Van der Lubbe: Der Getriebene

Widerstand Anfang der dreißiger Jahre wandert ein junger holländischer Kommunist durch halb Europa und landet im Februar 1933 schließlich in Berlin

Empathie ist gerade nicht in Mode. Das Mitfühlen steht unter Kitsch-Verdacht. Mitleid! Schon das Wort ist peinlich. Solidarität? Kommunistengeschwätz. Undenkbar heute, dass Deutsche nach Spanien führen, nicht für einen Sold und schon gar nicht, um auf Mallorca in der Sonne zu liegen, sondern um Spaniern gegen einen blutigen General zu helfen, und sei es um ihr eignes Leben. Undenkbar! – Aber es gab sie, diese anderen, weniger ironischen Zeiten. Zeiten, die als kälter galten als unsere. Und es gab immer wieder jene Einzelnen, Märtyrer oder Propheten, die nicht handelten, weil sie so wollten. Sondern weil sie nicht anders konnten. Ihr Mund sprach und sie agierten. Es sollte so sein.

Hunger und Wut

Mitte der zwanziger Jahre taucht in Hollands kommunistischen und Anarcho-Kreisen ein junger Kerl auf. Weil er kräftig zupackt, wird er von seinen Kumpels Dempsey genannt, nach dem populären amerikanischen Schwergewichtsboxer Jack Dempsey. Der junge Mann heißt Marinus van der Lubbe. Aus der Schule hat er wenig mitbekommen, er ist Autodidakt. Er sieht schlecht, denn als Maurerlehrling hat er sich die Augen mit ungelöschtem Kalk verätzt; später wird er an Augentuberkulose erkranken. Rinus, wie die Holländer seinen Namen kürzen, ist ein armer Hund. Aber er heult nicht. Er hat Hunger und Wut im Bauch. Er hält kein Unrecht aus. Er weiß mit seinem Herzen: So wie es ist, darf es nicht sein. Es muss sich was ändern!

Deshalb ist er Kommunist. Mit der Partei hat er jedoch nicht viel am Hut, die ist ihm nicht radikal genug. Er tritt in Agitprop-Stücken auf, schreibt Geschichten und Gedichte. Er versucht, Karl Marx zu lesen, schreibt Flugblätter, organisiert Demonstrationen und tritt als politischer Redner auf. Besonders erfolgreich agitiert er jugendliche Arbeitslose. Dadurch kollidiert er nicht nur mit der Polizei, sondern auch mit seiner eigenen Partei. Er hat nie genug Geld. Als eine Zeitung 5.000 Gulden auslobt für den ersten Niederländer, der es schafft, den Ärmelkanal von Calais nach Dover zu durchschwimmen, bewirbt sich Marinus und trainiert dafür.

Doch zu dem Wettkampf tritt er nicht an. Er begibt sich stattdessen auf Wanderschaft. Zwischen 1928 und 1932 marschiert Marinus einige Male durch halb Europa. Seine Schuhe fallen ihm fast von den Füßen, er hungert und friert. Er trifft Menschen, die fremde Sprachen sprechen. Er hat keine Karte, sich zu orientieren. Wie die Orte heißen, die er passiert, schnappt er im Vorbeigehen auf. Er bleibt nirgends lange, can‘t wait to get on the road again. Seine Weltanschauung und seine Empathie kommen aus keinem Parteiprogramm, sondern aus dem Anschauen der Welt. Er ist ein Vagabund, Landstreicher, Punk.

Die weiteste Reise unternimmt er 1931. Er will über den Balkan in die Sowjetunion, vielleicht sogar bis nach China. In seinen Hosentaschen hat er vier Gulden. Er führt Tagebuch. Darin notiert er Erlebnisse und Gedanken. Am Montag, dem 7. September 1931, bricht er aus seiner Heimatstadt Leiden auf. Er läuft meist allein, mal nimmt ihn ein Pferdefuhrwerk mit, mal ein Motorrad. „Obwohl ich mich an diesem ersten Tag noch ein bisschen traurig und einsam fühle“, schreibt er, „bin ich doch gut vorangekommen und hab viel Glück mit dem Mitfahren gehabt, so dass ich jetzt schon in Deutschland bin.“

Er läuft durch Kleve, Köln, Koblenz und München. Hält Augen und Ohren offen. Weil er nicht gut sieht, guckt er genauer hin. Er kommt durch Klagenfurt, geht weiter nach Maribor, er passiert Belgrad. „Sobald ich nun durch Belgrad durch bin, werde ich versuchen, mich in dem einen oder anderen Städtchen aufzuhalten, um alle meine Sachen mal auszuwaschen. Ich habe gestern mein letztes Hemd angezogen. Meine Zeitung vermisse ich sehr. Ich denke öfter: Wie wird es in Europa aussehen?“

Und wie sieht es in Europa aus? NSDAP-Führer Adolf Hitler empfängt im Berliner Hotel Kaiserhof Banker und Industrielle und stellt ihnen seine wirtschaftspolitischen Ziele vor. Am jüdischen Neujahrstag, dem 12. September 1931, werden auf dem Berliner Kurfürstendamm und in umliegenden Straßen Geschäfte demoliert und Passanten, die für Juden gehalten werden, angegriffen. Das Bankhaus Deichmann Co. in Köln ist pleite, das Bankhaus Friedmann Co. in Halle stellt einen Vergleichsantrag. Ende September ist es so kalt, dass der Wiener Tierschutzverein 2.000 Schwalben, die wegen der Kälte ihren Flug nach Süden nicht antreten können, mit einem Flugzeug nach Venedig bringen lässt.

Marinus schreibt: „Heute Morgen. Erst ein paar Häuser nichts, dann ein Stückchen weiter bei einem Kleinbauern duftender Kaffee und ein Brot, wovon ich mich nach Herzenslust bedienen kann. Das ist nun mal das Typische an den Menschen: Wir brauchen nicht darauf auszugehen, Gutes zu tun. Wenn es die Verhältnisse zulassen, tun wir es. Nicht aus Philanthropie, sondern weil wir in diesem Augenblick und durch diese Umstände imstande sind, etwas Gutes zu tun.“

An der jugoslawisch-rumänischen Grenze wird er aufgegriffen und nach Hause zurück verfrachtet. China wird er nie erreichen, die Revolutionsfeiern auf dem Moskauer Roten Platz werden ohne ihn stattfinden. Ende Oktober ist er wieder in Holland.

Doch er bleibt, wie er ist: ruhelos, unstet. Seine Heimat ist größer als das Städtchen Leiden. Er geht nach Berlin. Und im Februar 1933, zurück in den Niederlanden, hält er’s da wieder nicht aus. Hitler hat die Macht ergriffen. Die deutsche Arbeiterschaft schweigt. Marinus muss los, er will was tun. Auf nach Berlin.

Die Stadt ist verändert. Hakenkreuzfahnen hängen in den Straßen. Die Ruhe macht ihn verrückt. Wieso wehrt sich hier keiner? Wo bleibt der Generalstreik? Marinus geht ins Kino, in dem Arbeitslose ziellos rumhängen, er übernachtet im Obdachlosenasyl, er ist verzweifelt. Aus dem Funken, hieß es bei Lenin, soll die Flamme schlagen! Aber die deutsche Revolution, wo bleibt sie? Marinus kauft Feueranzünder, kokelt, zündelt. Erfolglos zunächst. Brandstiftung ist Männersache – und eine psychotische Tat. Der Brandstifter sieht keinen anderen Ausweg. Wo das eigene Innere so schmerzlich brennt, soll die Welt, die nicht zu retten ist, in Flammen aufgehen.

In Leipzig enthauptet

In der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 zündet Marinus den Reichstag an. Alle Welt kennt das Ereignis. Noch in der Nacht beginnt die Diskussion um die Alleintäterschaft. Die Kommunisten behaupten, van der Lubbe sei eine Marionette der Nazis, gar ihr Stricher. Die deutschen Faschisten, allen voran Hermann Göring, stellen die Tat sofort als Verschwörung der Kommunisten dar. Man nimmt das Ereignis als Vorwand und sperrt politische Gegner ins Gefängnis und in eilig errichtete KZs.

Und was sagt Marinus selbst? Unmittelbar nach seiner Verhaftung gibt er zu Protokoll, er habe den Brand selbst und auf eigene Initiative gelegt. Er wollte die deutsche Bevölkerung, sagt er, auf die Gefahr aufmerksam machen, die die Hitler-Regierung bedeute, „so dass es schließlich doch zum Kriege kommen wird“.

So verwirrt kann einer nicht sein, der im Februar 1933 weiß, dass Hitlers Regime Krieg bedeutet. – Doch Marinus’ Tat wird nicht zum Fanal sondern zum Bumerang. Für Tausende Verhaftete. Und für ihn selbst. Am 21. September beginnt der Prozess „gegen van der Lubbe und Genossen“. Marinus gibt ein jämmerliches Bild ab. Er wirkt schwer gestört, lässt den Kopf tief hängen, äußert sich kaum. Weder versucht er, sich zu retten, noch treibt er politische Propaganda. Er hat jetzt, scheint es, jede Hoffnung verloren. Zum Star des Prozesses wird der mitangeklagte Bulgare Georgi Dimi- troff. Dieser und die anderen Kommunisten, Torgler, Popoff und Taneff, werden am Ende freigesprochen. Marinus wird am 10. Januar 1934, drei Tage vor seinem 25. Geburtstag, in Leipzig enthauptet.

In der DDR galt van der Lubbe als der Verführte, die Nazi-Puppe. In der Bundesrepublik hatte er neben den Attentätern des 20. Juli keinen Platz; hier galt er als Anarcho-Kommunist und seine Tat als unfein. Dennoch beschäftigte sich die Justiz mehrfach mit seinem Fall. 1967 verwandelte man die Todesstrafe in acht Jahre Haft. 1980 wurde Marinus gar freigesprochen – was einem Staatsanwalt allerdings nicht gefiel. Der sorgte dafür, dass das Urteil von 1967 wieder Bestand hatte. Erst vor zwei Jahren, am 10. Januar 2008, hob die Bundesanwaltschaft das Todesurteil auf, denn es beruht – erkannte man nach 75 Jahren – auf Nazi-Unrecht.


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