Die Dreharbeiten sind schwierig, sie dauern lang. Genau ein Jahr vor dem Kriegsende, am 8. Mai 1944, fällt die erste Klappe, erst im Oktober wird die letzte Einstellung gedreht. Der Film heißt Unter den Brücken. Es spielen Hannelore Schroth, Carl Raddatz, Gustav Knuth und in einer winzigen Rolle, ganz jung, Hildegard Knef. Es geht um die Freundschaft zweier Binnenschiffer, um ihre Liebe zu dem Kahn und eine Liebe auf dem Kahn. Es ist ein schöner Film, ohne Bedeutungsschwere, warmherzig, leise und glaubwürdig. Zu einer Zeit, als ein Menschenleben einen Dreck wert ist.
Bomberstaffeln nach Berlin
Auf dem Kahn, der im Film Liese-Lotte heißt, schippern Regisseur Helmut Käutner und die Film-Crew monatelang über die Gewässer in und um Berlin, sie versuchen händeringend, Unzerstörtes vor ihre Kamera zu kriegen. Dass es ihnen gelingt, ist ein Wunder. Nur gleich in der allerersten Einstellung des Films, da müssen sie tricksen. Der Kahn fährt mitten in Berlin auf der Spree, man blickt auf den Dom, im Anschnitt wäre das Schloss zu sehen, das zu der Zeit bereits eine Ruine ist. Deshalb wird die Seitenfassade der Börse davor gesetzt. Käutner und Kollegen drehen dann außerhalb Berlins, an der Glienicker Brücke, in Havelwerder, Ketzin, Potsdam und auf dem UFA-Gelände in Babelsberg – während oben am Himmel Bomberstaffeln nach Berlin fliegen.
„Ganz hinten am Horizont stiegen Rauchpilze hoch“, erinnert sich später Carl Raddatz, „der Himmel wurde finster, dann grollte es und die Erde zitterte leise. Um uns quakten die Frösche, der Wind ging durchs Schilf und die Havel floss gemütlich weiter, als ob nichts wäre.“ Tatsächlich ist im ganzen Film von keinem Krieg die Rede. Insofern lügt der Streifen gnadenlos. „Wir lebten verträumt neben der Zeit“, schreibt Helmut Käutner, „und lenkten uns durch unsere Arbeit von all dem Schrecklichen ab.“
Am 14. Oktober 1944 wird der Volkssturm ins Leben gerufen. Es werden nun Sechzehn-, Siebzehn- und Sechzigjährige schlecht bewaffnet, kaum instruiert und militärisch sinnlos den Alliierten entgegengeworfen. Doch die UFA dreht weiter. Veit Harlan sein mit riesigem Aufwand produziertes Durchhalte-Epos Kolberg, Wolfgang Liebeneiner den Berlin-Streifen Das Leben geht weiter, Werner Klingler Die Degenhardts, eine Chronik aus dem Leben einer Lübecker Beamtenfamilie. Hier wird der Krieg nicht ausgeblendet. „Wir sehen“, schreibt der Film-Kurier, „die ganze Familie im Einsatz für das Vaterland. Die Söhne an der Front, die Töchter als Rote-Kreuz-Schwester und in der Munitionsfabrik.“ Hitler und Goebbels glauben weiterhin besessen an die Wirkung des Kinos. Vielleicht weil im Film noch Wunder geschehen? Doch in vielen Lichtspielhäusern sind längst Flüchtlinge einquartiert. Die Schwierigkeiten für die Drehteams, überhaupt noch irgendetwas aufs Zelluloid zu bannen, wachsen von Tag zu Tag. Die Belegschaften in den Ateliers werden um 40 Prozent reduziert, es fehlt Material für die Bauten und es mangelt an Rohfilm. Wer kann, dreht im sicheren Prag oder sieht zu, dass er schleunigst krank wird. Wolfgang Liebeneiner, UFA-Produktionschef, Leiter der „Fachschaft Film“ bei der Reichsfilmkammer und unter anderem Regisseur des Pro-Euthanasie-Films Ich klage an, verschwindet klammheimlich in die Schweiz.
„Wir waren wieder ein paar Tage in L. an der Havel“, schreibt Erich Kästner am 7. Februar 1945 in sein Tagebuch. Er ist zu Gast in der Villa eines Textilkaufmanns, man trinkt Sekt und tafelt. Doch weil Stromsperre ist, isst man den Braten kalt. „Noch gestern saßen wir in Charlottenburg im Keller, während zwölfhundert Flugzeuge ihre Bomben ausklinkten.“ Kästner, der im Dritten Reich nichts veröffentlichen darf, hat für die UFA das Drehbuch Münchhausen geschrieben, im Vorspann taucht er als Berthold Bürger auf. Der Bürger Kästner ist nun aufgefordert, sich ebenfalls beim Volkssturm einzureihen. Doch ihm tut sich ein lebensrettender Ausweg auf.
In Mayrhofen im Zillertal, im Herzen Tirols, wird ein Film gedreht. Ein befreundeter Herstellungsleiter stellt Erich Kästner und seiner Frau Lotte die nötigen Papiere aus: Kästner, angeblich Autor des Films, werde vor Ort dringend gebraucht, seine Frau müsse, ebenso dringend, als Dramaturgin nach Innsbruck reisen. Von dort bis Mayrhofen ist es ein Katzensprung.
So gerät das Paar ins schöne Tirol. Es ist Ende März, die Wiesen grünen. Harald Braun führt Regie. Es spielt, wiederum, Hannelore Schroth. Ihr Partner ist Ulrich Haupt. An der Kamera steht Robert Baberske. Das Team lässt es ruhig angehen. Die Darsteller nehmen Sonnenbäder, die Beleuchter spielen Skat, man lässt sich vom Maskenbildner die Haare schneiden oder schaltet sich in den örtlichen Schwarzhandel ein. Schließlich wird dann doch die erste Klappe geschlagen. „Die Kamera surrte“, notiert Kästner, „die Silberblenden glänzten, der Regisseur befahl, die Schauspieler agierten, der Aufnahmeleiter tummelte sich, der Friseur überpuderte die Schminkgesichter und die Dorfjugend staunte. Wie erstaunt wäre sie erst gewesen, hätte sie gewusst, dass die Filmkassette in der Kamera leer war!“ Rohfilm, wie gesagt, ist Mangelware. An eine Premiere des Films glaubt niemand. Es geht nur noch ums Überleben, ums Zeit- Gewinnen. Einen Titel hat der Film, der niemals entsteht, aber trotzdem: Das verlorene Gesicht.
Auch Unter den Brücken kam vor Kriegsende in kein Kino mehr. Im März 1945 war der Film endlich fertig gestellt, er erhielt noch die Freigabe der „Reichsfilmprüfstelle“, die Premiere aber entfiel. Das Negativ verschwand in den Wirren des Kriegsendes, nur eine Kopie wurde gerettet und tauchte in Schweden auf. Sie wurde 1946 auf dem Filmfest in Locarno gezeigt. Man stellte davon ein Dup-Negativ her und konnte nun neue Kopien ziehen, denen durch das komplizierte Procedere allerdings ein wenig die optische Brillanz abhanden gekommen war; der Film kam 1950 in die bundesdeutschen Kinos.
Am 20. April 1945, Hitlers Geburtstag, wurden die Babelsberger Filmstudios bombardiert. Im Panzerbär, dem „Kampfblatt für die Verteidiger Groß-Berlins“, dem letzten, im Ullstein Verlag noch erscheinenden Blättchen, tönte Goebbels: „Der Führer wird seinen Weg bis zu Ende gehen, und dort erwartet ihn nicht der Untergang seines Volkes, sondern ein neuer glücklicher Anfang zu einer Blütezeit des Deutschtums ohnegleichen.“ Zur gleichen Zeit traten die Häftlinge des Konzentrationslagers Sachsenhausen ihren Todesmarsch an.
Hans Moser wienerte
Der Krieg endete. Erich Kästner geriet nach Schliersee, unweit von München. Gustav Knuth, Helmut Käutner und Wolfgang Liebeneiner fanden sich in Hamburg wieder. Robert Baberske, der Kameramann des Zillertaler Filmbluffs, schnappte sich einen Projektor und ein paar Kopien unverfänglicher UFA-Filmchen, deren Aufführung die Sowjets gestatteten. Da hüpfte Johannes Heesters wieder über die Leinwand, sprang über schwarze und weiße Tasten und sang vom „Klang des gespielten Klavieres“. Marika Rökk warf ihre Beine, Heinz Rühmann quasselte, Hans Moser wienerte, Grete Weiser schnodderte und Gustaf Gründgens brillierte. Robert Baberske zog als Filmvorführer durch die Mark Brandenburg. Er tingelte von Dorf zu Dorf, bekam zu essen und Unterkunft. Bis ihn 1947 ein anderer Überlebender, Artur Brauner, Sohn eines jüdischen Holzgroßhändlers aus Lodz und nun in Berlin Filmproduzent, für ein Projekt engagierte. Danach ging Baberske zur DEFA, wo er unter anderem beim Beil von Wandsbek, dem Untertan und der Geschichte vom kleinen Muck die Kamera führte.
Man hat überlebt. Unter den Brücken, im Kino oder sonst wo. Und das Leben geht weiter. Erich Kästner schreibt weiter und darf wieder veröffentlichen. Hannelore Schroth und ihre Kollegen stehen vor den Kameras. Veit Harlan dreht in der Bundesrepublik noch ein Dutzend, Wolfgang Liebeneiner noch mehr als 40 Filme. Und 1948 entsteht in Heidelberg und Umgebung tatsächlich ein Film mit dem Titel Das verlorene Gesicht. Es spielen Marianne Hoppe und Gustav Fröhlich, Harald Braun firmiert jetzt als Drehbuchautor. Sie sind noch einmal davongekommen. Es ist alles beinahe wie in einem Film.
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