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Revolution der Demokratie Das alte Parteiensystem hat ausgedient. Warum das Parlament viergegliedert werden muss

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Sprach man einst vom real existierenden Sozialismus, so kann man heute von einer real existierenden Demokratie in Deutschland sprechen. Denn eine Demokratie im eigentlichen Sinne einer Selbstregierung des Volkes – einer tendenziellen „Identität von Regierenden und Regierten“ – hat trotz freier Wahlen und rechtsstaatlicher Gewaltenteilung noch nie existiert. Um die Gründe für dieses Versagen herauszustellen, braucht man nichts weiter zu tun, als das althergebrachte Verfahren thematisch undifferenzierter Wahlen und unstrukturierter parlamentarischer Kommunikation zu beschreiben.

„Anderen etwas vormachen und sich dabei selbst etwas vormachen
– das ist die parlamentarische Weisheit im Kern.“
Karl Marx

Alle vier Jahre soll die Bevölkerung mit einem Kreuz darüber abstimmen, wer sie in sämtlichen Angelegenheiten vertreten soll. Entsprechend stehen Parteien zur Wahl, die, von Geld- und Außenpolitik über Fragen der Bildung und Kultur bis hin zu ethischen Grundentscheidungen, alle Themen zugleich berücksichtigen müssen; somit Abgeordnete, die vorzugeben genötigt sind, auf sämtlichen Gebieten kompetent zu sein und mit der Position der eigenen Partei übereinzustimmen; ferner Regierungsmitglieder, die gestern für Familien-, heute für Arbeits-, morgen für Verteidigungs-Politik verantwortlich sind. Wen wundert es da, dass sich die Parteien in ihren grundsätzlichen Anliegen kaum noch unterscheiden? Dass weder Maß noch Mitte, sondern Mittelmaß regiert? Was den Abgeordneten an Kompetenz und Gewissensfreiheit noch verbleibt, wird mit der Machtkonkurrenz der Parteien ins Korsett der Fraktionsdisziplin gezwängt, an dessen Schnüren sich sodann ziemlich jedes fragwürdige Partikularinteresse zu schaffen machen kann, damit das gesellschaftliche Ganze auch ja der Mehrwertschöpfung dient. Im Zuge dessen werden unbequeme ökologische Einsichten und demokratische Grundwerte lieber ignoriert; schließlich müsste man andernfalls nicht nur Kapitalabfluss und Arbeitsplatzverluste in Kauf nehmen, sondern würde auch die eigene Wiederwahl gefährden, obwohl man all die schönen „Werte“ doch immer noch an Feiertagen beschwören kann. Das ist selbstverständlich keine Heuchelei, sondern – Realismus! Denn wer wäre schon in der Lage, ein humanes Wirtschaftssystem zu etablieren, wo dieses doch gar nicht zur Debatte steht?

„Wer zwischen zwei bürgerlichen Regierungen nach dem kleineren Übel sucht,
befindet sich in der Lage von Buridans Esel (der zwischen zwei gleich großen Säcken Heu verhungerte),
zwar nicht zwischen zwei Säcken Heu, um zu entscheiden, welcher der anziehendere,
wohl aber zwischen zwei Trachten Prügel, um zu entscheiden, welche die härtere sei.“
Karl Marx

Die allgemeine Verflachung der Politik könnte auch der Grund sein, warum die unsäglichen Wahldilemmata kaum wahrgenommen werden, die eine adäquate Repräsentation vollends verunmöglichen: Soll der resignierte Marxist eine gemäßigte Linke wählen, obwohl er doch ahnt, dass diese in die „SED-Falle“ getappt ist? Die erschöpfte Klimaaktivistin halbherzig für die inzwischen gutbürgerlich institutionalisierten Grünen stimmen, obwohl sie deren Außenpolitik nicht mittragen will? Der undogmatische, gleichwohl gern diffamierte Anhänger einer Geld- und Bodenreform notgedrungen SPD ankreuzen, wohl wissend, dass diese sich solcher paradigmatischer Ideen ebensowenig annehmen wird wie vor 1933? Die weltoffene wie schöngeistige Deutschlehrerin etwa eine kleinbürgerliche CDU vorziehen, weil sie bei den „linken“ Parteien das Bekenntnis zur deutschen Kultur vermisst (worein sich ihres Erachtens namentlich all die saturierten Biodeutschen integrieren sollten)? Und angenommen, eine Unternehmerin möchte der Politik signalisieren, dass sie die europäische Währungsunion für eine fatale Fehlkonstruktion hält, dank welcher ein neoliberal frisiertes Deutschland andere Länder (auch zum eigenen Nachteil) niederkonkurriert – muss sie dann wirklich eine von völkischen Nationalisten gekaperte AfD wählen, die den Euro aus ganz anderen Motiven infrage stellt?
Angesichts dieser Widersprüche wäre nun nichts leichter, als in Zynismus zu verfallen – wenn es da nicht längst eine konstruktive Alternative gäbe, die diese aufheben könnte: dieviergegliederte Wertstufendemokratie.
Entwickelt wurde dieses Modell von Johannes Heinrichs, einem Sozialphilosophen, der mit seinem bahnbrechenden, leider noch kaum rezipierten Werk eindrucksvoll beweist, dass sich das Erbe der klassischen deutschen Philosophie mit moderner Systemtheorie und dialogphilosophischem Denken zur Synthese bringen und ins Praktisch-Politische fortführen lässt. Auf Grundlage seiner umfassenden Sozialtheorie, die die Entstehung und Struktur von Gesellschaft erklärt, schlägt er einegestufte Gliederung des politischen Systems – insbesondere der Legislative – nach den vier System-Ebenen der Gesellschaft vor:

  1. Wirtschaftsparlament: Konsum, Produktion, Handel, Geld
  2. Politikparlament: Boden & Verkehr, Innere & Äußere Sicherheit, Außenpolitik, Verfassungsentwicklung
  3. Kulturparlament: Pädagogik, Wissenschaft, Publizistik, Kunst
  4. Grundwerteparlament: Weltanschauung, Ethik, Religion, Spiritualität

Diese vier bereichsspezifischen Parlamente würden unabhängig voneinander in verschiedenen Wahljahren gewählt. Im Zuge von gesonderten Wahldebatten, deren Fokus jeweils auf einer Ebene des Gemeinwesens läge, würden nunmehr, statt überforderten Allzuständigkeitsparteien, kompetente Sach-Parteien ganz neuen Stils antreten. Deren Abgeordnete müssten keine Universalgenies mehr imitieren, sondern könnten sich, ihrer individuellen Veranlagung entsprechend, auf ihr jeweiliges Sachgebiet konzentrieren, um dort die besten Ideen und Lösungsvorschläge aufzugreifen. Die themenübergreifende Machtkonkurrenz der Parteien auf Kosten der Inhalte wäre entflochten, Wahldilemmata zwischen den vier politischen Sachbereichen komplett abgeschafft. Es würde eine ganz andere, nicht macht-, sondern Themen-orientierte, dabei viel dynamischere Parteienlandschaft entstehen. Demokratie stünde nicht mehr für den frommen Ritus eines vagen Abkreuzens auf zweifelhaftem Wunschzettel, sondern für regelmäßige Abstimmungen über bestimmte Bündel von zusammengehörenden Sachfragen: Wirtschaftswahl, Politikwahl, Kulturwahl, Grundwertewahl.
Da einige Probleme mehrere Ebenen der Gesellschaft betreffen, ja grundsätzlich alle Gesetze aus jeder sozialen Perspektive zu betrachten sind, sofern Politik eine ganzheitliche und nachhaltige sein soll, müssen die Teilparlamente natürlich miteinander kooperieren. Hier bringt Heinrichs das Prinzip der Rahmengesetzgebung inklusive zirkulärer Rückkopplung ins Spiel. Gesetze würden niemals durch ein Teilparlament allein beschlossen; vielmehr wandert jeder einmal angestoßene Entwurf reihum durch alle Parlamente, sodass ein jedes, sofern sinnvoll, seine spezifische Perspektive mit einfließen lassen kann. Die rahmengesetzgebende Weisungsbefugnis gemäß der Rangfolge der Parlamente garantiert, dass ethisch-unbedingte Grundwerte über kulturellen, kulturelle über machtstrategischen, machtstrategische über wirtschaftlichen Werten und Bedenken den Vorzug erhalten; umgekehrt werden die Bedenken der rangniedrigeren Parlamenten natürlich von den ranghöheren berücksichtigt, um einer idealistischen Überforderung vorzubeugen.
Anhand des BGEs sei das Verfahren in den Grundzügen demonstriert: Das Grundwerteparlament, das mit Bezug auf die im Grundgesetz definierten demokratischen Grundwerte die ethische Gesetzes-Perspektive formuliert, könnte entscheiden, dass die Menschenwürde ein bedingungsloses Grundeinkommen einfordert, und so einen entsprechenden Gesetzesentwurf anstoßen. Dieser würde dem Kulturparlament vorgelegt, welches sowohl die Auswirkungen eines BGEs auf kultureller Ebene als auch dessen Anforderungen an die kulturellen Einrichtungen zu diskutieren und das Gesetz entsprechend zu ergänzen hätte. Während das Politikparlament außer außenpolitischen Erwägungen hierzu wohl kaum etwas beisteuern würde, läge es zuletzt am Wirtschaftsparlament, einen konkreten Vorschlag zur Realisierung und Finanzierung des BGEs zu entwickeln, der den ethischen, kulturellen und politischen Rahmenvorgaben entspricht – soweit es keine ernsthaften Bedenken gegen diese anmelden müsste, etwa Nichtfinanzierbarkeit, die Gefahr einer Inflationsspirale o.Ä. (Bei einfachen Themen kann ein Gesetzesentwurf schon nach einer Runde durch alle Parlamente bereits gänzlich ausgefeilt worden sein, sodass der zweite Durchlauf nur noch der Prüfung und formalen Bestätigung dienen würde; bei komplexeren wären voraussichtlich mehrere Durchgaben nötig, um den Gesetzesentwurf zu optimieren.)
Dieser Kreislaufverfahren mag auf den ersten Blick kompliziert erscheinen; in Wahrheit jedochvereinfachtes die Politik, indem es die strukturelle Komplexität der zu bewältigenden Probleme reduziert. Wer dies bezweifelt, könnte analog auch die Gewaltenteilung infrage stellen: Ist das für die Praxis nicht zu kompliziert? So als wäre die Gewaltenteilung das Problem – und nicht ihre mangelhafte Umsetzung!
In der Tat stellt die Viergliederung nichts anderes als eine weitergedachte oder potenzierte Gewaltenteilungdar, indem sie die formale Gliederung des Staates in Administrative, Regierungs-Exekutive, Legislative und Judikative durch seine inhaltliche Gliederung ergänzt. Sie ist ein notwendiges Strukturprinzip, das sowohl Voraussetzung einer sachlichen Politik als auch Bedingung einer gelingenden Repräsentation ist. Mit ihr lässt sich die lang vermisste Synthese von direkter und repräsentativer Demokratie erzielen: Denn die bereichsspezifischen Wahlen wären weder Abstimmungen zu Einzelfragen noch Wahlen von Allzuständigkeitsparteien, sondern Abstimmungen über bestimmte Bündel von zusammengehörenden Sachfragen. (Was die Ergänzung um weitere direktdemokratische Elemente, wie bspw. geloste Veto-Kammern, selbstverständlich nicht ausschließt; gerade Volksentscheide, nunmehr optimal vorbereitet durch ein qualifiziertes Repräsentationssystem, könnten in der Wertstufendemokratie eine gewichtige Rolle spielen.)
Wären aber mit der Revolution der politischen Strukturen allein schon die Bedingungen für eine menschliche Politik geschaffen? Daran mögen angesichts eines zu Wachstum verdammten Wirtschaftssystems berechtigte Zweifel bestehen. Heinrichs betont sogar selbst, dass auch die Wertstufendemokratie sich kaum gegen ökonomische Abhängigkeiten behaupten könnte, sofern die kapitalistischen Prinzipien der Wirtschaft unangetastet blieben. Der scheinbaren Selbstvermehrung des Kapitals durch Ausbeutung von Mensch und Natur – infolge Zins und Zinseszins, Spekulation, profitablem Eigentum an Boden und Produktionsmitteln – müsste ein Riegel vorgeschoben werden. (Auch dazu entwickelt Heinrichs immerhin bedenkenswerte Vorschläge, insbesondere durch die Würdigung der Geld- und Bodenreform aus marxistischer Perspektive; diese könnten seines Erachtens den entscheidenden Anstoß zu einer sozialökologischen Transformation geben, die ihren Namen verdient.)

So bestürzend die Perspektiven, die sich für das 21. Jahrhundert eröffnen, so wenig ist die gegenwärtige Demokratie den kommenden Herausforderungen gewachsen. Die Parteien gestalten keine Zukunft, sie reagieren bloß – auf Zwänge, die sie selbst verantworten, wenn nicht erschaffen haben. Und während mit Geld- und Bodenreform, Bildungsreform, BGE, Börsensteuer, emanzipatorischen Arbeitszeitmodellen, Gemeinwohlökonomie, Vorschlägen zur Energiewende, zur Entwicklungshilfe, zur Drogen-, Sozial-, Antidiskriminierungspolitik undundund tausend diskussionswürdige Ideen vor dem Reichstag Schlange stehen, wartet die tausendundeine Idee, die Bedingung einer sachlichen Diskussion, ja Kenntnisnahme all dieser Ideen ist, immer noch darauf, von den Medien aufgegriffen zu werden. Dass dies bislang kaum geschah, spricht nicht gegen, sondern für sie. Denn wenn schon Grundsatzdiskussionen kaum erwünscht sind, wie erst recht dann ein grundlegender Alternativvorschlag? Dabei könnte Deutschland heute einen großen konstruktiven Beitrag leisten: sich im Zuge der nächsten friedlichen Revolution erstmals selbst eine neue und eigens weiterentwickelte demokratischeVerfassung geben – und damit den Anstoß zu einem weltweiten Aufbruch im Zeichen von Demokratie und Menschenwürde.

Schon zuvor wurde die Wertstufendemokratie in der FC diskutiert: https://www.freitag.de/autoren/pleifel02/skizzen-einer-erneuerten-demokratie-1

Heinrichs zu Marx und Gesell: "Johannes Kleinhappl und Silvio Gesell – ein Zweigespann für das 21. Jahrhundert?" https://www.johannesheinrichs.de/media/155/cms_4d9306270a129.pdf

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Kasper Hauser

Man fand mich in einem Körbchen, treibend auf dem Tannbach, genau auf der Grenze zwischen West und Ost, im schönen Dörfchen Mödlareuth…

Kasper Hauser

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