Im Frühjahr 1914 reist ein schlanker, junger Russe, blasses Gesicht, große Augen, von Moskau nach Nürnberg. Er will dort sein Deutsch verbessern. Es ist der 22-jährige, musisch ambitionierte Konstantin Fedin. Er studiert an der Moskauer Handelsschule, aber ein Kaufmann, das weiß Kostja längst, will er nicht werden. Was dann? Man wird sehen. Jetzt erst einmal, nach dem umtriebigen Moskau, das beschauliche Nürnberg. „In dem Dorf Stein, gleich neben dem Faber’schen Schloss“, erinnert er sich später, „verdiente ich mir meine ersten fünf Mark, als ich im Gasthof bei einem Tanzvergnügen die Geige strich.“ Also Musiker vielleicht? Oder lieber Schauspieler? Schriftsteller?
In Bayern wird der junge Mann vom Kriegsbeginn überrascht. Er versucht, in seine Heimat zurückzugelangen. Ohne Erfolg. In Dresden nimmt man ihn fest. Er ist ein „Feindstaatenausländer“ und wird interniert. Das ist üblich, so machen es alle. Oft schon während der Mobilmachung werden ausländische Arbeiter, Professoren auf Vortragsreise, ganze Schiffsbesatzungen von den Krieg führenden Ländern in Haft gesetzt und so zu den ersten Gefangenen des Krieges. Acht Millionen Soldaten werden in den kommenden Monaten und Jahren in Gefangenschaft geraten, allein in Deutschland werden 2,5 Millionen interniert. Und Zehntausende Zivilisten, die sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufhalten.
An den Fronten wird mannhaft gekämpft und gestorben. In den Heimaten wird gebangt und geduldet. Kriegsgefangene und Internierte leben irgendwo dazwischen, kaltgestellt. Es liegt der Vorwurf der Feigheit, der Unmännlichkeit in der Luft. In den Lagern grassieren Krankheiten, der Koller geht um, und gehungert wird überall. Die Vernichtung ihrer Insassen aber haben die Lager des Ersten Weltkriegs nicht zum Ziel. Diese Erfindung hebt sich das junge Jahrhundert für seine Zukunft auf.
Fedin wird zunächst in Dresden gefangen gesetzt, kurze Zeit später ausgewiesen. Nicht in seine russische Heimat natürlich, sondern in die sächsische Provinz. Er verbringt die kommenden vier Jahre in Görlitz, Zwickau und Zittau, glücklicherweise nicht im Knast oder Lager. Er darf zwar die Orte nicht verlassen, aber sich doch halbwegs frei darin bewegen. Kontakte zu deutschen Frauen sind streng untersagt, darauf steht Gefangenenlager. Dabei hätte manches Mädchen überhaupt nichts einzuwenden gegen eine Liebschaft mit dem Feind. Was also tun? Man muss gewandt vorgehen!
"Rhabarber Rhabarber"
Fedin wohnt zur Untermiete, gibt russischen Sprachunterricht und arbeitet am Stadttheater als Chorist und Operettendarsteller. Er trägt Frack, setzt Perücken auf, tanzt, singt und eifert dem Bühnengehabe der Kollegen nach. In der Csárdásfürstin zecht er im Pulk fröhlicher Jugend, in den Gläsern schwappt Limonade, sein Text geht: „Rhabarber, Rhabarber.“
So lässt der Krieg sich überleben, besser als im Schützenloch. Wenn ein Kerkermeister vor Kostjas Nase mit den Schlüsseln klappert, ist es der besoffene Zellenschließer Frosch aus der Fledermaus. „Glücklich iiist, wer vergisst, was doch nicht zu ändert iiist.“ Die Mauern sind aus Pappmaché.
Fedin hungert sich durch die Jahre. Ausgesucht hat er sich sein Schicksal nicht. Er hält die Augen offen, lernt, macht sich Gedanken über den deutschen Geist. Wenn nach der Vorstellung, unter höchster Geheimhaltung, Kostja seine Hulda oder Grete trifft, riecht er nach Schminke. Nebenbei schreibt er Gedichte und Prosa. Im Herbst 1918 werden die Gefangenen ausgetauscht. Fedin kehrt nach Moskau zurück. Die Macht dort heißt Bolschewiki – sie steht auf wackeligen Füßen. Fedin arbeitet in der Verwaltung, gelangt dann in die Provinz. Dort ist er als Journalist tätig.
Im Herbst 1919 wird er zur Roten Armee eingezogen und an die Bürgerkriegsfront kommandiert – nach Petrograd. So heißt St. Petersburg jetzt. Die Leute dort sagen aber wie vormals: Piter. Auf die Stadt zu marschieren die „Weißen“. Der Zugang zum Meer ist bereits verriegelt. Piter rüstet zum Kampf. Es werden Barrikaden errichtet, Waffen verteilt. Die Stadt gleicht einer eisigen Festung. In ihren Wohnungen hausen die Menschen wie in Höhlen. Es wird schlimm gehungert und fürchterlich gefroren. Der Flecktyphus geht um. Fedin ist Journalist einer Militärzeitung.
1921 sitzen die Bolschewiki fest im Sattel, die Machtfrage ist geklärt, und der Kampf beendet. Die Weltrevolution ist ausgeblieben, Fedin wieder Zivilist. Er schließt sich den Petrograder „Serapionsbrüdern“ an, einem Freundeskreis junger Autoren, die nach modernen, neuen Wege des Erzählens suchen. Es ist die Zeit sich scharf bekämpfender Literaturströmungen, auch unter den „Brüdern“ selbst wird heftig gestritten.
Spannung vor Kriegsbeginn
Konstantin Fedins Stil ist vergleichsweise traditionell, avancierte Formenexperimente sind seine Sache nicht. Er ist inzwischen auch mit Gorki bekannt, der 1923 über ihn sagt: „Er gehört zu den Menschen, die es nicht eilig haben, ihr Wort zu sagen, die es dann aber gut sagen. Augenblicklich schreibt er an einem Roman; und wie ich höre, geht ihm die Sache von der Hand.“ Gorki meint das Buch Städte und Jahre, an dem Fedin seit 1922 schreibt und das 1924 erscheint.
Da eine ganze Welt ins Wanken geriet, ist es kein traditionell komponierter Roman, auch wenn Fedin sich vom Erzählen psychologisch motivierter Handlungen nicht verabschiedet. Sein Protagonist Andrej Starzow – das ist über weite Strecken Fedin selbst. Lew Tolstoi hatte es 1905 geahnt: „Mir scheint, mit der Zeit wird man überhaupt davon abkommen, Kunstwerke zu ersinnen. Man wird es peinlich finden, über irgendeinen fiktiven Ivan Ivanovič oder irgendeine Marja Petrovna etwas zu erfinden. Die Schriftsteller, falls es sie noch geben wird, werden das Bedeutende und Interessante erzählen, das sie selbst zu beobachten Gelegenheit hatten.“ Genau das tut, einen Weltuntergang später, der Autor der Städte und Jahre. Er schickt seinen Andrej in Abenteuer, die er, Fedin, so oder ähnlich am eigenen Leib erfuhr. Die Spannung vor Kriegsbeginn. Gerüchte. Hysterie. Kriegsausbruch. Internierung. Andrej verliebt sich in eine junge Frau. Sie ist verlobt, ihr Bräutigam kämpft an der Ostfront. Gerät dort in Gefangenschaft. Dann das Kriegsende. Bürgerkrieg. – Nur ins Theater gerät Andrej nicht.
Fedin erzählt in Blöcken. Aber er stellt sie nicht chronologisch auf. Die Städte und Jahre sind ein großes Werk gegen den Krieg, das Beste seine spottenden Passagen. Liebevoll-skurril zeichnet Fedin zum Beispiel einen Kleinstadt-Sozialdemokraten, der meint, Andrej müsse man fortwährend die Welt erklären, weil er als Russe zwar ein lieber Kerl, aber leider nun einmal ein halber Asiat sei. – Der Roman erscheint 1927 auch auf Deutsch.
In seiner Heimat ist Fedin jetzt eine literarische Größe. Später macht er, anders als die meisten seiner ehemaligen Serapionsbrüder, im sozialistischen Kulturbetrieb Karriere. Er ist viele Jahre Vorsitzender des nun einheitlichen Schriftstellerverbandes. Einen Streit literarischer Richtungen gibt es nicht mehr, der ist untersagt.
1945/46 reist Fedin wieder nach Nürnberg, diesmal als Berichterstatter zum Prozess gegen die deutschen Kriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs. Nach gut 30 Jahren und zwei Kriegen nimmt er in der Schänke neben dem Faber’schen Schloss Quartier, wo er einst zum Tanz fiedelte. „Und in Nürnberg“, erinnert er sich, „war inmitten eines Schutthaufens die bogenüberwölbte Tür erhalten geblieben, durch die ich 1914 floh, in der Hoffnung, aus Deutschland zu entkommen. Hier hatte meine Erkenntnis über den Westen begonnen. Stets hatte ich die Rufe nach der Rettung Europas gehört. Nun sah ich sieben Wochen lang das Panoptikum der neuesten und radikalsten ‚Retter’ vor mir. Aber das Tribunal über die Unterweltgeister, die jetzt hinter der Schranke saßen, ließ in mir eine gewisse Hoffnung entstehen, Europa würde vielleicht wirklich einmal gerettet werden.“
Karsten Laske schrieb hier zuletzt über den russischen Dichter Ivan Bunin
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