Die Arme ausbreiten

Kehrseite Es war im Herbst vor zwei Jahren, als die Schwarzen kamen, und im Winter darauf flogen sie wieder davon. Mit Wagen und Karren wurden sie an einem ...

Es war im Herbst vor zwei Jahren, als die Schwarzen kamen, und im Winter darauf flogen sie wieder davon. Mit Wagen und Karren wurden sie an einem Septemberabend ins Dorf gebracht, und sie sangen dabei ihre Lieder, und sie trugen Jeans und weiße Hemden zu ihrer schwarzen Haut und aßen keine Bananen. Sie hatten große braune Rucksäcke neben sich stehen, sie waren zu fünfzig, sie waren jugendlich, sie waren fröhlich. Sie hatten blitzende Zähne und imposante Muskeln. Mit ihren jungen und schwarzen Händen winkten sie uns zu, als sie in das Dorf einzogen, und wir winkten mit unseren alten und weißen Händen zurück. Am Anfang mochten wir sie und ihren weichen, lautlosen Gang auf den Dorfstraßen. Sie waren unser Ersatz in der Fabrik, sie waren das Ende unseres schlechten Gewissens, man hatte nach Afrika telegrafiert, denn es musste gearbeitet werden. Es war sieben Uhr dreißig, die Fabrikglocke dröhnte durchs Dorf, und mit ihren schwarzen Beinen liefen sie in die Fabrik, und abends dann waren ihre Beine heller, vom Staub. Es waren Schwarze, die tagsüber weiß wurden, Morgenschwarze, Abendweiße waren es. Einige legten Teile von einem Band auf ein anderes, andere schlugen Nägel in ein Teil, das war gebogen. Die Teile waren grün oder rot, und im Winter, als die Schwarzen davonflogen, waren sie blau. Fast wöchentlich wechselten die Farben, wir wussten das von unserer eigenen Zeit in der Fabrik, und wir beobachteten die Wagen, in denen man die fertigen Teile mit offenen Verdecken davonfuhr, und wir stellten uns vor, wie die Schwarzen mit ihren erst schwarzen, später weißen Händen die Hämmer mit den hellen Griffen und den schwarzen Schlagflächen hielten, wie sie die schwarzen Lippen zusammenkniffen und auf die grauen Nägel schlugen, die in die roten oder grünen Teile fuhren. Die Lieder der Schwarzen klangen fröhlich aus den Hallen, während die Hämmer auf die Teile knallten und die Wagen das Fabrikgelände verließen. Wir mochten die fröhlichen Lieder der Schwarzen, und wir mochten die fröhlichen Schwarzen. Am Anfang des Winters aber begannen die Schwarzen, leiser zu singen und lustloser zu laufen. Wir mochten die leise singenden Schwarzen nicht. In der Mitte des Winters dann begannen sie zu fluchen. Erst fluchten sie nur auf dem Nachhauseweg, wenn sie bereits weiß waren, dann hörten wir die Fluche am Mittag aus den Fabrikhallen, und kurz bevor sie davonflogen, fluchten sie ständig, als Morgenschwarze, als Abendweiße. Wir mochten die Schwarzen fluchend nicht. Sicher hatte man mit dem Fluchen nicht gerechnet, als man nach Afrika telegrafierte. Wir merkten, es würde bald etwas passieren. Auch wir waren in der Fabrik gewesen, und auch uns war etwas passiert. Wir dachten, dass die Schwarzen wie wir plötzlich altern würden und dass man dann neue Schwarze bringen würde, und immer so weiter und weiter, aber so kam es nicht.

Es war im Sommer vor zwei Jahren, als wir gemeinsam zu alt wurden, um in der Fabrik zu arbeiten. Es war sieben Uhr an einem Augustmorgen, die Kirchenglocke schlug. Wir sahen uns gerade im Spiegel an. Und plötzlich sahen wir Hautrisse, kleine Augen sahen wir und vertrocknete Münder mit Kränzen aus Falten. Dann spürten wir die knackenden Knochen. Einige von uns sprangen gerade oder liefen die Treppen herunter, ihnen brachen die Knochen in diesem Moment, am Augustmorgen um sieben Uhr. Vereinzelt hörten wir Schreie, insgesamt jedoch blieben wir ruhig. Wir setzten uns auf Stühle, die für unsere Rücken nicht mehr geeignet waren. Wir aßen Brot, das unsere Zähne nicht mehr zerkleinern konnten. Wir traten auf Straßen, deren Pflaster unsere unsicheren Schritte nicht mehr trug. Wir liefen zur Arbeit, es war sieben Uhr dreißig, die Fabrikglocke dröhnte durchs Dorf. Wir setzten uns an unsere Bänder, vor unsere Teile, die waren gebogen. Man legte den Schalter um an diesem Augusttag. Die Bänder ratterten, wir wollten beginnen zu arbeiten, wie jeden Tag. Aber wir hatten Hände, die für die Arbeit zu steif geworden waren. Aber wir hatten Arme, die für die Arbeit zu müde geworden waren. Aber wir hatten Köpfe, die für die Arbeit zu alt geworden waren. Man legte den Schalter zurück und ließ die Fabrikglocke außerplanmäßig dröhnen. Mit dem Dröhnen wollte man unsere Trommelfelle aufrütteln, bis wir willig wurden. Das hatte man schon einmal probiert, und man war damit erfolgreich gewesen. Aber unsere Ohren ließen das jetzt nicht mehr zu, sie waren zu taub geworden dafür. Als alte Menschen verließen wir die Fabrik, und wir aßen und saßen nur noch, und wir sahen uns selten im Spiegel an, und wir sahen die leere Fabrik am Ende der Dorfstraße, und wir wussten einen Monat lang nicht, wer für uns arbeiten würde, und endlich, endlich kamen die Schwarzen.

Es begann zu schneien vor zwei Jahren im Winter. Aus der Fabrikhalle klangen seit Tagen statt Liedern nur Flüche, und die Schwarzen alterten nicht. Wir befürchteten schon, dass sie fliehen würden, wir wussten, wir mussten sie halten, sie waren unser Ersatz, sie mussten arbeiten, es gab niemanden sonst. An einem Dezembertag aber begann es zu schneien, und noch nie hatten die Schwarzen Schnee gesehen. Es war dazu noch ein seltener Schnee, einer von denen, die nach oben schneien. Wir kannten den Schnee und schenkten ihm keine Beachtung, bis wir hörten, wie die Flüche verstummten und verwunderte Rufe aus dem Inneren der Fabrik nach draußen drangen. Wir hörten die Rufe so laut, dass wir uns auf dem Dorfplatz versammelten. Von dort beobachteten wir, wie die Schwarzen das Fabrikgelände verließen. Wir wollten sie zurück in die Hallen treiben, aber wir waren zu alt, sie waren zu jung. Mit ausgebreiteten Armen liefen sie durch das Schneegestöber und riefen sich unverständliche Wörter zu. Sie bewegten die Arme auf und ab, als könnten sie gemeinsam mit dem Schnee nach oben fliegen. Wir lachten über die Schwarzen und warteten, dass sie zurück an die Bänder gingen. Als der erste Schwarze den Erdboden verließ und unter Lachen und Rufen dem Himmel entgegen flog, flatterten die anderen Schwarzen noch aufgeregter. Bald sprangen der Nächste, der Nächste, der Nächste von der Erde in die Luft. Wie im Herbst, wenn die Zugvögel zogen, wurde der Himmel schwarz und schwärzer. Wir taten ein paar Schritte auf die Schwarzen zu, um sie zum Boden zurückzuziehen, aber es waren zu viele, und die meisten schwebten schon mehrere Meter über der Erde, wir zögerten, und schließlich war es zu spät. Nach wenigen Minuten schwebten alle Schwarzen über der Erde, sie flogen immer höher und probierten übermütig Kunststücke, Überschläge und Purzelbäume in der kalten Luft. Einer knallte gegen den Kirchturm, die anderen fingen ihn auf und belebten ihn lachend mit frischer Luft wieder. Am Ende überlegten wir, die Arme ebenfalls auszubreiten. Wir haben es nicht getan, und bald hatten wir alle Schwarzen aus den Augen verloren. Bis heute erinnern wir uns manchmal, wenn wir am Abend die langsame Fabrik, die Fabrik für die Alten wütend verfluchen, bis heute erinnern wir uns manchmal an die Morgenschwarzen, an die Abendweißen, die im Winter vor zwei Jahren davonflogen mit dem Schnee, als wäre das möglich.

Es war in den letzten zwei Jahren, dass die Fabrik vom Wald zurückerobert wurde. Nachdem die Schwarzen davongeflogen waren, ließ man vor Wut die Glocke mehrere Wochen dröhnen. Aber unsere Ohren waren zu alt, als dass wir darunter noch leiden konnten. Dann wurde die Glocke von zwei großen Vögeln erlegt und herumgedreht. Die Vögel begannen zu brüten, riesige Eier brüteten sie aus, aus denen noch größere Junge kamen. Die Pflanzen krochen aus dem Wald zurück auf das Gelände, sie zersprengten einige kleinere Steine an Rändern und Ecken der Fabrik. Man schien die Fabrik endgültig verlassen zu haben. Kein Schwarzer saß mehr in Ecken, und es kam kein Wagen mehr, schon seit Wochen blieb der Fabrikhof leer. Mit schlurfenden Schritten gingen wir an den Ort unseres Alterns zurück.

Und es ist im Sommer gewesen, im Sommer diesen Jahres war es, dass man kam und die Überreste der Fabrik besah, und es war so, dass man begann, eine neue Fabrik zu bauen. Es war so, dass wir mit unseren alten Augen zuschauten, wie man die Fabrik baute: Es ist eine besondere Fabrik, keine Fabrik für die Schwarzen, sondern für uns, für die Alten. Es ist eine Fabrik mit langsamen Bändern und kleinen Teilen, es gibt außerdem eine Glocke mit einem besonders tiefen Ton, der auch unsere tauben Ohren erreicht. Es ist so, dass die Schwarzen verschwunden sind, und es ist so, dass sie daran schuld sind, dass wir nun wieder arbeiten müssen, und es ist so, dass wir uns wundern, sie jemals gemocht zu haben, und es ist so, dass wir beginnen sie zu hassen. Nicht einmal verabschiedet haben sie sich, keine Entschuldigung haben wir gehört, und das, was passierte, ging schnell.

Katharina Bendixen wurde 1981 in Leipzig geboren, sie wuchs in Laos auf. Seit 2005 ist sie freie Literaturrezensentin.


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