Jureks Erinnerungen

Buch der Woche Ende der neunziger Jahre lernt Katharina Bader den Auschwitz-Überlebenden Jurek kennen. Als er stirbt, begibt sie sich auf ­Spurensuche und schreibt über sein Leben und die Zeit mit ihm. Eine Leseprobe

Leseprobe:

Ich mag die Atmosphäre in diesem Zug. Auf keiner anderen Zugstrecke habe ich so viele gute Gespräche geführt – mit Fremden und auch mit alten Bekannten, die ich hier zufällig wiedergetroffen habe. Nette polnische Rentner, die ihre Enkelkinder in Deutschland besuchen, Leute, die irgendwann einmal mit mir im selben Polnischkurs waren, polnische Journalisten, die über Deutschland ­schreiben und die ich von irgendwelchen Workshops kenne, deutsche Professoren, die über Polen forschen und bei denen ich einmal in einer Vorlesung saß … All diese Menschen sind im Berlin-Warschau-Express daheim.

Das Wohnzimmer dieser polnisch-deutschen Familie ist der Speisewagen. Glücklicherweise ist es ein polnischer Wars-Speisewagen und kein deutsches „Bordrestaurant“. Das Rührei wird hier aus Eiern in der Pfanne gemacht und nicht aus Pulver in der Mikrowelle. Den Ober mit Schnurrbart, der hier meistens bedient, kenne ich schon lange, aber nur „vom Sehen“, genau wie die Landschaft, die vor dem Fenster vorbeifliegt. Ausgestiegen bin ich unterwegs noch nie. Draußen liegt kein Schnee, aber es hat gerade begonnen zu schneien. Der Zug fährt durch große, nasse Flocken, die sich auf dem Fenster in Wasser verwandeln, das vom Fahrtwind über die Scheiben gejagt wird. Wieder ist Winter. Bald wird ein Jahr seit Jureks Tod vergangen sein.

Der schnurrbärtige Kellner bringt mir die Speisekarte. Außer ihm sind heute hier keine bekannten Gesichter zu entdecken, und ich bin froh darüber, denn ich will heute gar nicht reden, lieber aus dem Fenster schauen, nachdenken und Tagebuch schreiben. Ich habe ein extra „Polentagebuch“, in das ich immer schreibe, wenn ich in Polen unterwegs bin. Darin zu lesen gehört für mich zum Ritual jeder Fahrt im Berlin-Warschau-Express – genau wie das Aus-dem-Fenster-Schauen.

Wir haben die Oder schon überquert und fahren nun durch flaches Land: kahle Felder, Dörfer, hier und da ein Birkenwäldchen, manchmal ein Bahnübergang. Die Strecke ist für mich ein guter Gradmesser dafür, wie das Land sich verändert: In den letzten fünf Jahren sind tausende bonbonfarbener Einfamilienhäuser mit Erkern und großen Garagen zwischen die alten Holzhäuser und die sozialistischen Betonblöcke gebaut worden. Rund um die Städte wuchern moderne Fabrikhallen und riesige Einkaufszentren: Hypermarché, Ikea, Obi. An den Bahnübergängen standen vor ein paar Jahren noch Fiat Polski und warteten darauf, dass die Schranke hochgeht. Nun sind Brücken gebaut worden, und auf den Straßen sieht man die gleichen Autos wie in Deutschland: Opel, VW, Mercedes …

Leider hat die Europäisierung auch die Speisekarte des Berlin-Warschau-Express erreicht. Frankfurterki – Frankfurter Würstchen mit Parmesan. Italienisches Bruschetta. Französisches Frühstück mit abgepackten Croissants. Beruhigt bin ich aber, als ich die Piroggen mit Griebenschmalz wiederfinde, die es hier schon immer gab, und auch das legendär gute Rührei. Ich bestelle Rührei mit Brot und Tee. Noch vier Stunden bis Warschau. Ich bin in den letzten neun Jahren oft nach Polen gefahren. Nun fahre ich zum ersten Mal in dem Wissen, dass Jurek und ich dieses Mal nicht zusammen Tee trinken werden.

Als ich 1999, direkt nach dem Abitur, in dieses Land kam, um für ein Jahr zu bleiben, verstanden viele meiner deutschen Freunde nicht, was ich dort wollte. Die Vereinigten Staaten oder Neuseeland hätten wahrscheinlich die meisten ganz normal gefunden, aber bei Polen fragten Freunde, Nachbarn und Lehrer: „Warum denn gleich so weit weg?“ und „Ist das denn nicht gefährlich, so allein?“

Ich hatte viele Gründe, so weit weg zu wollen, und einer davon war, dass ich „so allein“ sein wollte. 19 Jahre hatte ich in einem schwäbischen Dorf verbracht, in dem die Hecken gerade geschnitten sind, der letzte Bus von der nächsten Stadt aus um 22.30 Uhr abfährt und in dem jeder jeden kennt. Ich wollte etwas anderes sehen und anders gesehen werden, nicht als Teil einer großen Familie, mit einem Vater, der Leserbriefe schreibt, einer Mutter, die Kommunalpolitik macht. Ich wusste, dass ich meine Familie vermissen würde, aber ich wollte endlich irgendwo neu sein, fremd und allein.

Und so war ich eigentlich nicht traurig zu hören, dass es die besten Polnisch-Anfängerkurse in Krakau gibt, nicht in Warschau, wo ich bei Jurek hätte wohnen können. Ich war zwar auch sehr froh, dass in nur zweieinhalb Zugstunden Entfernung jemand leben würde, der mir vertraut und lieb war, aber mehr Nähe wollte ich nicht – auch weil ich seit dem Erzählmarathon im Sommer wusste, dass es mit Jurek sehr anstrengend sein konnte.

Ich studierte an einem Institut der Krakauer Jagiellonen-Universität, das für ausländische Studenten bestimmt war, polnische Sprache und Landeskunde. Es lag auf einem Hügel vor den Toren der Stadt mit Blick über die Weichsel. Das Hauptgebäude des Instituts sah aus wie eine alte Burg, aber in Wirklichkeit war es erst Anfang der Vierzigerjahre gebaut worden – im besetzten Polen als SS-Sanatorium. Jetzt studierten hier Studenten aus dreißig verschiedenen Ländern: Franzosen, Koreaner, Brasilianer, Schweden, Dänen, Japaner und ziemlich viele US-Amerikaner.

Der Erasmus-Boom hatte Polen noch nicht erreicht, und fast alle, die damals nach Krakau kamen, um Polnisch zu lernen, hatten eine spannende Familien- oder eine romantische Liebesgeschichte zu erzählen. Es gab da einen schüchternen fünfzigjährigen Dänen namens Ole, der in eine energische Polin namens Jadwiga verliebt war, die ihr Land aber auf keinen Fall verlassen wollte. Deshalb hatte Ole daheim alles verkauft und war mit seinen fünfzig Jahren noch einmal in ein Studentenwohnheim eingezogen, um Polnisch zu lernen und dann zu seiner Jadwiga in die südpolnische Kleinstadt Pszczyna zu ziehen.

In meinem Anfängerkurs saß auch ein 17-jähriger Kerl mit langen, zotteligen Haaren, der sich als Mikołaj Rej vorstellte. Die Lehrerin dachte, er mache einen blöden Witz, denn Mikołaj Rej war der erste Dichter, der im 16. Jahrhundert auf Polnisch schrieb und der deshalb als „Vater der polnischen Literatur“ bezeichnet wird. Unser Mikołaj Rej konnte auch am Ende des Semesters auf Polnisch eigentlich nur ein Bier bestellen, aber er war tatsächlich ein Spross der adeligen polnischen Dichterfamilie, die schon zur Zeit der polnischen Teilung nach Frankreich emigriert war.

Ein paar Zimmer weiter wohnte eine Belgierin namens Marysia Sobieski, Nachfahrin des polnischen Königs Jan Sobieski, der die Türken vor Wien zurückgeschlagen hatte. Ich erzählte Jurek am Telefon von meinen neuen Bekanntschaften.

– Siehst du, echte Polen zieht es alle wieder heim.

– So arg echt sind die nicht, Jurek. Die sprechen alle kein Polnisch – sogar ich kann mehr Polnisch als Mikołaj Rej.

– Nicht schlecht für eine Szwabka. Wann besuchst du mich in Warschau?

Szwab, also Schwabe, und Szwabka, also Schwäbin, sind auf Polnisch Schimpfwörter – und zwar noch viel deftigere als „Polacke“ im Deutschen. Aber wenn Jurek mich am Telefon eine Schwäbin nannte, dann klang das liebevoll, ja, fast ein bisschen stolz.

Polen, Krakau und das internationale Studentenwohnheim auf dem Berg waren genau das, was ich nach 19 Jahren schwäbisches Dorf gebraucht hatte – es war die große, weite Welt, aber sehr verdauungsfreundlich portioniert und malerisch schön gelegen. Abends zogen wir oft durch die zahllosen Kneipen und Clubs, die in den gotischen Gewölbekellern der Krakauer Altstadt zu entdecken sind. Wir kochten im Studentenwohnheim reihum: koreanisch, brasilianisch, deutsch, französisch. Alles war neu und aufregend für mich.

Die polnische Sprache fiel mir erst mal sehr schwer. Der Ortsteil von Krakau, in dem sich unser Institut befand und in dem ich nun auch wohnte, hieß Przegorzały, aber der Taxifahrer, der mich aus der Kneipe heimbringen sollte, verstand auch beim vierten Anlauf nicht, wohin ich wollte – ich musste ihm den Namen schließlich aufschreiben. Als ich endlich daheim war, schlug ich im Wörterbuch nach, was dieser absurde Ortsname zu bedeuten hat, und stellte bei der Gelegenheit fest, dass ungefähr ein Zehntel aller polnischen Worte mit diesem unaussprechlichen prz-Laut beginnen. Am nächsten Tag erklärte mir die Polnischdozentin dann auch noch, dass ich den Ortsnamen, genau wie jedes anderes polnische Substantiv, je nach Fall komplett verändern müsse: in Przegorzały – w Przegrorzałach, nach Przegorzały – do Przegorzał … Sieben verschiedene Fälle, jede dritte Form schien eine Ausnahme zu sein.

Am zweiten Wochenende fuhr ich mit müdem Kopf und verknoteter Zuge zu Jurek nach Warschau. Es war das erste Mal, dass ich ihn in seiner Wohnung besuchte. Ich staunte darüber, wie eng dort alles war: die kleine Küche mit dem Gästebett. Das Badezimmer, in dem kein Platz für ein Waschbecken war. Man wusch sich die Hände über der Badewanne. Das helle, aber nicht sonderlich große Wohnzimmer, in dem der runde Holztisch stand und auch Jureks Bett mit dem Nachttisch und den Fotos der Enkelkinder darauf.

Jurek trainierte mit mir, wie man „Przegorzały“ ausspricht – hundertmal und in allen grammatischen Formen, so lange bis es ganz richtig war. Dann zeigte Jurek mir Warschau. Warschau und Krakau, die beiden größten polnischen Städte, wirken, als lägen sie auf unterschiedlichen Planeten und nicht nur ein paar hundert Kilometer voneinander entfernt. Krakau ist eine gemächliche Stadt, eine Spaziergängerstadt mit engen Gassen, weiten Plätzen und wunderschönen alten Gebäuden, die im Krieg fast alle unversehrt geblieben sind. Die Deutschen wollten viele der Baudenkmäler bei ihrem Abzug zwar eigentlich sprengen, aber die Rote Armee rückte schneller vor als gedacht und verhinderte die Zerstörung.

Warschau ist anders: Jurek und ich spazierten durch eine hässliche Plattenbausiedlung, die bis in die Innenstadt hineinwuchert, und standen dann plötzlich inmitten ultramoderner Wolkenkratzer. Kühle Spiegelglasbauten aus den Neunzigerjahren, funktionale Wohnsilos aus den Siebzigern, stalinistische Prachtbauten mit überlebensgroßen Statuen von Arbeiterhelden aus den Fünfzigern und irgendwo, zwischen all dem versteckt, hier und da eine hübsche alte Barockkirche, die nach dem Krieg wieder aufgebaut wurde, die aber optisch völlig erdrückt wird von all den neueren und größeren Gebäuden rundum.

Warschau kam mir chaotisch und irgendwie konzeptlos vor. Oder genauer gesagt: anhand zu vieler zu gegensätzlicher Konzepte zu oft umgebaut. Und dann noch die Autos: überall stinkende, hupende Autos. Keine Spaziergängerstadt. Wer zu Fuß ging, ging schnell und schien auf dem Weg irgendwohin zu sein. Nur Jurek und ich bewegten uns inmitten von alledem ganz gemächlich fort.

„Schau mal, dort an der Wand“, sagte Jurek, und ich dachte zuerst, er meine das riesige Reklameplakat für ein teures Parfüm, auf dem der schöne Rücken einer nackten Dame zu sehen war. Aber Jurek meinte das kleine Marmorschild daneben. „An dieser Stelle wurden am 1. 3. 1943 zwanzig polnische Zivilisten von den Hitlerowcy erschossen“, stand darauf. Es gibt sehr viele solcher Tafeln in Warschau. Wann immer polnische Partisanen während der Besatzungszeit einen Anschlag verübten, erschossen die Deutschen zur „Vergeltung“ beliebig ausgewählte Hauptstädter. Aber Jurek zeigte mir das Schild nicht in erster Linie, um auf die Opfer aufmerksam zu machen – Jurek wollte mir vor allem die Geschichte der mutigen Partisanen erzählen, die eine Menge deutscher Waffen erbeutet hatten bei dem Anschlag, der der Erschießung vorausgegangen war.

– Wussten die Partisanen, dass Leute umgebracht werden für ihre Aktion?

– Natürlich. Man hat das ja gemacht, damit es die Partisanen wissen. Damit sie aufgeben. Und damit die Leute sie nicht mehr unterstützen.

– Und hat das funktioniert?

– Nein.

Jurek war erstaunlich gut zu Fuß. Wir liefen durch einen Park zur Altstadt, die etwas abseits vom heutigen Zentrum liegt. Hier gibt es enge Gassen und Häuser mit spitzen Giebeln, genau wie in Krakau. Aber irgendwie kam mir die Warschauer Altstadt unwirklich vor. Kulissenhaft.

– Ganzes dieses Gebiet war völlig zerstört, nachdem die Deutschen sind rausmarschiert. Das war ein Befehl von ganz oben. Warschau sollte überhaupt nicht mehr existieren. Ausradiert. Aber Polen haben die Altstadt wiedererrichtet, gleich nach dem Krieg. Sie haben das durchgesetzt ganz gegen die Pläne von Sowjets, die ganzes Warschau im Stil von Stalin aufbauen wollten.

– Jurek, als Kind hast du doch auch eine Zeit lang in Krakau gelebt, oder?

– Ja, bei Oma und später bei meiner Tante. Meine Tante war Schauspielerin im alten Theater in Krakau. Gute Schauspielerin übrigens.

– Was ist mehr deine Stadt, Krakau oder Warschau?

– Krakau liebt jeder von allein. Vielleicht die schönste Stadt der Welt. Warschau hat fürchterlich geduldet und kämpft immer noch, um wiederzubekommen sein Gesicht. Warschau muss man sich erlieben. Ich kam gleich nach dem Krieg her, wegen der Möglichkeiten zu arbeiten. Warschau war damals größter Haufen aus Trümmern in ganz Polen, aber auch größte Baustelle. Kaputte Stadt, die nicht kaputt bleiben wollte. Eine sehr gute Stadt für Mann in meinem Zustand. Und deshalb ist Warschau meine Stadt.

Nach unserem Spaziergang gingen wir essen, und zwar ins Kogut, also in genau das Restaurant, in dem ich viele Jahre später, nach Jureks Beerdigung, mit seinem Sohn, seinen Enkeln und der Wollmützenfrau essen würde.

Über diesen ersten Nachmittag im Kogut steht einiges in meinem „Polentagebuch“. Wir saßen lange dort. Jurek erzählte – dieses Mal nicht von Auschwitz, sondern von der Zeit nach dem Krieg und davon, wie er zurückgefunden hatte ins Leben. Direkt nach der Befreiung hatte Jurek in Oberschlesien als Lkw-Fahrer gearbeitet, obwohl er nicht einmal einen Führerschein besaß. Er hatte einfach behauptet, sein Führerschein sei zur Kriegszeit verloren gegangen.

Dann wurde er, dank eines Freundes, der auch in Auschwitz gewesen war und nun ein hohes Amt bekleidete, zum Vizedirektor einer staatseigenen Mühle bei Warschau ernannt. Jurek sagte, er sei überhaupt nicht ausgebildet gewesen für diese Tätigkeit, aber er habe die Arbeit doch gut gemacht – vor allem, weil er die Fähigkeit hatte, Material zu organisieren, das es im völlig zerstörten Nachkriegspolen eigentlich gar nicht gab. Organisieren hatte er in Auschwitz gelernt.

Es müssen chaotische Zeiten gewesen sein: Die Städte waren zerstört. Es gab fast gar keinen Wohnraum. Das Land war ausgeplündert. Ein Fünftel der polnischen Vorkriegsbevölkerung hatte die Besatzungszeit nicht überlebt. In jeder Familie fehlten also Väter, Söhne, Brüder, Mütter … Kommunisten und nationale Polen rangen um die Macht, in den Wäldern tobte ein Partisanenkrieg. Und überall waren Flüchtlinge, weil die Siegermächte Polen nach Westen verschoben hatten: Gebiete, die vor dem Krieg polnisch waren, wurden nun sowjetisch, und Gebiete, die vor dem Krieg deutsch waren, wurden nun polnisch.

Irgendwann, mitten in diesem Chaos, beschlagnahmten die Sowjets die Mühle, die Jurek leitete, demontierten sie und transportierten sie nach Osten. Jurek war also plötzlich Vizedirektor einer nicht mehr existierenden staatlichen Mühle, aber er und sein Direktorenkollege wussten sich auch in dieser Situation zu helfen. Sie richteten den Betrieb einfach neu aus: Dieselben Arbeiter, die bisher Mehl gemahlen hatten, bauten jetzt Brücken, was ebenfalls ein gewinnbringendes Geschäft war, denn die meisten Brücken Polens waren zerstört.

Als ich Jurek fragte, wie er es denn geschafft habe, aus Müllern Brückenbauer zu machen, da sagte er einfach: „Bücher. Wir haben sehr viele Bücher über Brückenbau gelesen.“

1949 wurde Jurek von seinem Posten entlassen, weil er sich weigerte, in die kommunistische Partei einzutreten, die in Polen inzwischen die Alleinherrschaft errungen hatte. Jurek musste sich nach einer neuen Beschäftigung umsehen. Das war nicht leicht, denn er hatte beschlossen, nie wieder in einer untergeordneten Position zu arbeiten.

„Ich habe im KZ genug Befehle für hundert Leben bekommen“, erklärte er mir, während er nun im Kogut genüsslich Kartoffelpuffer mit Pilzsoße aß. „Aber ohne rotes Parteibuch konnte ich nicht in höheren Position arbeiten. Deshalb habe ich mir immer gesucht eine Nische, in der ich arbeiten konnte allein. Frei. Freiheit war einzige Bedingung – sonst konnte ich mich einstellen auf überhaupt jede Beschäftigung.“

Jurek verdiente sein Geld ab Ende der Vierzigerjahre als Grafiker, denn beruflich selbstständig sein konnte man im stalinistischen Polen eigentlich nur als „Künstler“. Er gestaltete Wanderausstellungen zum Thema „Arbeitsschutz und Verhinderung von Betriebsunfällen“, die in den Kantinen der neu erbauten Fabriken gezeigt wurden. Er versuchte sich aus der Politik herauszuhalten. Er lernte Krystyna kennen, seine spätere Frau, die ihn beeindruckte, weil sie fröhlich war und „auf normale Art jung“, wie Jurek es nannte. Das sei im Nachkriegspolen selten gewesen. Er sagte, er habe Krystyna „völlig überstürzt“ geheiratet. Im Januar 1952 kam dann sein Sohn Tomek zur Welt.

Auschwitz wollte Jurek in dieser Zeit nur vergessen. Und es wollte sie ja auch niemand hören, seine Geschichten über das Lager. Andere Probleme waren drängender. „Ganze Gesellschaft war uns ehemaligen KZlern gegenüber hart in dem Sinne, dass man uns überhaupt nicht unterschieden hat gegenüber normaler Leute. Und wir haben auch selbst alles getan, um so schnell wie möglich zu dieser Gruppe anzuschließen, welche als normal betrachtet wird. Wir waren ja auch nicht unnormal, eigentlich.“

Mitte der Fünfzigerjahre wurde Jurek krank – ständig fühlte er sich beengt und hatte oft Atemnot. Nur in den Bergen Südpolens, also dort, wo er als Jugendlicher mit den Pfadfindern zum Skilaufen gewesen war, hatte er noch das Gefühl, frei atmen zu können. Er beschloss, in die Tourismusbranche zu wechseln. Dass er dadurch kaum noch bei seiner Frau und dem kleinen Sohn in Warschau war, war für Jurek kein Nachteil. Die Einzimmerwohnung in Warschau, in der Windeln trockneten, Essen gekocht wurde und das Kind gerade laufen lernte, war ihm ohnehin zu eng. Jurek brauchte seine Freiheit. Im Gebirgsort Zakopane gab er von da an den ganzen Winter hindurch polnischen Parteifunktionären und besonders verdienten Arbeitern Skiunterricht.

– Jurek, wie hast du es geschafft, in all diesen verschiedenen Berufen ohne irgendeine Ausbildung zu arbeiten? Ich meine, das klingt ziemlich unglaublich.

– Weißt du, ich hatte sehr gute Ausbildung dafür, ohne Ausbildung zu arbeiten.

– Wie meinst du das?

– Vor dem Krieg habe ich überhaupt nichts gelernt. Aber im Auschwitz konnte man als Lateinschüler, der überhaupt nichts kann, nur Deklinationen, nicht überleben. Ich habe also gelernt, wie man ganz schnell funktioniert in verschiedenen Berufen. Zum Beispiel als Automechaniker, ohne davor je einen Motor gesehen zu haben. Oder als Zimmermann. Ich habe gelernt, wie man ganz genau zusieht, was andere machen, und ganz schnell versteht. Und dann einfach macht. Nur so konnte ich überleben. Deutsch habe ich auch so gelernt. Im Auschwitz.

– Wie hast du das denn geschafft?

– Das erzähle ich gleich. Jetzt müssen wir erst mal über andere wichtige Fragen entscheiden, und zwar über Frage vom Nachtisch: Kompott oder Szarlotka?

Als die Szarlotka, ein warmer polnischer Apfelkuchen, dampfend vor uns auf dem Tisch stand, begann Jurek zu erzählen, wie er damals im KZ Deutsch gelernt hatte.

Im KZ haben solche junge Leute wie ich am meisten geduldet, weil sie überhaupt kein Wissen gehabt haben, das gebraucht wurde zum Ausbau von Lager, und deshalb eingeteilt wurden für die schwerste Arbeit: Sie mussten tragen die Säcke mit fünfzig Kilo, die fast so schwer waren wie wir, und wir mussten auch Gräben bauen, bei Regen und Schnee, und die durchnässten Uniformen musste man auch am nächsten Tag wieder so nass anziehen. Das war das Schicksal der jungen Leute. Jeder war verzweifelt auf der Suche nach irgendeinem Beruf oder einer Tätigkeit, mit der er sich auskannte, um bisschen weniger schnell zu krepieren.

Ich habe gemerkt, dass gebraucht wurden Leute, die Deutsch sprachen und auch schreiben konnten mit gotischen Buchstaben. Das Lager war im Bau und man hat aufgestellt überall große Tafeln mit „HALT! TODESZONE!“ und „ES WIRD SCHARF GESCHOSSEN!“. Die SS hatte sich ausgedacht, dass die Tafeln schwarz angestrichen sein müssen und darauf in gotisch Buchstaben mit weißer Farbe die Schrift. Warum das so gemacht sein musste, weiß ich auch nicht. Vielleicht, damit es die Polen, die damals noch ganz große Mehrheit waren im Auschwitz, nicht lesen könnten? Auf jeden Fall habe ich gewittert die Chance auf eine bessere Arbeit.

Ich habe organisiert irgendwo ein Bleistift und auch von Klohäuschen von Wachmannschaft eine Zeitung, und zwar solche Zeitung, die unsere SS-Intellektuellen sehr gern gelesen haben: den „Stürmer“. Wenn sie mich erwischt hätten, hätten sie mich einfach umgebracht, weil Diebstahl von wertvollem Klopapier für SS-Hinterteil war natürlich wert Todesstrafe, aber ich habe die Zeitung geschnappt, bin abgehauen und habe mir in freiem Moment gesucht ein sehr gutes Versteck im Keller von Block drei und dann versucht die gotischen Buchstaben nachzumalen und auch Wort zu Wort zu übersetzen, was da steht, um überhaupt besser Deutsch zu lernen – weil in der Schule hatte mich Deutsch überhaupt gar nicht interessiert.

Die Szarlotka hatte aufgehört zu dampfen, als ich mir die erste Gabel nahm. Das habe ich nie gekonnt – zu essen, während Jurek von Auschwitz sprach. Das ist so geblieben, all die Jahre. Jurek war da anders. Er aß genüsslich seinen warmen Apfelkuchen, während er über den Hunger, die Kälte und die schweren Betonsäcke sprach. Aber Jurek musste ja auch immer mit diesen Erinnerungen leben. Nicht nur, wenn er darüber sprach.

Wir saßen an diesem Tag sehr lange im Kogut. Nach dem Apfelkuchen gab es einen Verdauungswodka. Wir wechselten das Thema, ich erzählte von dem, was mich beschäftigte, und Jurek begann mich zu beraten. Wir redeten lange, und es war ein gutes Gespräch. Wir bestellten noch eine Portion Kartoffelpuffer und noch einmal Wodka. Ich mochte es, wenn Jurek mich beriet. Einen trivialen Satz wie „In zehn Jahren wirst du darüber nur noch lachen“ hat Jurek dabei nie zu mir gesagt. Er nahm meine Sorgen ernst. Eine Zeit lang habe ich mich darüber gewundert. Meine jugendlichen Problemchen mussten Jurek doch lächerlich erscheinen angesichts all dessen, was er in meinem Alter schon durchgemacht hatte.

Aber irgendwann wurde mir klar, dass Jurek, wahrscheinlich gerade weil in seinem Leben für die kleinen emotionalen Nöte kaum Raum gewesen war, meine Problemchen so interessiert verfolgte. Es machte Jurek Freude mitzuerleben, dass ein junger Mensch heute seine ganze Energie darauf verwenden kann zu entscheiden, ob X oder Y besser zu ihm passt. Ob man in den Semesterferien ein Praktikum macht oder lieber einen gut bezahlten Ferienjob. Jurek fand nicht, dass solche Fragen irrelevant sind. Er gönnte mir ein Leben, das sich um solche Probleme drehte, und er nahm gern daran teil ...

© 2010 by Verlag Kiepenheuer Witsch GmbH Co. KG, Köln

Katarina Bader Jureks Erben. Vom Weiterleben nach dem Überleben384 Seiten, 19,95Kiepenheuer & Witsch


Katarina Bader wurde 1979 geboren und wuchs in einem Dorf am Fuß der Schwäbischen Alb auf. In München, Krakau und Warschau studierte sie Journalistik, Politikwissenschaft und osteuropäische Geschichte. Eine journalistische Ausbildung erhielt sie an der Deutschen Journalistenschule. Katarina Bader lebt in München, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ludwig-Maximilians-Universität und ist außerdem als freie Journalistin tätig. 2007 wurde sie mit dem Deutsch-Polnischen Journalistenpreis ausgezeichnet


Das Buch ist am 22. Februar 2010 erschienen

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