Ertrinken ist ein stiller Tod. Kaum merklich beginnt der Todeskampf. Die Schreie des Opfers dringen nicht nach außen, nur das panische Schnappen nach Luft. Elmas (Ecem Uzun) ertrinkt in ihrer Ehe. Auch ihre Agonie wirkt zunächst kaum auffällig. Sie bleibt verborgen in kleinen, fast unauffälligen Gesten: eine Zigarettenschachtel, die sie allzu gründlich versteckt; ein kleiner Schritt aus dem Sichtfeld der Nachbarin und ein langer, sehnsüchtiger Blick auf ein Mädchen, das nebenan für ein imaginäres Publikum rappt. Wie ein verängstigtes Dienstmädchen streift Elmas allein durch die Wohnung ihres Mannes. Sie putzt und wäscht, pudert den entzündeten Bauch der Mutter und setzt der alten Frau die Insulinspritzen.
Nur für einen ku
r einen kurzen Moment scheint Elmas ganz bei sich zu sein. Sie spielt mit einer kleinen Münze auf dem Bettlaken, das sie soeben frisch aufgezogen hat. Freudlos und doch virtuos lässt sie das Geldstück über die Oberfläche gleiten. Ein Moment, der zeigt, was in Elmas wirklich steckt. Sie ist ein Kind. Ein Kind in der Gewalt eines fremden Mannes, der sie zu seiner Ehefrau gemacht hat.Ihr Gegenbild ist Sehnaz (Funda Eryiğit). Die trägt Long Bob statt Kopftuch und wohnt im möblierten Edel-Apartment direkt am Meer statt in einer schäbigen Wohnung. Wochentags arbeitet sie als Psychiaterin im städtischen Krankenhaus. Am Wochenende wird sie im prunkvollen Istanbuler Eigenheim ihres Mannes Cem (Mehmet Kurtuluş) empfangen, mit Risotto, Steak und Rotwein. Ihre bürgerlich-liberale Schein, der sich so eindeutig von der archaischen Welt abhebt, in der die junge Elmas lebt, liegt als Firnis über den winzigen Rissen, die auch in ihrer Beziehung offenkundig werden.Mit Clair Obscur erzählt Regisseurin Yeşim Ustaoğlu erneut aus der türkischen Gegenwart. Wie im Vorgängerfilm Araf (2012) steht die weibliche Sexualität hier im Schatten der Gesellschaft. Wieder dient das Schwarze Meer als weidlich genutzte Kulisse. Wieder ist es Andreas Dresens Stamm-Kameramann Michael Hammon, der es einfängt, wahlweise als bedrohliches oder euphorisches, immer aber als tonnenschwer symbolisches Spiegelbild der emotionalen Extreme.Sanfte BefehleDie offenbaren sich, als Elmas’ Mann (Serkan Keskin) schließlich nach Hause kommt. Er ist kein cholerischer Schläger oder alkoholkranker Gewalttäter. Er berührt und begrüßt Elmas nicht. Wortkarg und verständnisvoll wirkt er, als er die Wohnung mit dem Abendessen in der Hand betritt. Wie ein verschrecktes Tier findet er seine Frau vor, gibt ihr entsprechend sanft Befehle und kümmert sich um seine Mutter. Wohlwollend redet er mit ihr über Elmas, während die das Essen vorbereitet. Dann kommt der Abend, und der Mann fordert ein, was er als sein selbstverständliches Recht begreift.Er vergewaltigt Elmas. Leise betet sie, als er ihre Bettdecke zurückschiebt. Direkt nach dem Missbrauch steht er auf und will beiläufig, wiederum fast freundlich von ihr, dass sie mehr Kohle in den Ofen legt. Was Ustaoğlu zunächst als kleine Kratzer an der Oberfläche zeigt, reißt hier zu einer Wunde auf, die das individuelle Elend innerhalb einer archaisch-patriarchalen Gesellschaftsstruktur aufdeckt.Gerade in der Selbstverständlichkeit des Missbrauchs findet das Grauen seinen Ausdruck, der hier mit entsprechender Härte inszeniert wird. Ihre Zwangsehe endet für Elmas auf dem Balkon, wo eine Nachbarin sie unterkühlt und verstört vorfindet. Elmas’ Ehemann und die Mutter liegen tot im Haus. Wo Elmas’ Martyrium endet, da gibt der Film seine Parallelstruktur auf. Im Krankenhaus begegnet sie Sehnaz, die als Psychiaterin für sie zuständig ist.Ein Aufeinandertreffen, das nicht als bedeutungsschwere Berührung zweier sozialer Schichten inszeniert wird. Es bleibt eine empathische Begegnung, die aber gänzlich als Patientin-Ärztin-Beziehung funktioniert. Clair Obscur (im Original: Tereddüt, was so viel wie „Schwanken“ heißt) löst keine Disparitäten auf. Die soziale und kulturelle Kluft hat durch Elmas’ Therapie hindurch Bestand; gerade dadurch wird deutlich, dass die sexuelle Repression, der beide Frauen in unterschiedlichen Kontexten zum Opfer fallen, alle Lebenswelten mit erschreckender Selbstverständlichkeit durchsetzt hat.So tun sich im Verlauf der Therapie Risse in Shenaz’ Beziehung auf. Die anfängliche Lust, die als so harscher Kontrast zur Zwangsehe steht, wird immer offensichtlicher als Frustration entlarvt. Der betont weltmännische Cem interessiert sich mehr für den eigenen Orgasmus und seine Pornofilmsammlung als für die tatsächliche Nähe oder Bedürfnisse seiner Frau.Der Kampf um die sexuelle Selbstbestimmung, den Shenaz mit allen Möglichkeiten der Verführung austrägt, endet stets hoffnungslos, wenn Cem sich nach seinem Höhepunkt von ihr abwendet, ohne sie zu berühren. Bei der Inszenierung von Shenaz’ gezwungener Passivität lässt sich Ustaoğlu zu abenteuerlichstem Manierismus hinreißen. Eine Art Doggystyle in Chiaroscuro markiert den perfekt ausgeleuchteten Tiefpunkt der sexuellen Beziehung.Ein ins gleiche Low-Key-Schema getauchter Seitensprung bringt Shenaz schließlich den fast schmerzvollen Höhepunkt. Das ist eine ähnlich überfrachtete Stilisierung wie die Wellen des Ozeans, die sich als Abbild des Seelenlebens der Protagonistin übereinanderfalten, um in einer Traumsequenz ihr Apartment zu überfluten. Shenaz geht laut schreiend in der tosenden symbolischen Flut unter. Doch wirklich ertrinken werden andere Frauen – lautlos, in den Strukturen patriarchaler Gesellschaften.Placeholder infobox-1