Auf der anderen Seite des Satzes

Kehrseite I Ein Radieschen. Ich ziehe ein Radieschen. Noch eines. Es wird ein Bund zu zwanzig Stück. Noch ein Radieschen. Das Bund ist fertig. Ich lege es ...

Ein Radieschen. Ich ziehe ein Radieschen. Noch eines. Es wird ein Bund zu zwanzig Stück. Noch ein Radieschen. Das Bund ist fertig. Ich lege es beiseite. Das nächste Bund. Neben mir liegen achtundzwanzig Bund Radieschen. Die Sonne steht hell in der Mitte des Himmels, in der Mitte des Feldes. Neben mir die achtundzwanzig Bund, vor mir die Radieschen, hinter mir noch mehr Radieschen, noch mehr Pflücker. Ich bin diesen Sommer Radieschenpflücker.

Weswegen die anderen pflücken, interessiert mich nicht. Sie bündeln genauso schnell wie ich, fast schneller bündeln sie. Das Ziehen und Bündeln bedarf des Feldes, der Hände, des Zählens. Mehr brauchen wir nicht, mehr brauche ich nicht diesen Sommer. Die grünen Blätter der Pflanzen stehen in der Erde wie ein Blumenstrauß in einer Vase. Die Sonne vergesse ich während des Pflückens. Der Rücken schmerzt, anfangs habe ich mich noch hingehockt, um nicht die nasse Erde am Abend aus den Pflückerhosen waschen zu müssen. Inzwischen knie ich wie alle anderen, ab und zu setze ich mich sogar. "Na, schmerzt der Rücken?", ruft mir manchmal einer zu, dessen Rücken nicht schmerzt. Wäre ich dreißig Jahre jünger, würde ich einer alten Frau auf dem Feld dasselbe zurufen. Aber nun, auf der anderen Seite des Satzes, kann ich nur mit den Schultern zucken und leicht nicken.

Das Feld bringt Geld. Feld Geld. Das habe ich gedacht, das denke ich, während ich ein Radieschen ziehe. Geld. Feld. Geld. Ganz einfach. Einfacher noch wäre es tatsächlich auf der anderen Seite des Satzes. Auf dieser Seite pflücken sie für Führerscheine, für Mopeds, für einen zweiten Sturzhelm für die Freundin pflücken sie und für Schmuck, einen Ring, eine Kette, oder nur für einen beeindruckenden Apfelsaft. Sie pflücken schnell und energisch. Schnell und energisch pflücke auch ich. Das Geld auf dem Feld brauche ich dringender als die Rückenschmerzenverhöhner. Es ist eine kreisförmige, langsame Augenbewegung, die ich ausführe, gemeinsam mit den ruckartigen Handbewegungen. Drehen, ziehen, drehend ziehen. Beiseite legen. Zählen. Drehend ziehen, beiseite legen, zählen, solange, bis ich zwanzig erreicht habe, ein Band aus der Tasche hole, ein Bund forme. Bund Band. Warum nur gleichen sich alle Worte eines Radieschenpflückers und machen dessen Welt noch kleiner, als sie ohnehin schon ist?

In der Luft über meinem Teil des Feldes liegt etwas anderes. Es liegt dort die Beerdigung. "Aber wenn", sagen Stimmen, "aber wenn er nun schon gestorben ist, gestorben ist viel zu früh, vor der Zeit, vor der Frau, dann darf keine kleine Beerdigung her." Vorher habe ich nicht gewusst, dass es kleine und große Beerdigungen gibt. Vorher habe ich nur von Kaffee und Tee und Kohlrübensuppe und Kartoffeln und Schmand gewusst und von Haushaltszetteln, langen Listen und dem Rechnen, dem ewigen Rechnen. Ich habe vorher nicht viel gewusst von der Welt. Vorher: vor dem Radieschenpflücken, vor der Beerdigung. Eine kleine Wohnung habe ich gekannt, von einer kleinen Miete habe ich gewusst, von großen Läden mit besseren Preisen, da habe ich mich ausgekannt, da kenne ich mich aus. "Aber wenn", sagen Stimmen über dem Feld, "keine kleine Beerdigung her darf, dann muss eine große her. Da gibt es einen Sarg, schauen Sie nur, der ist aus echter Eiche, und hier ein Kranz, wunderschön, der Kranz, und hier ein Gasthaus, und hier die Einladungen, die Anzeige, die Menüabfolge, die Karten, die Briefmarken gibt es auf der Post, oder eine Adressenliste, das mache ich alles für Sie." Vorher habe ich nur genickt, und auch hinterher ist das Nicken mir leicht gefallen. "Na, schmerzt der Rücken?" Nicken. Rücken. Nicken. Ausweglos ist die Sprache hier auf dem Feld, auf dem Feld wegen Geld, Band um Bund. Ziehend drehen und schmiegen.

Die Sonne verlässt die Mitte des Himmels, dreiundfünfzig Bund Radieschen liegen neben mir. Niemand hat gewusst, wie groß so ein Feld tatsächlich ist. Am Morgen der Treffpunkt an der Kirche, neben dem Friedhof. Dann kommt ein kleiner Bus, sie steigen hinein, und ich steige langsamer hinterher, ein Eichensarg liegt darin, ein großer Kranz und viele Menschen, die Karten erhielten und die Menüabfolge genossen. Briefmarken gab es auf der Post. Auch für die Karten nach der Beerdigung gab es Briefmarken auf der Post, schön befeuchtet von Schwamm oder eigenen Zungen. Der Radieschenbundstapel ist größer noch, und wenn ich alle Stapel zusammenzählen würde aus diesem Sommer, die ganzen Sommerradieschenbundstapel gerechnet, und das Rechnen kann ich gut, dann ist das nicht mehr als die Menüabfolge und die Karten. Den Sarg verschiebe ich auf den nächsten Sommer.

Sie haben natürlich getrauert, bis zum Friedhofrand haben sie das. "Aber wenn", sagen die Stimmen, "aber wenn er nun schon gestorben ist, viel zu früh, dann darf man nicht bis zum Ende trauern. Man kann dann auch wieder aufhören, wenn man sich entscheidet." Das Nicken ist schwerer gefallen, das Nicken fällt schwerer bei manchen Entscheidungen. "Na, schmerzt der Rücken?" Nicken, ein Nicken, das einfacher ist.

Das Bund ist fertig. Ein Band. Zwanzig Radieschen, gezählt und gedacht sind dasselbe zur selben Zeit. Kein Stocken beim ziehenden Drehen. Ich hocke mich wieder hin, dann knie ich, dann sitze ich wieder. Die Sonne erreicht den Rand des Feldes. Rand. Band. Bund. Ende des Tages. Bald kommt der Bus, der sie und mich verteilen wird in den Straßen und an Bushaltestellen. Morgen gehe ich wieder zum Friedhof. Ich entscheide mich für einen weiteren Tag. Und noch einen. Der Rücken wird gleichgültig auf dem Feld, das Geld in der Luft, und ich wusste vorher nicht, dass ein Rücken so gleichgültig sein kann.

Katharina Bendixen wurde 1981 in Leipzig geboren, sie wuchs in Laos auf. Seit 2005 ist sie freie Literaturrezensentin.


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