AKW-„Streckbetrieb“: Das Methadon der Energiepolitik

Meinung Selbst die Grünen sind mittlerweile offen für eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke über das Jahresende hinaus
In den Brennstäben findet die Spaltreaktion statt
In den Brennstäben findet die Spaltreaktion statt

Foto: Imago Images/Panthermedia

Während in den deutschen Nachrichten ein befremdendes Nebeneinander von Flughafenchaos, Dürre, Hunger, Krieg und brennenden Wäldern herrscht, organisiert die Bundesregierung türkisches Sicherheitspersonal. Damit nicht etwa ein Messerchen im Handgepäck übersehen wird – muss ja alles sicher sein. Als wäre Kerosinurlaub ein Menschenrecht, Flugtourismus sakrosankt, und, vor allem, als dürfe auf keinen Fall der CO₂-Ausstoß sinken - alles, nur das nicht! Dann lieber wieder auf Atomkraft setzen!

Wie ein Zombie erhebt das Atomdenken sein gruseliges Haupt. Hat die Gehirne zerfressen und gaukelt ihnen gleichzeitig vor, rational denken zu können. Und produziert dann so grandiose Ideen wie AKW-„Streckbetrieb“. Hauptsache, alles geht so weiter wie bisher. Höher, schneller, weiter. Nun also, wieder mal: mit Atomkraft. Nur für ein halbes Jährchen. Oder so.

Unions-Fraktionsvize Jens Spahn hat das vorgeschlagen, gewohnt innovativ, „ohne Tabu“. Es dürfe „in der Mangellage“ keine „Denkverbote“ geben. Überraschend, wo doch in jeder Ecke des Kapitalismus Denkverbote herumstehen und das Infragestellen der Wachstumslogik absolut tabu ist. Nicht für Jens Spahn: Atomkraft ist gut für die Gesundheit und stärkt die Moral - ganz ohne Risiko fürs Wachstum! Und wenn doch noch was schiefgeht, irgendein Erdbeben oder eine Flut oder ein kleiner Terroranschlag, kann man halt mal keine Pilze essen, und es gibt ein paar Leukämiefälle mehr. Muss man sich nicht so haben, das ist berechenbar! Ein bisschen was geht immer daneben, das wusste schon die Ex-Kanzlerin. Warum also nicht Atomkraft als „Brückentechnologie“ auf dem Umweg zum Klimaparadies? Alles ist besser, als dem russischen Aggressor sein faschistisches Gas abkaufen zu müssen.

Tempolimit für Laufzeitverlängerung?

Die noch am Netz befindlichen AKW produzieren zwar nur rund sechs Prozent Strom, und die Verlängerung ihrer Laufzeit würde wohl nur 1,3 Prozent Gas einsparen, aber hey, hier geht es um höhere Werte – ganz ideologiefrei.

Entsprechend offen für den Vorschlag zeigte sich die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang. Wenn es der so genannte Stresstest für den Energiebereich nötig macht, müssen die Grünen halt in den atomverseuchten Apfel beißen. Ist so, wenn man regiert – geht immer was daneben. Unter Geschmacksverlust leidet die Partei seit Covid ohnehin, so viele Kröten, wie sie schon geschluckt hat ein bisschen mehr Kohle verfeuern hier, ein bisschen harmloses Öl von netten arabischen Staaten dort, da passt so ein kleiner Atomdeal auch noch in den grünen Magen. Einfach anlassen, die Meiler. Ein paar frische Brennstäbe besorgen und ab damit. Ist ja nur übergangsweise. Und wird optimalerweise versüßt durch ein grünes Lieblings„projekt“: das Tempolimit auf deutschen Autobahnen. Wie wär’s zum Beispiel mit 160 km/h? Und nur „temporär“, sonst wirkt es nachher noch. Den Energieverbrauch senkt es ohnehin nur minimal. So wie der Einsatz von Atomkraft statt russischem Gas. Das ist wie Elektrozigaretten statt anständigen Kippen – weniger Schadstoffe, dafür noch mehr Müll. Und ein Tempolimitchen à la CDU ist dann das Kaugummi danach.

Äh, nur kurz zur Erinnerung: Der Klimawandel findet statt. Also: in diesem Moment, im nächsten Moment, und auch im übernächsten Moment. Er sitzt nicht in irgendeinem fernen Möglicherweise – er ist Gegenwart. Wälder brennen. Arten sterben. Tiere verdursten. Fluten und Dürren töten Leben. Und den Fossilpolitikern, offensichtlich in chronischer intellektueller Mangellage, fällt außer wahnsinnig ideologiefreier Atomkraft und bombensicherem Flüssiggas nichts dazu ein? Ernsthaft jetzt? Um nur ja das Wachstum nicht zu gefährden, das das Unheil erst anrichtet, bedienen sie sich eines altbewährten Kniffes: Ideologisch ist nur, was die Wachstumsideologie infragestellt – ist doch logisch!

Denn dieses Wachstum ist wie eine Sucht: Wer einmal drauf ist, kommt schwer wieder runter. Und wie alle Junkies verwenden auch die Wachstumssüchtigen – und auch wir Co-Abhängigen – viel Energie und Zeit darauf, sich und anderen glaubhaft zu machen, sie seien nicht süchtig, sondern handelten völlig rational. Um kalten Entzug zu vermeiden, muss notfalls auch Atomkraft her. Es ist das Methadon der Energiepolitik – total liberal, absolut rational, völlig ideologiefrei.

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Geschrieben von

Katharina Körting

Freie Autorin und Journalistin

2024 Arbeitsstipendiatin für deutschsprachige Literatur der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt

Katharina Körting

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