Ich fahre mit der S-Bahn nach Potsdam, bin mit Ralph verabredet, wir haben uns mindestens drei Monate nicht gesehen. So ist das immer: Wir verlieren uns aus den Augen, treffen uns irgendwann wieder - und es ist, als wären wir erst gestern zusammen gewesen.
Freundschaften, heißt es, soll man pflegen, sonst hat man bald keine mehr. Das klingt wie Werbung für die Riester-Rente. Warum soll ich Leute treffen, die mir tendenziell auf den Keks gehen, nur um in einer ungewissen Zukunft noch Anrufe auf meinem Band oder am Silvesterabend Besuch zu haben? Ich bin überzeugt, die so vehement für das Pflegen werben, langweilen ihre Freunde und sich selbst oft zu Tode. Ich denke, Freundschaften entwickeln sich. Und halten. Oder eben nicht. Und Silvester wird sowieso überschätzt.
Während ich S-Bahn fahre, sehe ich aus dem Fenster. Ab Grunewald kreuzen kahle Bäume den Blick, in deren grauschwarzem Geäst Misteln wachsen. Es ist das einzige, blasse Grün um diese Zeit. In großen Haufen haben sie sich hoch in den Kronen eingenistet. Schmarotzer, die den Bäumen ihren Saft rauben. Illegale Baumbesetzer. Parasiten. Vom moralischen Standpunkt aus, wenn das irgendeinen Sinn hätte, müsste ich es verurteilen. Aber nein, gebannt starre ich nach draußen und kann mich nicht satt sehen, Gott weiß warum.
Ich habe Gelegenheitsfreunde, das heißt: für verschiedene Gelegenheiten verschiedene. Und keiner von ihnen passt zum andern. Ralph zum Beispiel, zu dem ich unterwegs bin, ist ein Freund für Liebesfragen. Leid oder Lust oder Kuddelmuddel, Ralph versteht alles. Er hat selbst so einiges auf dem Kerbholz, nichts Menschliches ist ihm fremd.
Meine Freundin Juliane treffe ich am liebsten, wenn ich krank bin. Oder sie. Schweißfüße, Nierenkoliken, alkoholkrank oder ein hässlicher Pickel auf der Nase, Juliane, die alles schon durchhat, leidet mit und weiß, was hilft. Sie ist ein verlässlicher Hypochonder und zugleich die perfekte Florence Nightingale. Nur dass sie zum Glück kein Häubchen trägt.
Knut dagegen ist mein Garant fürs Gestrige. Er hat ein Gedächtnis wie ein Elefant und sieht auch ein bisschen so aus, grau im Gesicht und etwas füllig um die Hüften. Mit ihm lässt sich herrlich von früher plaudern. Eigentlich lässt sich mit ihm überhaupt nur von früher plaudern. Neulich waren wir zusammen im neuen Kaurismäki-Film. Wir sehen uns seit den frühen Neunzigern immer alle Kaurismäki-Filme an, und immer zusammen. Es war also alles wie früher. Auch der Film natürlich, Kaurismäki eben. Irgendwann fiel mir auf, dass die Spinde der Wachmänner, das Holzpaneel im Gerichtssaal, selbst die Telefone, dass alles so aussah, als stamme es direkt aus der DDR. Wahrscheinlich findet der olle Kaurismäki die olle DDR so schrill und lustig wie wir sein komisches Finnland. Jedenfalls beugte ich mich zu Knut und flüsterte: Sieht ja aus wie im Osten! Er verstand nicht. Ich flüsterte noch einmal. Er nickte, aber ich ahnte bereits, dass er nichts verstanden hatte. Drei Minuten später beugte er sich zu mir rüber und brüllte mir ins Ohr: Sieht aus wie im Osten, ha?! - Gehört es sich nun als sein Freund, Knut zu sagen, dass er taub ist wie Opa Hoppenstett? Ich werd mal Juliane fragen. Oder Ralph?
Die S-Bahn fährt den langen Weg zwischen Wannsee und Griebnitzsee. Ich klebe noch immer an der Scheibe. Draußen lassen sich Krähenschwärme in die mistelbewucherten Bäume fallen. Bei mir zu Hause, wo es im Wohnzimmer statt einer richtigen Deckenleuchte nur den uralten Haken für die Gaslampe gibt, hängt ein Mistelzweig von einem Weihnachtsfest vor Jahren. Hab ich eigentlich je darunter jemanden geküsst?
Später erzähle ich Ralph von meiner Mistel-Liebe. Er ist nämlich, außer Experte in Liebesfragen, Biologe und erklärt mir zunächst das mit dem Schmarotzertum. Dann holt er noch weiter aus: dass es auch wechselseitige Parasiten gäbe, Birke und Birkenpilz zum Beispiel, Libellenlarve und irgendeine Wasseralge, Einsiedlerkrebs und Seerose. Jeder schmarotzt beim andern, so hat jeder seinen Nutzen davon. Wie romantisch! - Quatsch, das ist Symbiose. Und funktioniert auch nur auf Zeit. Wenn die Libelle nämlich aus der Larve schlüpft und den See verlässt, ist die Alge im Eimer. Grausam! - Nein, so ist das Leben.
Wir verbringen den ganzen Tag zusammen. Klönen und kiffen, gehen Kaffee trinken und später zum Bier über. So könnte es jeden Tag sein. Als wir uns verabschieden, weiß keiner von uns, wann wir uns wiedersehen.
Auf der Rückfahrt nachts frage ich mich, wer oder was ich eigentlich für meine Freunde bin. Spricht vielleicht Juliane ausschließlich mit mir über Krankheiten? Redet Knut nur in meiner Gegenwart von früher? Und sollte ich für Ralph etwa so unverzichtbar in Liebesdingen sein wie er für mich? Welche Rolle spiele ich für meine Freunde? Birke oder Pilz, Krebs oder Rose?
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