hauses saß einst Kafka und schrieb. Durch die Flure und das Treppenhaus rannte Tom Cruise auf Mission Impossible. Das alte Europa gehört zum Unesco-Kulturerbe. Die Angestellten sind liebenswert und zum Teil so antik wie das Haus. Dessen Jugendstil-Prunk krankt an Altersschwäche. Die Türen der Schränke im Zimmer öffnen sich knarrend wie von Geisterhand, die Fenster schließen schlecht, und auf der Plastikbrille des Klos klemmt man sich den Po ein.
Wir stehen in unserem Zimmer und sehen hinunter auf den berühmten Platz, der ja eher eine breite, lange Straße ist, sehen das stumme Reiterstandbild des Heiligen Wenzel und agile Drogendealer bei ihren Geschäften, von keiner Polizei behelligt. Auf dem gleichen Pflaster standen im August ´68 jene tränenreich begrüßten Panzer, davor die Kameras von ARD und BBC. Ein älterer Mann hinkte heran und hielt (es wurde oft gezeigt in diversen Dokumentationen) anklagend eine tschechische Fahne hoch, zerschossen und blutig.
Die Kampfmoral der jungen Rotarmisten soll schwer darunter gelitten haben, dass die Prager sie - die doch meinten, ihren Klassenbrüdern zu Hilfe geeilt zu sein - als Faschisten beschimpften. Ungläubig guckten die Moskauer und Minsker Jungs aus ihren Panzerluken. Sie verstanden die Welt nicht mehr.
Wir nun stehen am Fenster unseres ehrwürdigen Hotels und sehen, ebenfalls Ungläubige - ja, was? Worauf blicken wir da? Auf das Ergebnis einer Verwandlung? Oder erst den Beginn?
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