In der Nacht zum 3. Oktober 1990, als die DDR endete, befand ich mich auf der Autobahn. Mit einem Freund fuhr ich, von einer Theaterprobe im norddeutschen Schwerin kommend, nach Berlin. Weder beflügelte uns das "historische Datum" noch waren wir deprimiert, es bedeutete uns gar nichts. Wir hatten das Gefühl, hier würde lediglich offiziell und ein wenig pathetisch nachvollzogen, was längst Realität und uns allen seit Monaten selbstverständlich war: Ost war West, die DDR nur noch ein Gespenst, sie hatte ausgegeistert. Schnell lief es damals, das Verändern, das Gewöhnen, die Akzeptanz. Und die Täuschung.
Wir hielten dennoch kurz vor Mitternacht, weil wir zufällig eine MINOL-Raststätte passierten - "elf" geschmiertes Gelände, was wir nicht ahnten - wir hielten, kauften eine Piccolo-Flasche Sekt, verteilten das Gesöff auf zwei Gläser, vermieden es anzustoßen, weil man selbst als Ostler weiß, dass Sekt nicht klingt. Wir stürzten das Zeug hinunter, hielten einen Moment inne, schon auf die Uhr blickend, wann wir endlich weiterfahren und wie spät wohl zu Hause ankommen würden. Als wechselte einer vor der Tür an unserem Wagen ein Rad, erging es uns wie jenem berühmteren Theaterkollegen B.B. Jahrzehnte zuvor: Wo wir herkamen, waren wir nicht gern; wo wir hingerieten, das gefiel uns nicht; es ging uns alles zu schnell, dennoch waren wir voller Ungeduld. Eilig brachen wir auf in jener Nacht.
Das Jahr 89/90 lief wie ein Film im Schnellvorlauf. Nach dem Mauerfall war das Biotop DDR, seines berühmten engen Zauns beraubt, nicht überlebensfähig. Massive Fliehkräfte zerrten alles und jeden Richtung Westen. Staat und Bürger, Wissen, Immobilien, Kompetenzen fielen der Bundesrepublik anheim.
All das will uns im Abstand der Jahre alternativlos, folgerichtig, geradezu "planmäßig" erscheinen. Eine übermächtige Delegitimationkampagne tat (und tut) das Ihre. An den Bruchstellen sah das zuweilen anders aus. Erinnerungen, wenn sie nicht nachträglich vom offiziellen Kanon überformt wurden, sprechen noch davon. So erinnere ich Busladungen voller interessierter, gepflegter Senioren aus Ratzeburg und Lüchow-Dannenberg, die in der maroden Schweriner Altstadt umherstreiften. Mit weit ausladender Herrengeste, die Füße schwer vom ungewohnten Katzenkopfpflaster, wiesen sie auf Häuser und Straßen: "Das muss alles weg!" - Es ist zum Glück nicht alles weggekommen, und viele Häuser stehen renoviert in schönem, alten Glanz; aber es waren nicht zuletzt solche Eindrücke, die mein Bild der frühen neunziger Jahre prägten: Die Bundesrepublik - ein herrschsüchtiges, altersstarrsinniges Gemeinwesen, das gar nicht erkennen wollte, in welche Bewegung es geraten war.
Den Ostlern wird vorgeworfen, sich ins gemachte Nest gesetzt zu haben. Zu recht. Aber wehe, sie hätten sich angemaßt, ein anderes bauen zu wollen.
In der Pentacon GmbH Dresden zum Beispiel stellt man bis zum Herbst 1990 Kameras her. Pentacon ist eine Traditionsmarke, pro Jahr werden seinerzeit etwa 400.000 Kameras gefertigt und überwiegend exportiert: Perfekta, Exakta, Praktica, zuletzt die neu entwickelte Praktica BX20, die noch auf der Messe Photokina in Köln zu sehen ist. Beim Versandhaus Quelle kaufte man über die Jahre gern unter dem Markennamen RevueFlex, was aus dem Dresdner Werk herüber kam.
Reiner Pfaff, seit Mai 1990 Betriebsratsvorsitzender, arbeitet in der Abteilung Forschung und Entwicklung. Er versucht das ganze Jahr hindurch, wie andere auch, seinen ehrwürdigen Betrieb zu retten. "Als sich im Dezember ´89 die SED-Betriebsleitung selbst aufgelöst hatte", erinnert er sich, "war der Betrieb praktisch führungslos. Im Februar/März 1990 wurde in Abstimmung mit der Treuhand von den alten Genossen eine GmbH gegründet, die haben einen Geschäftsführer eingesetzt und sind mit einem neuen Konzept angetreten. Wir haben im Mai einen Betriebsrat gewählt; die erste freie Interessenvertretung der Arbeiter in diesem Betrieb! Von meinem Begrüßungsgeld habe ich mir erst einmal das westdeutsche Betriebsverfassungsgesetz gekauft, so ein kleines Büchlein, und habe das dann studiert."
Der Betrieb beschäftigt Anfang 1990 noch 6.000 Arbeiter und Angestellte. Im Laufe des Jahres wird die Zahl auf 4.500 reduziert. Regine Burckhardt, seit 27 Jahren im Dresdner Kombinat, ist zu jener Zeit Brigadeleiterin der BX20-Montage, fast eine reine Frauen-Abteilung. "Die gesamte soziale Struktur in der Montage war ja von Frauen geprägt", erzählt sie über die Zeit damals, "gelernte und ungelernte, dazu Gehörlose, Vietnamesen."
Die Vietnamesen werden zuerst entlassen. Ab Sommer 1990 muss Regine Burckhardt dann ihre älteren deutschen Kolleginnen in den Vorruhestand schicken, "Frauen, die teilweise 35 Jahre, 40 Jahre in diesem Betrieb waren. Die faktisch ihr ganzes Leben hier gearbeitet hatten. Die haben das gar nicht begriffen und gefragt: Warum ich zuerst? Der Begriff Vorruhestand - es wusste ja gar keiner, was das ist!"
"Im Juni oder Juli 1990 kam ein westdeutscher Wirtschaftsprüfer, der hat uns die ernüchternden Zahlen vorgelegt. Unsere Rentabilität lag unter 20 Prozent." Reiner Pfaff scheint noch heute entsetzt. "Das musste man erst mal aushalten können nach 28 Jahren Arbeit bei Pentacon. Unsere Produktion war viel zu tief gegliedert; wir haben ja jede Schraube und jeden Flansch selber hergestellt. Ein weiteres Problem war, dass wir ab Mitte der achtziger Jahre in einem kleinen Bereich auch Rüstungsgüter gefertigt haben, da wurden die ganzen Investitionen reingepumpt, wenn überhaupt Geld da war. Und wir in der Forschung sind um die Früchte unserer Arbeit betrogen worden: Wir haben Patente entwickelt, die aufgrund der Embargopolitik des Westens bei uns nicht umgesetzt werden konnten. Die sind dann nach Japan verkauft worden, an die eigene Konkurrenz."
Doch Rettung naht. Schließlich gibt es westliche Investoren! Als ritten sie auf weißen Elefanten heran, werden sie wie Prinzen hofiert.
"Ich persönlich habe zunächst gedacht, dass wir mit den Japanern zusammenarbeiten können", glaubt Regine Burckhardt seinerzeit noch. "Aber als die in der Montage waren, hatte ich plötzlich ein ungutes Gefühl, durch die Gespräche, die sie in Japanisch führten, noch nicht einmal auf Englisch. Ich habe dann zu meinen Kollegen gesagt: Das war´s. Mit den Japanern, das wird hier nischt! Nur so ´ne Gefühlssache."
Auch das Interesse eines westdeutschen Branchenrivalen wie LEICA erlahmt jäh. An bestimmten Immobilien des Betriebsgeländes finden ein paar Häppchenjäger Gefallen. Das rettet in Dresden keinen.
Irgendwann in diesem Sommer hat Anke Fuchs (SPD) einen großen Auftritt auf dem Betriebshof. Auch sie verspricht Rettung. "Die hat von Bananen, von guten Arbeitsplätzen und grünen Landschaften, und was weiß ich alles erzählt. Meine Kollegen haben ihr geglaubt", weiß Regine Burckhardt noch. "Sie dachten, die SPD wird jetzt dafür sorgen, dass nun endlich die Werktätigen zu ihrer Schokolade kommen, auf die sie so lange und so sehnsüchtig gewartet haben. Für mich war das nur Wahlrummel."
Und die Berliner Treuhand? Sie erfüllt straff ihren Staatsauftrag und liquidiert die potentielle ostdeutsche Konkurrenz. Am 2. Oktober 1990 findet die entscheidende Sitzung statt. "Ich bin nach Berlin gefahren und in diesen Konferenzraum hineingegangen", erzählt Reiner Pfaff, "und da wusste ich schon, dass wir nicht mehr als Betrieb aus dem Raum herausgehen werden. In dieser Sitzung wurden noch einmal die bekannten Zahlen benannt. Die Beteiligten, ein westdeutscher Insolvenzanwalt, ein Unternehmensberater, ein Mitarbeiter der Treuhand, der Geschäftsführer unserer GmbH, ein Betriebswirtschaftler und ich - wir wurden alle reihum gefragt, ob jemandem noch eine Lösung einfällt. Alle schüttelten den Kopf.
Wir sind in sehr gedrückter Stimmung zurückgefahren, hatten bereits für den Abend eine Betriebsversammlung einberufen. Da hat dann der westdeutsche Konkursverwalter vor der Belegschaft die Liquidation verkündet."
In einer Pressemitteilung der Treuhand vom 2. Oktober 1990 wird schließlich die Stillegung des Betriebes bekannt gegeben. Am 3. Oktober meldet es die Tagesschau: Die Liquidation von Pentacon ist beschlossene Sache. Der Jubel am Brandenburger Tor übertönt ein gewaltigeres Krachen und Klirren. Das große Zerschlagen beginnt. Nicht die Wagenräder wurden gewechselt, wie wir Naivlinge in der leeren, mitternächtlichen Raststätte glaubten, jetzt kamen die Abrissbirnen in Stellung.
In Regine Burckhardts Büro liegen die für die Brigade damals wichtigen Dinge unter Verschluss: Lohnscheine, Objektive, Prismen, Werkzeug, das knapp ist. "Und ich weiß noch genau, als ich die Lohnscheine weggeschmissen habe, haben mir die Beine gezittert. Oder die Prismen weggeschmissen, was immer unter Verschluss war, alles weggeschmissen. Mir war, als würde ich mein Leben wegschmeißen."
In den folgenden Wochen fliegt alles auf den Müll, was einmal Pentacon war. Das Mobiliar kracht durch die Fenster hinunter auf den Hof, und die Arbeiter, die noch ein paar Monate befristet in Lohn und Brot stehen, zerlegen Tag für Tag mit Schneidbrennern ihre Maschinen. Sie sind wertlos geworden, über Nacht.
Karsten Laske, Adolf-Grimme-Preisträger 2005, führte bei der zehnteiligen ARD-Dokumentations-Reihe Damals in der DDR die Serienregie. Ab 19. September zeigt das Erste drei neue Folgen, in denen auch die Pentacon-Zeitzeugin Regine Burckhardt zu Wort kommen wird.
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