Als ihr Roman Das Siebte Kreuz, 1942 publiziert, auf dem US-amerikanischen Buchmarkt überraschend erfolgreich war und auch dessen Verfilmung gut lief, versuchte die exilierte Autorin Anna Seghers, von Mexiko aus ein Folgeprojekt anzustoßen. Sie plante, ihre damals noch unveröffentlichte Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen – die vielen heute als ihr gelungenstes Werk gilt – zu dramatisieren „als ein Nachkriegsstück“. Seghers stellte sich vor: „Ich kehre heim, die Stadt ist völlig verändert, hier noch Spuren der Bombardements, dort scheußlicher Wiederaufbau. Wo meine Schule war, ist etwas ganz anderes jetzt. Ich suche die Mädchen meiner Klasse. Sie sind unauffindbar, auch nicht durch die Polizei. Alle Jungen
Anna Seghers’ Rückkehr nach Berlin: Stadt und Menschen sind kaputt
Zeitgeschichte 1947 kehrt die Schriftstellerin Anna Seghers aus dem mexikanischen Exil zurück – in ein auseinanderdriftendes Deutschland. Das zerstörte Berlin entsetzt und fasziniert sie

Wünschte sich einen „mexikanischen Sektor“ in Berlin: Anna Seghers
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Polizei. Alle Jungen sind offenbar tot, die Alten hart …“ Die Erzählung erscheint 1946. Verfilmt oder auf die Bühne gebracht wird sie nicht.Von Mexiko aus, wo man ihr sechs Jahre lang Asyl bot und sie Staatsbürgerin wurde, startet Anna Seghers tatsächlich im Januar 1947 ihre Rückkehr, auch wenn ihr Mann László Radványi vorerst in Mexiko bleibt. Aber nicht ins erträumte Mainz reist sie. Sondern sie fährt nach Berlin, wo sie bereits gewohnt hat, bis sie gleich nach dem Reichstagsbrand 1933 floh. Die Fahrt geht via New York („Guckt Euch bitte in allen Hafenstädten um, ob Ihr noch irgendwo die Anna auflesen müsst!“, schreibt sie Freunden), Göteborg und Stockholm („wo es unwahrscheinlich, beinah unerlaubt schön ist“) nach Paris, dort studiert Tochter Ruth Medizin, Sohn Peter Physik. In einem französischen Militärzug schließlich trifft Anna Seghers – auf den Tag genau ein Jahr nachdem KPD und SPD sich für den Osten Deutschlands zur Einheitspartei zusammenschlossen – in Berlin ein.Am Abend dieses 22. Aprils 1947 läuft in den Kammerspielen des Deutschen Theaters ein sowjetisches Märchenstück. Es heißt Der Schatten und erzählt, wie es einem Schatten gelingt, brutal-zerstörerische Herrschaft zu gewinnen über „seinen“ Menschen, dessen dunkles Abbild er ist und dem er untrennbar zugehört. Der frisch entnazifizierte Gustaf Gründgens hat Regie geführt.Runinen überall in Berlin„Die Stadt ist außen und innen ganz und gar kaputt, das heißt, die Menschen sind es auch“, notiert Anna Seghers gleich nach ihrer Ankunft. Deutschland hat einen strengen Winter hinter sich. Die Leute froren, erfroren, hungerten und hungern noch. Ruinen überall, die Steine schwarz vom Brand, hinter den Fensterhöhlen wer-weiß-was. Das erschreckt die Autorin – und fasziniert sie zugleich. „Ich spreche mit niemandem darüber, dass mich diese gespenstischen Straßen jeden Abend bezaubern, erstens, weil die Russen so viel Erfolg hatten, und zweitens, weil diese Trümmer, die wie die Leiter Jakobs in den Himmel ragen, und die völlig leeren, das heißt ausgebrannten Fassaden, hinter denen die Gespenster die einzigen Bewohner sind, einen zutiefst perversen, irrationalen und surrealistischen Eindruck hinterlassen.“ Sie gibt sich keiner Illusion hin. Nirgends liest man bei ihr das Kosewort Wiedergutmachung. Und jedes hymnischen Gesangs (anders als ihr Kollege Johannes R. Becher etwa) enthält die Seghers, der „Sonntagsdeutsch“ zuwider ist, sich sowieso. Immer wieder sagt und schreibt sie, dass sie nicht wisse, wie lange sie bleibt. Sie vermisst ihren Mann und die Kinder.Die ersten Tage logiert sie am Pariser Platz im Hotel Adlon, von dem ein Seitenflügel nicht verbrannt ist. Dann bringt man sie im Hotel Casino unter, im amerikanischen Sektor abseits des innerstädtischen Trubels – heute Adresse des Literarischen Colloquiums Berlin. In Briefen schreibt sie: „Ich sitze in einer erstaunlich schönen Hotelbehausung über dem Wannsee, die nur den Nachteil hat, dass keine Käse und keine Milch auf den Wänden wachsen.“ „Ich hab’ mir ein Pfeifchen angewöhnt.“ Schade, „dass es keinen mexikanischen Sektor gibt!“.Geboren 1900 ist Netty Reiling, die sich Anna Seghers nennt, stets so alt wie das Jahrhundert, das Weltkriege vom Zaun bricht, Juden vernichtet, Gulags erfindet und mit Atombomben wirft. Darin wird sie umhergetrieben. Darin bewahrt sie Haltung. Sie ergreift, nicht laut, nicht hassend, Partei. Als „Trotzki-Stalinistin“ führt das FBI sie und legt eine schließlich über tausend Seiten starke Akte an. Man spionierte sie in Mexiko aus, las ihre Briefe. Der Antikommunismus blüht. Selten sprachen die vier Siegermächte mit einer Stimme oder wollten das Gleiche. Schon im Mai 1945 hatte Churchill den US-Präsidenten Truman vorm „moskowitischen Vormarsch ins Herz Europas“ gewarnt. „Der Kommunismus ist keine politische Partei, sondern eine böse und heimtückische Lebensart, einer Seuche gleich“, verlautbart FBI-Chef Hoover jetzt, 1947. Die USA exportieren Demokratie und kaufen sich mit ihrem Marshallplan ein in Westeuropa. Seit Anfang des Jahres sind die westdeutschen Besatzungszonen der USA und Großbritanniens „Bizone“. Der Eiserne Vorhang, er hat sich zu senken begonnen. American Way versus Rote Gefahr. Aus dem Jahr ’47 stammt der Begriff „Kalter Krieg“.Deutschen Köpfen das Nazi-Denken austreibenIn den Einflussbereich des „Bösen“ hat die Seghers sich begeben. Aus Überzeugung. Hier stürzt sie sich sofort in Arbeit. Ein Foto etwa zeigt sie am 10. Mai, dem „Tag des freien Buches“, vor der Humboldt-Uni eine Rede halten. Sie will deutschen Köpfen das Nazi-Denken austreiben. Man kann „diese Sache nicht sich selbst überlassen“. Selbstverständlich propagiert die Kommunistin Freundschaft zur Sowjetunion. Dann wieder blickt sie distanziert auf alles Treiben, entfremdet, und fühlt sich alleingelassen. „Ich habe viel herumzufahren und sehr viel zu arbeiten. Wenn ich einen Augenblick zu mir selbst komme, habe ich so ein Dornröschengefühl: ich hätte alle vergessen und alle hätten mich vergessen.“Sie sucht Schulen auf, ganz wie sie es in Mexiko träumte. „Man sieht Jungens in die völlig zertrümmerte Schule gehen in ein provisorisches Ruinenzimmer, sie haben nicht mehr als ein paar Stückchen trockenes Schwarzbrot für den ganzen Tag. Es ist hier nicht die Rede von Mitleid, nicht von irgendwelchen gütigen Gefühlen, es ist eben der Tatbestand.“ Eine Lehrerin, die jüdische Kinder unterrichtet, Entkommene der KZ, erzählt ihr: Ein polnisches Städtchen wird bombardiert. Eine Familie rennt auseinander, verliert sich. Ein Mädchen, ein kleines, verirrt sich im Wald. Es wird Nacht und ein Wolf kommt. Auf den Tod gefasst, weint das Kind. Doch der Wolf tut ihm nichts. Meint er, weil die Kleine so heftig heult und so voller Dreck, so zerfetzt ist, dass sie seinesgleichen sei? „Die paar anständigen Menschen, die ich lebend traf“, schreibt Seghers im August in einem Brief, „(manche, die ich suchte, fand ich gar nicht oder auf einem Todesurteil), stechen von den übrigen ab, wie vielleicht einmal die ersten Christen von den Zuschauern in einer römischen Arena.“Anna Seghers konnte die Mutter nicht rettenImmer wieder überfällt der Schmerz sie, dass sie ihre Mutter nicht retten konnte. Zu spät trafen Geld und Visa in Mainz ein. Hedwig Reiling wurde im März 1942, 62-jährig, in einem Transport mit eintausend anderen Jüdinnen und Juden nach Polen deportiert. Wann sie dort umkam, ist unbekannt. „Das ist grässlich, das ist die furchtbare Feigheit von den andern, die Angst, irgendeine Auszeichnung zu verpassen, sich bei der Obrigkeit lieb Kind machen zu wollen. Dadurch ist meine Mutter, und dadurch ist auch mein Freund Scheffer tot.“Ganz hat der Eiserne Vorhang sich noch nicht geschlossen. Im Juli 1947 erhält Anna Seghers den Georg-Büchner-Preis, den die Stadt Darmstadt vergibt. Weil sie, so steht es beurkundet, „in einer heimatlosen Zeit mit hohem persönlichen Verantwortungsbewusstsein ihre dichterische, politische und frauliche Berufung erfüllt hat“.Ihre Heimat gefunden in Deutschland hat Anna Seghers lange nicht. Zaudern wird sie später, ihre mexikanische gegen die DDR-Staatsbürgerschaft wegzugeben. Denn was sie sich wünscht, Vertrauen, wird kaum geschenkt. Auch nicht von den Genossen. „Ich habe das Gefühl, ich bin in die Eiszeit geraten, so kalt kommt mir alles vor.“