Sind Sie närrisch?

Elfter Elfter, elf Uhr elf Der Genosse Leonid Breschnew und die fünfte Jahreszeit

Kaum ist Halloween vorbei und die verfaulenden Kürbisse kriegen eingeknickte Gesichter und braune Zähne, da tröten die Tröten schon wieder und Konfetti und Bonbons fliegen durch die Gegend. Gottseidank lebe ich in Berlin, denn ich kann Fasching nicht leiden, und Berlin ist wider Erwarten noch immer Karnevalsmuffels Hauptstadt. "Komm nach Köln", versuchen mich Freunde zu locken, "dann wirst du auch ein Jeck!" Nein, danke. Nie. Das habe ich hinter mir.

Es war zu Fasching, und es war das einzige Mal, dass ich ein Kleid trug. Alle Jungs hatten Indianerschmuck angelegt, einschließlich Plastikbeilchen, sie trugen ihre Räuberklappe überm Auge und die Pistole im Halfter. Es war der Tag, an dem uns Musketierbärte wuchsen und sich dunkle Schatten auf unsere Wangen legten. Groß, gefährlich und sehr kriminell sahen alle aus. Nur ich nicht. Nicht in jenem Jahr. Meine Wangen blieben jungfräulich rotbäckig und der Indianerschmuck im Schrank, denn meine Großmutter hatte mir ein Kleid genäht. Ein grünes Kleid mit großen gelben Sternen. Weiß der Geier, wie sie auf diese Idee gekommen war, wahrscheinlich hatte sie grünen und gelben Stoff übrig. "Du bist Sterntaler!", rief sie begeistert. Ich protestierte: "Sterntaler ist ein Mädchen!" "Aber das macht doch nichts."

Ich wurde also entmannt. Ich ließ es geschehen. Ich ging im Kleid.

Die Erwachsenen bestaunten mein Kostüm (jedenfalls taten sie so) und ich fiel darauf rein. Weil ihnen das Kleid gefiel, gefiel es mir. Ich drehte mich vor ihnen und ließ, wie ich es von den Mädchen kannte, den Stoff auffliegen. Die Sterne tanzten. Ich hörte sie klingen und springen. Ich war korrumpiert. "Sterntaler" wurde mein Lieblingsmärchen.

Letztens ist mir die Geschichte wieder untergekommen. Beim Kindersitten sollte ich etwas vorlesen. Ich griff zum Märchenbuch und entschied mich aus alter Verbundenheit für die Geschichte vom Sternenkind.

Ein bettelarmes Mädchen, dem Vater und Mutter gestorben sind, verlässt sein Heim. Es macht sich, einzig auf Gott vertrauend, auf den Weg ins Ungewisse. Unterwegs begegnen ihm lauter Obdachlose. Ihnen schenkt es das Brot, das es noch hat, alle Kleider, die es am Leib trägt, und zuletzt sogar, mitten im Wald, sein allerletztes Hemd. Nun ist es nackt. Nun ist Nacht. Das ist das Ende. Aber nein, ein Wunder geschieht: Vom Himmel fallen Sterne und das Mädchen trägt plötzlich wieder ein frisches Hemd, und zwar "von allerfeinstem Linnen", in das es die Sterne, die sich als Goldtaler entpuppen, glücklich hineinsammelt.

Friedlich schlief das Kind, dem ich die Geschichte vorgelesen hatte. Ich nicht. Die Eltern sind tot, dachte ich, keiner nimmt sich des Kindes an, schließlich steht es nackt im Wald. Nicht die Sterne sind es, liebe Brüder Grimm, die da fallen. Blödsinn. Es ist der Frost, der sich nieder senkt. Die Nacht ist kalt, und das Mädchen erfriert. Das ist die bittere Wahrheit.

Doch zurück zum Fasching, der ach so närrischen fünften Jahreszeit. Endgültig versaut hat sie mir der Genosse Leonid Iljitsch Breschnew. Nicht, dass ich vorher - vor dem 11. 11. 1982 - ein Fan von ihm gewesen wäre. Aber seit dem Tag ...

Traditionell versammelten sich gegen 11 Uhr alle Schüler, um pünktlich um 11 Uhr 11 mit Trara und Gerassel die Närrische Zeit einzuläuten. Es gab alles, was dazu gehört, einen Karnevalsprinzen und seine Prinzessin, einen Elferrat. Und es gab eine Büttenrede. Die würde ich halten.

Kurz vor 10 stahl sich der stellvertretende Direktor in unsere Klasse und holte mich in sein Zimmer. Dort saßen schon ein paar: der Direktor, der Parteisekretär, der FDJnik. Sie sahen bedrückt aus. Die Tür wurde geschlossen und ich, der den diesjährigen Radau organisiert hatte, ins Vertrauen gezogen. Etwas Dunkles ging vor. Das Radio lief, Radio DDR. Getragene Musik erklang. Keine Nachrichten. Dann tat der Direktor in seiner Not etwas Ungeheuerliches. Er suchte den RIAS. Es war jetzt 10 Uhr. Eine Freie Stimme der Freien Welt plärrte: Breschnew ist tot. Schon gestern gestorben und längst kalt, aber von den Russen werde die Nachricht noch unter Verschluss gehalten. Endlich sei er hin, dieser Kriegstreiber. Der FDJnik erblasste, der Parteisekretär kaute an seinen Fingernägeln. Wie reden die von unserem teuren Genossen, dem Bewahrer des Weltfriedens?

Für die Direktoren war die Situation schrecklich. Was sollten sie tun? Den Fasching abblasen? Mit welcher Begründung? Woher, würde man fragen, hatten sie die Meldung? Dennoch feiern? Dem teuren toten Genossen mit Tröte und Rassel ein letztes Geleit bereiten? Ein Dilemma. Man nahm mir ein Schweigegelübde ab und schickte mich fort - eine Entscheidung würde in Kürze fallen. Sie fiel. Gegen mich. Für Breschnew. Der Tote hatte einen letzten Sieg errungen, Fasching fiel aus. Und ich hatte endgültig vom närrischen Treiben die Nase voll. Helau.


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