Man stand im Kalten Krieg, und Westberlin glänzte als buntes Schaufenster der Freiheit. Wirbt doch nichts besser für diese als Wohlstand. Großzügig hatte man in den 1950er und 1960er Jahren kriegsbeschädigte Häuser abgerissen, außerdem unversehrte und solche, die gut wieder instandgesetzt hätten werden können. Neue Schneisen, schnellere Routen schlug man für den Stadtverkehr. Und Neubau setzt bekanntlich auch mehr Geld um. Großmäulig erzählte man sich die heilige Wertschöpfungsgeschichte von Produktivität, Verkehr, Verzehr. Die BRD subventionierte satt. Man konzipierte sogar eine Schwebebahn über den Ku’damm. Senat und Bauwirtschaft waren aufs Innigste verbandelt. Männerbünde, der Laden lief wie geschmiert.
Aber schneller noch wollte man voran. Mehr Fahrzeuge drängten, mehr Tempo und Transport sollten auf die Straßen. Zwar gab es ein paar innerstädtische Strecken Autobahn, die AVUS am Funkturm zum Beispiel. Wer aber von da nach Süden, nach Zehlendorf oder Steglitz etwa wollte, musste an Ampeln halten, Vorfahrten beachten, Umwege fahren. Das war dem Zeitgeist unerträglich und der Ökonomie ein Graus. Autos müssen rollen! Also hat man nachgedacht, und zwar schon in den 1950ern. Man ließ sich inspirieren von Ideen Albert Speers, dem Architekten Hitlers, der aus Berlin die Welthauptstadt Germania zaubern wollte einst, und konzipierte ein enges Stadtautobahnnetz für die Frontstadt.
Der es im Übrigen chronisch an Wohnraum mangelte. Denn Arbeitskräfte hatte man gerufen. Menschen waren gekommen. Sie wollten bleiben und vernünftig leben. Ein Problem. Wachsen im Sinne von Expandieren ging ja nicht. Westberlin mit seinen mehr als zwei Millionen Einwohnern war eingemauert, es lag in Feindesland. Bauland war Mangelware und wurde immer teurer. Man musste höher oder enger bauen; und wenn es heute heißt, Wohnquartiere sollen verdichtet werden – für Westberlin stand das damals schon auf der Agenda.
„Die Schlange“ verschwindet in der Schlangenbader Straße unter einem Wohnblock
So schien eine geniale Idee geboren, als man 1971 beschloss, beiden Nöten zugleich zu begegnen, und „die Schlange“ plante. 600 Meter einer Autobahn, die bald von Steglitz nach Wilmersdorf führen würde, sollten an der Schlangenbader Straße in einem Wohnneubau verschwinden. Helle Terrassen. Darunter Autos, die das Haus durchfahren in einem Tunnel. Angrenzend würden weitere, konventionelle Neubauten entstehen; insgesamt 1.758 Wohnungen. Die kalkulierten Kosten beliefen sich auf 280 Millionen Mark. Beauftragt mit dem Bau wurde die Firma Heinz Mosch, ursprünglich in Wiesbaden beheimatet, jetzt ein Big Player hier, der es glücklich gelungen war, den Grund, auf dem die Neben-Neubauten entstehen würden, selbst zu kaufen – und zwar deutlich unter dem bereits ersteigerten Wert. Günstig-glücklich auch, dass der erste Architekt der Schlange, Georg Heinrichs, sich sein Büro mit dem amtierenden Senatsbaudirektor Müller teilte. Man kannte sich, auf der Toilette wusch man sich gemeinsam die Hände. Win-win-win-win.
Im Winter 1970/71 begannen die Bauarbeiten. Der Erddamm wurde aufgeschüttet, der die Autotrasse tragen sollte. Und plötzlich erkannten Anwohner, wie mächtig sich ihr Quartier wandeln, wie es zerschnitten sein würde. Den nahe gelegenen Breitenbachplatz, wo bis dato im Frühling üppig der Flieder blühte, würde ein breiter Viadukt lärmend überqueren. Viele Kleingärten waren bereits verschwunden. Es sammelte sich Protest. Im Spiegel stand: „Den Berlinern bleibt nichts erspart. Erst die Mauer, und nun der Mosch.“
Das Projekt indessen schritt voran, wie komplizierte Bauvorhaben voranzuschreiten pflegen: langsam. Mitte 1974 war es endlich genehmigungs- und baureif. Da wurde die Öffentlichkeit von der Nachricht überrascht, Baulöwe Mosch bekomme das Herzstück, das Haus über der Autobahn, nicht abschließend finanziert. Die stadteigene Wohnungsbaugesellschaft Degewo sprang ein. Sie zahlte und übernahm. Zwei Jahre später wurde der Grundstein gelegt. Der ARD-Sender Freies Berlin (SFB) kommentierte ironisch: „Die künftigen Bewohner des aufwendigen Terrassenhauses erwartet nicht nur ein gänzlich neues Wohngefühl, sondern auch eine landschaftlich reizvolle Aussicht. Im Norden die drei markanten Schornsteine des Wilmersdorfer Kraftwerks. Im Süden ein Blick auf den dann restlos verschandelten Breitenbachplatz, der von der Autobahntrasse zerschnitten sein wird.“
Stadtplaner Hans Stimmann zur Autobahnüberbauung in Berlin: Fehlplanung, Misserfolg, Skandal
Im März 79 feierte man Richtfest. Die ewig lange Bauzeit hatte die Kosten gesteigert, ja fast verdoppelt. Massiv mussten künftig die Mieten subventioniert werden, um noch sozialverträglich zu sein. Und die Architektur des Hauses war inzwischen leider auch von gestern. 1980 zogen erste Mieter ein. Dann – senkte sich der Baugrund. Noch einmal musste investiert werden. Als das Autobahnstück, das zur und durch die Schlange führt, eröffnet wurde, war der Protest unüberhörbar laut. Der Stadtplaner Hans Stimmann von der Technischen Universität konstatierte Fehlplanung, ökonomischen Misserfolg, politischen Skandal. Es „wurde an dieser Stelle ein Stück Autobahn überbaut, das überflüssig ist!“.
Die Schlange – ein Desaster? Zumindest nicht das leuchtende Vorbild, das es hatte werden sollen für weitere Projekte dieser Art. Denn, dies vor allem, die Zeiten hatten sich gewandelt. Eine Ölkrise, mehrere Smog-Alarme und autofreie Sonntage später, und kein Mensch sehnte noch neue Autobahnen durch die Stadt herbei, seien sie nun überbaut oder nicht. Besser, Berlin ist ein menschen- statt autogerechter Ort. Oder? Ganz aktuell streiten der Bund und die Stadt über genau diese Frage. Man prüft, wie sich der von Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) gegen den Willen des Senats vorangetriebene Ausbau der Autobahn durch den Osten Berlins noch verhindern lässt. Philmon Ghirmai, Landesvorsitzender der Grünen: „In einer Zeit, in der es geboten ist, Energie einzusparen und das Klima zu schützen, braucht es keine weiteren Betonschneisen durch die Stadt.“ Wissing solle das Geld in den öffentlichen Nah-, in den Radverkehr stecken. Berlins Verkehrssenatorin Bettina Jarasch, ebenfalls Grüne, fragt sich, wo eigentlich das Tempolimit auf deutschen Autobahnen bleibt? Und die Linke will in der Sache vors Bundesverfassungsgericht ziehen, weil nicht sein könne, dass Autobahnen nur der Bund planen und bauen dürfe; in diesem Fall sogar an dem vorbei, was Land und Wähler wollen. Nur die Berliner CDU ist eisern Autopartei und heißt den Ausbau gut.
Wohnkomplex Schlangenbader Straße unter Denkmalschutz
Zurück nach Wilmersdorf und an den Breitenbachplatz. Da steht der Viadukt, auf dem Fahrzeuge brettern, grau, laut und hässlich. Darunter halten Busse, Taxis, gibt es eine U-Bahn-Station. Ein Stück weiter siedelt eine Autowerkstatt, mit dem was droben fährt, verdienen die Mechatroniker unten ihr Geld. Doch die Betonpiste hat abgewirtschaftet. Das Material ist marode, man gibt ihm noch fünf oder acht Jahre. Die Trasse neu zu bauen, plant keiner mehr. 2019 beschloss das Berliner Abgeordnetenhaus: Dieser Teil der Stadtautobahn verschwindet. In naher Zukunft werden also Flächen frei für soziale und Architektur-Ideen. Das macht den Ort zum Spielplatz urbaner Fantasie, jetzt schon, und interessant für Kreative. Architekturstudierende aus Bremen und Bordeaux haben Ideen entwickelt. Die Politechnika Warshawa und TU Berlin veranstalteten gemeinsam 2021 einen „Urban Design Workshop“: Adapting the Future – Redesign Breitenbachplatz Berlin.
Der Wohnkomplex Schlangenbader Straße ist ebenso in die Jahre gekommen und sanierungsbedürftig. Er aber steht inzwischen unter Denkmalschutz. Es hausen darin Mensch und Hund und Hamster. Die Mieten sind moderat. Vielstimmig, mehrsprachig wird in dem Bau kommuniziert. Die Kinder der Schlange wurden über rasenden Kraftfahrzeugen gezeugt. Als übe jemand pauken, trommeln, rasseln – unsichtbar –, so hört sich’s an, wenn man dem Haus sich nähert. Es fahren die Autos durch, Tag und Nacht. Wovon träumt der Beton?
Kommentare 6
Eine Idee, die zugleich genial und bescheuert ist.
Gerne gelesen!
Bringt die Schlange zurück auf den Baum...
Ja, wirklich ein interessantes Projekt für einen städtebaulichen Wettbewerb an Universitäten und Hochschulen zur urbanen naturnahen Transformation.
Zur sozialen und ökologischen Nutzung. Auch im Zusammenhang mit angepassten städtischen Verkehrs- und Transportmöglichkeiten.
https://www.ellidavis.com/vertical-forests-wooden-high-rises-eco-friendly-buildings/
https://ramboll.com/ingenuity/getting-high-on-green
Die Idee erscheint vermutlich so lange gut, wie man nicht in diesem Haus wohnen muß. Denn natürlich hat die Autobahn im Keller Konsequenzen. Die statischen Probleme kann man sicher lösen, aber was ist z.B. mit Körperschall und Erschütterungen? Nutzbaren Kellerflächen? Brandschutzmaßnahmen und Fluchtwegen? Grünflächen mit tief wurzelnden Pflanzen und Bäumen?
Ja, U-Bahn-Schächte haben diese Probleme zum Teil auch. Die liegen aber meist sehr viel tiefer und ärgern trotzdem die Anwohner.
"weil nicht sein könne, dass Autobahnen nur der Bund planen und bauen dürfe"
Das ist ja auch nicht wirklich korrekt. Richtig ist: nur der Bund darf _Bundes_autobahnen bauen. Und das ist gut so. Jawohl, dabei muß er auch in die Rechte von Ländern, Regionen, Kommunen und Gemeinden eingreifen können denn das überregionale Transportwesen muß im Interesse der Allgemeinheit funktionieren und darf nicht durch Kleinstaater-Wegelagerei irgendwelcher Ortsansässigen behindert werden.
Städte gehören eben _nicht_ ihren Bewohnern, sondern haben wesentliche Funktionen für die gesamte Allgemeinheit, die auch gegen die Partikularinteressen von Anwohnern erfüllt werden müssen. Es zwingt die Bewohner nebenbei niemand, in der Stadt zu wohnen, wenn es ihnen dort nicht gefällt.
Davon abgesehen steht es Ländern und auch Kommunen sehr wohl frei, Straßen zu bauen. Nur eben keine Bundesautobahnen und Bundesstraßen, denn für die ist wie der Name schon sagt eben der Bund zuständig. Länder können Landstraßen und Kreise Kreisstraßen bauen - alles bei Bedarf durchaus vierspurig mit Mehrzweckstreifen. Dafür sind sie zuständig und das sollten sie wo erforderlich einfach tun.
Eine Autobahn von Hamburg nach München ist eben Aufgabe des Bundes, der diese genau dann bauen sollte, wenn der Bedarf dafür vorhanden ist und genau dort, wo das aus Sicht der gesamten Bundesrepublik am sinnvollsten erscheint. Auch dann, wenn den Berlinern, Thüringern oder Sachsen was anderes gefallen würde. Anders kanns gar nicht funktionieren. In der sozialistischen Planwirtschaft wäre übrigens der Bund auch für die Feldwege zuständig. Der Föderalismus erlaubt es Kreisen immerhin, selbst über ihre Kreisstraßen zu entscheiden und Ländern, über ihre Landstraßen. Sofern der Bundesstraßenbau davon nicht beeinträchtigt wird natürlich, denn Bundesinteressen sind nunmal übergeordnet.
Kurz vorab zur Planwirtschaft. Ich bin überzeugt davon, dass es jeder LPG freistand, ihren Feldweg zu betonieren oder nicht. Ohne Politbürobeschluss.
Zum Eigentlichen. Es handelt sich in dem konkreten gegenwärtigen Fall um eine Verlängerung einer Autobahn ausschließlich innerhalb des Berliner Stadtgebiets. Man wird sehen, was die Linke zur Klage vorträgt - so sie überhaupt sich wirklich entschließt. Doch ist‘s nicht in der Tat frag- und evtl. klagewürdig, dass der Bund tausende Quadratmeter Stadtfläche über voraussichtlich Jahrzehnte der Obhut der Stadt entzieht und unter eigene Verwaltung stellt? Mal jetzt von aller Raserei und dem Versiegeln von Bodenflächen etc. abgesehen.
Die LPG hätte wahrscheinlich ohne Beschluß der Partei nichtmal legal Beton zum Betonieren eines Feldwegs gehabt. Und wenn hätte der Verantwortliche dann vermutlich der Stasi Aukunft geben müssen, warum denn ausgerechnet dieser Feldweg so wichtig ist daß man dafür wertvollen Beton verschwendet anstatt endlich die Autobahn nach Wandlitz zu sanieren.
Wie auch immer:
Daß der Bund die Möglichkeit haben muß, für den Fernstraßenbau auch Flächen zu enteignen, ist erstmal eindeutig notwendig. Egal ob für Bahnstrecken, Kanäle, Straßen, Pipelines oder Stromtrassen: schon aus dem Grundgesetz-Auftrag, für gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Bundesländern zu sorgen, ergibt sich praktisch zwingend daß man eben auch bundesweite Verkehrswege braucht und die müssen halt irgendwo hin. Da kann man nicht mit jedem Laubenpieper verhandeln obs nicht auch das Nachbargrundstück sein darf.
Außerdem ist "der Bund" ja keine fremde Macht. Sowohl die Berliner Bürger als auch die Länder sind über ihre Wählerstimmen bzw. die damit gewählten Abgeordneten sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat vertreten. Sie bestimmen also mit, was Bundesinteresse ist und was nicht, nur eben nicht alleine, denn Weitbereichsinfrastruktur betrifft eben nicht nur deren Anwohner sondern immer das ganze Land.
Speziell für den Bundesverkehrswegebau gibt es ziemlich detaillierte und komplizierte Vorgaben, wann und wo Bundesstraßen zu bauen sind. Das wird nicht ausgewürfelt und auch nur sehr bedingt ausgekungelt, s0ndern in aufwendigen und (oftmals zu) langwierigen Verfahren, an denen auch die Betroffenen durchaus beteiligt werden, entschieden. Es kann also mitnichten so sein, daß da irgendwer beschlossen hat er braucht da jetzt ne private Stadtautobahn und der Bund muß ihm die da hinbauen. Und solche Entscheidungen können auch zu Recht nicht alle Naselang revidiert werden, weil grad wieder in irgendeinem Kleinstaat die Regierung gewechselt hat, sondern irgendwann muß auch mal der Punkt kommen, an dem die Streiterei zu beenden und zu bauen ist. Auch wenns ein paar Betroffenen nicht paßt.
Sprich: man kann natürlich jetzt im Einzelfall immer irgendwo ein Haar in der Suppe finden, aber so lange wie da schon rumgemacht wird muß es halt irgendwann einfach mal gut sein und der nach allen Regeln der demokratischen Kunst zustandegekommene Beschluß umgesetzt werden. Wie will man sonst jemals irgendwas fertig kriegen?
Der Antrag, dort eine Autobahn zu bauen, ging übrigens ursprünglich ziemlich sicher von Berlinern aus, ich bezweifle irgendwie, daß irgendwer in München oder Stuttgart sich spontan dafür eingesetzt hat, ein paar Quadratmeter Berlin für Bundessteuergelder zuzubetonieren. Es wird wohl jemand nachgewiesen haben, daß da Bedarf an einem solchen Verkehrsweg zu erkennen ist und daß der da ja der Rest der Fernstraße schon Autobahn ist sinnvollerweise als Verlängerung der vorhandenen gebaut wird.
Oder die Strecke hat irgendeine militärstrategische Bedeutung, von der Ottonormalverbraucher halt nicht unbedingt weiß. Denn auch die Bundeswehr sitzt bei der Autobahnplanung natürlich in irgendeiner Form mit am Tisch, die Autobahnen dienen ja auch ihr als Tansport- und Aufmarschwege, mithin waren da im kalten Krieg sogar getarnte Behelfsflughäfen integriert. Da Berlin als Hauptstadt auch in der Hinsicht besondere Bedeutung hat, kann auch aus dieser Ecke durchaus Druck gekommen sein.