Manche Protestierende gegen die Corona-Schutzmaßnahmen heften sich „Judenstern/Ungeimpft“-Buttons an. Sie verharmlosen damit den Holocaust. Warum tun sie das? Sind sie ahnungslos ob des Leids der Millionen ermordeten und verfolgten Juden? Sind sie empathielos gegenüber unseren jüdischen Mitmenschen? Wieso sind sie das? Sind sie einfach antisemitisch? Ich habe noch keine Antwort – der Tagesspiegel ist da offenbar schneller im Erkennen der Wahrheit.
Dort schrieb der Journalist Harald Martenstein: Der „Judenstern“ auf einer Corona-Demonstration sei „eine Anmaßung, auch eine Verharmlosung, er ist für die Überlebenden schwer auszuhalten. Aber eines ist er sicher nicht: antisemitisch.“ Es hagelte Kritik, der Tagesspiegel löschte die Kolumne, der Autor trennte sich von dem Blatt. Man kann in dieser Frage sicher anderer Meinung sein als Martenstein, aber muss man seine Einschätzung deshalb löschen? Beunruhigend ist die Erklärung der Zeitung: „Wir verzichten auf Provokationen um der Provokation willen und vermeiden Graubereiche, die zu Missverständnissen einladen oder verleiten.“
Jede Meinungsäußerung kann missverstanden werden
Graubereiche vermeiden? Das wäre wohl der Todesstoß für jedes publizistische Schaffen – weil es weder Texte noch Kunst noch Menschen ohne Graubereiche gibt. Und mögliche Missverständnisse vermeiden? Wie soll das gehen, in einer Atmosphäre, in der die Bereitschaft zum Verletztsein so hoch ist, dass sie geradezu zur Kernkompetenz öffentlichen Meinens wird? Da kann nahezu jede Meinungsäußerung zum Missverständnis „verleiten“: Um sich mal wieder so richtig über die mit den falschen Meinungen aufzuregen – und sich wohlig auf der richtigen Seite zu wähnen, weitab von jedem gemeingefährlich verleitenden Graubereich.
Ich freue mich stets über die eckigen Texte des Harald Martenstein – nun stehen sie ja noch im Zeit-Magazin. Es ist selten geworden, dass Texte nicht vorweg jede mögliche Reibungsstelle glatt schleifen. Dass sie sich angreifbar machen, von links wie von rechts. Dass sie Fragen aufwerfen. Wie etwa diese: Entspricht der Tagesspiegel noch seinem Motto – „rerum cognoscere causas“? Bemüht er sich ausreichend darum, die Ursache der Dinge zu erkennen? Denn sie liegt ja mitunter genau hier: im Graubereich.
Kommentare 11
Thanx!
Leider handelt es sich nicht um ein Alleinstellungsmerkmal des "Tagesspiegels". Gehört mittlerweile zur deutschen Normalität dazu - und nicht nur dort.
Ha, und jetzt werden als nächstes der Fleischhauer oder Zitelmann & Co. mit redaktionellem Segen als nonkonformistische Helden geadelt? Jaaa, wir denken queeeeer...
SCHÖN, wenn sich viele über "eckige Texte" freuen und sich damit auseinandersetzen. Rhetorische Frage: Wie viele der geschätzten FREITAG-Leserschaft liesst regelmäßig auchmal die FAZ oder das Handelsblatt, um WIRKLICH auch andere Meinungen zu hören... - Ich mutmaße: eine Minderheit, sehr wenige.Zu viele bleiben liebend gern in der wohlig-warmen Filterblase.
Der Text von Martenstein ist schon kritisch zu sehen. Deshalb gab es, laut Eigenaussage des Tagesspiegels, Gespräche darüber, mit vielen in der Redaktion und AUCH mit Martenstein selbst.Laut Tagesspiegel wäre eine Bearbeitung oder Neukommentierung des Artikels angeboten worden...Martenstein berichtet anders - es hätte keine Rücksprache oder Einbindung in die Entscheidung gegeben und auch kein Angebot, neu einzuordnen.Diese unterschiedliche "Perspektiven" auf den Fall sind der Knackpunkt.Je nachdem, welche Seite es richtig darstellt, kann man eher auf der einen oder anderen Seite sein.Streit und Kontroversen gibt es immer mal, überall. Auch in dem Fall.Doch der UMGANG damit ist das entscheidende.Und darüber gibt es zwei unterschiedliche Erzählungen. Wer mir sagen kann, welche Seite korrekt erzählt - dem kann ich auch sagen, wem ich zustimme.
Ohne - kann ich nicht.
In einer Blase sind immer die anderen. Nur in DER sind (fast) alle: der Blase der Selbstgerechten.
Die Texte von M. liegen vor, jede(r) kann sich eine Meinung bilden. Die Entscheidung des Tagesspiegels geschieht nach Hausrecht. Wer den wöchentlichen Martenstein braucht, wird bestimmt auch fürderhin nicht verzichten müssen. Die NZZ und andere warten schon.
"Wer den wöchentlichen Martenstein braucht, wird bestimmt auch fürderhin nicht verzichten müssen. Die NZZ und andere warten schon."
Und dann gibt es ja noch die andere Wochenzeitung, die aus Hamburg:
https://www.zeit.de/suche/index?q=harald+martenstein
https://www.zeit.de/suche/index?q=harald+martenstein
Blasen gibt es - aber erkennen und ausbrechen kann man.Nüscht anderes war mein Punkt.
Juristisch ist alles in Ordnung - Ihr "Hausrecht"."Dienst nach Vorschrift" ist juristisch auch in Ordnung. Aber wir wissen alle, wohin das führen würde.
Wenn Sie mich genau nachlesen, werden Sie meinen Punkt nicht übersehen können. Nicht der Text ist mein Punkt - sondern der UMGANG miteinander.
Mich wundert, dass Martenstein bei diesem "liberalen" Blatt solange erduldet wurde.
Ihre Aussagen haben - späte - Zustimmung verdient.
Der Umgang ist es, der Fakten schafft oder Fakten verändert.
Da ist der Umgang in Foren nicht anders als an den Hauptkonflikt- oder Kriegslinien. Das einzig gute: die Waffen (und damit ihre Wirkungen) sind andere.
In der FC sehe ich einige Konfliktlinien. Eine Wesentliche ist die zwischen Hardlinern, meist Männern vom alten Schlag, und ihren Antipoden. 'Alter Schlag' meint übrigens nicht das biologische Alter.
Ein Plädoyer für 'eckige Texte' muss im Übrigen keine unkritische Jubelveranstaltung für Herrn Martenstein sein. Für mich ist er vor allem eines: provokativ. Ein Hinkucker.
Häufig sprechen mich seine Texte bei ZON nicht an. Aber sie sind lesbar, mehr als Kommentare, die nur altbekannte Textbausteine aneinander fügen. Bei Martenstein schmunzle ich ab und an, bei den genannten Kommentaren begebe ich mich in eine humorfreie Zone.
"Der Text von Martenstein ist schon kritisch zu sehen"
Das kann man, das sollte man. Aber ihn deswegen nicht zu veröffentlichen, dass muss man noch viel, viel kritischer sehen.
Martenstein provoziert gezielt. Das war auch seine Funktion im Tagesspiegel. Er wurde gelesen und provozierte auch Widerspruch. Andere Zeitungen haben für diese Funktion einen Broder oder Schumacher. Während oftmals ein Zeitungs-Kommentar als Kommentar dieser Zeitung verstanden wird, weniger als einen der jeweiligen Autoryn, haben solche Persönlichkeiten aufgrund der Provokation einen persönlichen Wiedererkennungswert.
Das ist ihr Wert für die Zeitung und für den Leser. Gleichwohl gibt es Grenzen, wenn der Inhalt im krassen Gegensatz zur Haltung der Zeitung steht.
"Er ist immer eine Anmaßung, auch eine Verharmlosung, er ist für die Überlebenden schwer auszuhalten. Aber eines ist er sicher nicht: antisemitisch. Die Träger identifizieren sich ja mit den verfolgten Juden. “
Hätte er geschrieben, solche Dummheiten allein müssten vom einzelnen Träger nicht antisemitisch (gemeint) sein, sofern es eben nur unüberlegte Dummheiten seien, fände ich daran nichts auszusetzen. Aber er stellt einen Persilschein aus: "eines ist er sicher nicht: antisemitisch". Wie kommt Martenstein zu dieser Schlussfolgerung?
Die Ungeimpft-Judensterne werden doch nicht zufällig breit unters "Volk" gebracht. Sie nutzen den Holocaust aus, setzen die Verwertungslinie fort: Jüdisches Vermögen, Arbeit, Haare, Haut, Goldzähne ... das war immernoch nicht alles, was verwertet werden konnte: Die Erinnerung. Und es mag sogar sein, dass auch damals nicht jeder der Mörder Antisemit war, mancher war vielleicht "nur" gierig oder sadistisch, aber nicht unwissend.
Martensteins Freispruch erster Klasse "sicher nicht: antisemitisch" ist in Bezug auf die Holocaust-Verwerter der Gegenwart genausowenig nachvollziehbar wie auf die, in deren blutige Fusstapfen sie treten.
Dass der Tagesspiegel solchen Dreck nicht veröffentlichen will, ist gut.Ob andere Maßnahmen besser gewesen wären, z.B. die inhaltliche Auseinandersetzung, ob eine organisierte Nutzung des Holocausts für Hetzkampagnen im Rahmen der Pressefreiheit akzeptabel sei - darüber wird gerade diskutiert. Ernsthaft?
Es ist auch ein Unterschied, ob einem mal ein schräge Vergleich aus der Feder rutscht, ob eine Provokation in einem bestimmten Kontext hilfreich ist, oder ob man organisierte Nutzung des organisierten Massenmords verteidigt. Und an diese Punkt bin ich dann auch ganz humorbefreit.