Rotzdem

Den Blick zu Boden, auf seine Füße gerichtet, eilig, seine Finger in der Hand seiner Mutter. Ihr Griff ist eisern, es geht vorwärts. Er möchte sich ...

Den Blick zu Boden, auf seine Füße gerichtet, eilig, seine Finger in der Hand seiner Mutter. Ihr Griff ist eisern, es geht vorwärts. Er möchte sich gern da herausschälen, sein Händchen befreien und laufen, wie´s ihm gefällt. Seine Finger durchwühlen und durchgraben die warme Höhle. Sie suchen einen Ausgang. Manchmal ist es ihm schon gelungen. Einmal, kaum losgerissen, ist er vor ein Auto gerannt. Seitdem sitzt die Fessel noch enger.

Sein Blick, immer zu Boden, ist Tarnung. Alle Gedanken sind auf die eingeschlossene Hand gerichtet. Während der Fußsteig unten dahinfliegt, die grauen Steinplatten, eine und eine und eine, die Fugen dazwischen, planen die Finger oben den Ausbruch. Manche der Platten sitzen schief, man muss aufpassen. Wurzeln haben sie gegeneinander geschoben, sie bäumen sich auf unter den Tritten der Passanten, und einige sind geborsten. Nicht stolpern, nicht fallen. Sondern Schritt für Schritt - eine perfekte Tarnung: als sei es das, worauf er sich konzentrierte! - die Fugen treffen.

Früher hieß es, alle Spalten und Risse zu meiden. Das war einfach. Aber genau zwischen die Platten zu treten, jede Fuge mit der Mitte des Fußes zu treffen, das ist schwer. Angeblich soll es Unglück bringen. Und wenn schon! Der Junge, fünf Jahre alt, an der Hand seiner Mutter, fordert das Schicksal heraus.

Dann zu Hause. Der Streit war, während sie liefen, ausgesetzt. Es gelang keine Flucht. Und auch vom Himmel herab fuhr, trotz der Fugentritte, kein tödlicher Schlag. Aber jetzt gibt es doch noch Gezeter. Erst schimpft die Mutter. Dann soll der Junge sich äußern. Er blickt noch immer zu Boden. Er weiß nichts zu sagen, es schnürt ihm die Kehle zu, und die Tränen machen sich bereit. Seine Mutter wartet. "Ist das alles?" Gleich wird´s eine Ohrfeige geben, dann werden die Tränen fließen. So ist es immer. "Muss ich dir alles erst aus der Nase ziehn?" Ich weiß nicht, wahrscheinlich, denkt er. Der Trotz macht ihn steif und stumm. Und da beginnt seine Mutter ihm zu beweisen, nicht nur dass sie Recht, sondern wie Recht sie hatte. Sie beginnt, ihm wirklich und tatsächlich den Trotz aus der Nase zu ziehen.

Der Trotz, zeigt sich, ist ein langer Wurm. Ein schwarzer feuchter Strick, ein Bandwurm, der Stück für Stück, länger und immer länger, aus der Nase des Jungen kommt. Es tut nicht weh. Nur der Kopf wird immer leerer. Schließlich, als das letzte Ende vom Trotzwurm ihm aus der Nase geflutscht ist, fühlt der Junge sich leicht und frei. Als sei er nach langer Krankheit endlich von Polypen und Schnupfen befreit, geht das Atmen leicht, und nie gekannte Gerüche strömen ihm durch die Nase. Seine Mutter sieht ihn erschrocken an. So ein langer Trotzwurm! Das hätte sie nicht gedacht. Hat sie ihm weh getan? Der Junge will etwas sagen, aber sein Kopf, eine Blase, die sprechen will, hat keine Stimme mehr. Langsam bewegt er den Mund. Auf und zu, auf und zu. Aber es kommt kein Ton.

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