Digital Detox: Ein Leben ohne Smartphone ist möglich und sinnvoll
Digitalisierung Wer ohne internetfähiges Mobiltelefon durchs Leben navigiert, wirkt wie ein Fossil. Der Verzicht kann jedoch auch progressiv sein. Der Bestseller-Twitterer Bret Easton Ellis macht es nicht vor, hilft aber beim Kritisieren
Wer ist hier das Fossil? Smartphone-Nutzende sind in der krassen Überzahl. Wer sich ausklinkt, hat Probleme. Aber die Technik im Dauereinsatz sollte mehr hinterfragt werden
Foto: Richard Kalvar/Magnum Photos/Agentur Focus
Meiner digital nativen Tochter ist die Verblüffung anzuhören: Ihr Lieblingsdozent hat kein Smartphone. „Er hat überhaupt kein Händy“, berichtet sie, „der ist noch radikaler als du!“ Keine Ahnung, ob ich radikal bin, nur weil mein Telefon nicht online gehen kann. Wenn mir jemand Fotos simst, sehe ich nur leere Vierecke. Aber mir ist so ein vibrierendes, nimmermüdes Teil in der Hosentasche zu stalinistisch. Kontrolliert seine Besitzerin. Gibt ihr die Illusion, alles im Griff zu haben und übernimmt die Herrschaft über ihre Zeit, ihre Blicke, ihr Hören, ihre Wahrnehmung der Welt.
Kürzlich in der Hotel-Bar wies der Keeper, als wir nach der Getränkeauswahl fragten, auf ein Pappschild mit Werbung und QR-Code. Zum Glück
lück war meine Begleitung ähnlich befremdet wie ich und wagte es, um eine „Oldschool-Karte“ zu bitten. Der Keeper guckte komisch, fand aber in irgendeinem Schrank noch ein auf eine leicht verbogene Holzplatte geklebtes Stück Papier. Im Zug wiederum, der mich zu jenem Ort brachte, war ich die Einzige, die ihre Fahrberechtigung nicht entweder per „Comfort-Check-in“ oder Mobil-Code vorzeigte, sondern ein auf Schmierpapier ausgedrucktes Blatt hervorkramte. Im Museum am Zielort – ich war zu früh und hatte Zeit – hätte ich mir per QR-Codes die Audio-Führung anhören können und vorher nicht nach dem Weg fragen müssen. Genaugenommen hätte ich die Stadt überhaupt nicht anschauen müssen – das hätte das Gerät für mich übernommen.Man kann alles zuhause vergessen, sogar den eigenen Kopf mit Augen und Ohren – nur das internetfähige Telefon sollte man nicht liegen lassen, sonst ist man aufgeschmissen. Nachdem alles auf Autos zugeschnitten wurde, so dass eine Fußgängerin sich zur lächerlichen Figur macht, wird nun alles auf digitale Vermittlung getrimmt. Damals wäre es hilfreich gewesen, wenn ein paar mehr Leute den Autozentrismus in Frage gestellt hätten. Und heute? Wirkt eine wie ich wie ein Fossil, das dem Fortschritt im Weg herum steht.Verbindlich? Nur online!Pfarrer lesen ihre Predigten und Autoren ihre Texte von Tablets ab. Ohne Displays, die minutengenau die Ankunft des Busses angeben, fühlt sich der heutige Verkehrskunde alleingelassen – und wird ungeduldig. Also kramt er sofort sein Phone hervor, um in der App zu checken, was genau im nächsten Zeitfenster seines Lebens zu erwarten ist. Das Digitale hat einen höheren Wirklichkeitsgrad erreicht als Dinge, die man anfassen kann oder Begegnungen, die sich ihrerseits nur noch geplant ereignen, in aufwändigen Verhandlungen hin-und-her-tippend herbeigeführt, oder in letzter Sekunde unterlassen („Sorry, kann heute doch nicht“, weil sich etwas Besseres fand). Alles ist jederzeit (um)planbar, von jedem Ort aus, mit wenigen Klicks. Die einzige verbindliche Verbindung, die der User sich leistet, ist die gegenüber seinem Händy. Er hat es immer dabei, fühlt sich nackt und ausgeliefert ohne. Es scheint alternativlos, wie Tierversuche, Mikrowelle, LNG-Terminals, Waffenexporte oder Parkhäuser – angeblich geht es nicht mobillos. Daher zögere ich, mit zu großer Begeisterung zu reagieren, wenn meine Tochter mit dem wagemutigen Gedanken spielt, sich von ihrem Smartphone zu befreien.Ich weiß ja: ohne ist man quasi ex-kommuniziert. Mein Chor zum Beispiel kommuniziert ausschließlich über Whatsapp. Wenn die Probe ausfällt, kann ich froh sein, per Mail davon zu erfahren. Mein Vater schickt mir lustigen Instagram-Kram, den ich nicht sehen kann. Briefe mit QR-Codes lassen mich im Nebel. Bei der Reisepassverlängerung tippt das Amt zum Glück noch eine Internet-Adresse dazu, so dass auch ich „checken“ kann, ob der Pass fertig ist, aber es ist wohl nur eine Frage der rasenden Zeit, dass es auch damit vorbei ist. Theoretisch könnte man anrufen und fragen – aber es geht ja keiner mehr ran. Nur noch die Maschine. Auf vielen Webseiten findet man gar keine Telefonnummern mehr. Stimmen, die nicht von Rechnern produziert werden, rechnen sich nicht.„Mach’s dir doch auch leichter und lass deine Texte von ChatGPT schreiben!“, schlägt meine Mutter launig vor. Sie habe gerade in der Zeitung davon gelesen. „Die KI soll das schneller können“, informiert sie mich, „und du hast mehr Zeit, aufs Klo zu gehen oder zum Joggen.“ Aber sie meint das weniger lustig als es klingt. Tatsächlich leidet sie an chronischem Kulturpessimismus und findet es „nicht nur furchtbar, sondern auch gefährlich, alle Fähigkeiten an Maschinen abzugeben.“ Meine Mutter ist nämlich Ärztin und weiß noch aus dem Medizinstudium: „Muskeln, Nerven et cetera entwickeln sich zurück, wenn sie nicht gebraucht werden. Das macht mir Sorge.“ Vielleicht ist es auch so, gebe ich zu bedenken, dass der Mensch frei wird für die wichtigen, kreativen Dinge, wenn die lästigen die KI übernimmt. Aber ich glaube mir selbst nicht so richtig.Genervt von der digiwoken WeltMeine Mutter ist wie der Dozent meiner Tochter: nur per Festnetz erreichbar, und auch das nur, wenn sie Lust hat, den Hörer abzunehmen. Sie macht sich lustig über Helikopter-Eltern mit Tracking-Apps, die die Kinder überwachen. „Ich wusste nie, wo ihr wart“, erinnert sie sich, „ihr konntet eure eigenen Erfahrungen machen“. Das war in den 1970ern und frühen 1980ern, als solcherlei Vertrauen noch nicht als Verwahrlosung galt. Nicht mal in den USA, wenn man Bret Easton Ellis Glauben schenkt. An dem habe ich mich bislang erfolgreich vorbeigemogelt, was nicht schwer war, da er unzeitgemäß ewig braucht für seine Romane. Jetzt kam „The Shards“ raus, und auch dieses Buch werde ich nicht lesen. Horror macht mich fertig. Mir wird schon schlecht, wenn ich in den Nachrichten die Panzer paradieren sehe. Ich bin stolz, dass ich mittlerweile den „Tatort“ aushalte. Mag sein, dass meine Empfindlichkeit mit zu viel Freiheit in der Kindheit zu tun hatte, aber Ellis hatte die ja auch, und er schaute nicht nur exzessiv Gruselfilme, sondern schreibt sogar selbst welche.Das weiß ich, weil ich, neugierig geworden, statt „The Shards“ sein vorheriges Buch, den Essay „Weiss“ (2019) lese, elegant-gewitzt in einen düster-schwarzen Umschlag gekleidet. Der American Psycho erregt sich genüsslich über die neue Cancel Culture auf Twitter und erzählt, ironisch-paradoxerweise dem eigenen Posting-Exzess erliegend, vom Genervtsein an der konzerndigitalen Woke-Welt. Wobei er auch fies ist: Er diagnostiziert das Kranke, aber Therapie interessiert ihn nicht. Heilung wäre wohl, künstlerisch betrachtet, kontraproduktiv. Ellis kriegt es hin, auf nüchterne, scheinbar emotionslose Art die eigene Kindheit zu glorifizieren und zu verdammen. Alles, was uns nicht tötet, härtet uns ab. Mit dem Wohlstandsmedienmüll musste er allein klarkommen, und darauf scheint er einigermaßen stolz zu sein – er hätte den ganzen Mist nicht missen mögen.Man liebt ja immer irgendwie, was einem vertraut ist, und seien es hässliche Erfahrungen. Zumindest, wenn man auf sie zurückschauen kann als erfolgreich hinter-sich-gelassen. Unangenehme Jobs zum Beispiel: Ich erinnere mich gern an diverse Schreibtische, Büroküchen, Arbeitswege, auch wenn die Arbeit blöd war: einfach nur, weil ich sie tat. Weil mein Körper die Wege ging, die Geräte benutzte, jenes Leben lebte. Körperlich Dabeisein verbindet.Das Display ist sehr klein, und was zu tun ist, sehr großEinmal hat ein Arbeitgeber mir ein Diensthändy aufgedrängt. Ich kam mir sehr wichtig damit vor: als würde sich die Erde nicht weiterdrehen, wenn ich nicht auch unterwegs die Mails von Kollegen beantwortete. Allerdings war das so genannte Mail-Checking stets von einem Gefühl der Unvollständigkeit begleitet, denn das Display ist sehr klein, und was zu tun ist, sehr groß. Vor allem das Ego ist überdimensioniert, drängt sich in die unsozialen Medien, um nicht unterzugehen beim Struggle gegen all die anderen „Profile“. Im Darwinschen Kampf um Aufmerksamkeit gewinnen nur die größten Egos.Es ist schon seltsam, wie rasch die digitale Welt in Fleisch und Blut übergeht. Uns Menschen gibt es seit Jahrtausenden, die allgemeine faktische Smartphonepflicht noch nicht mal seit, ich weiß nicht, 15 Jahren, und schon tut sie so, als wäre sie immer da gewesen, ein Leben ohne die Dinger undenk- und machbar. Ich habe zum Beispiel meine Masterarbeit, die damals noch Magisterarbeit hieß, auf der Schreibmaschine geschrieben, ohne Citavi. Eine analog verfasste studentische Hausarbeit wäre heute nicht nur eine Zumutung, sondern gar nicht möglich. Die Bibliotheken sind durchdigitalisiert, Texte oft nur noch online erreichbar. „Alle beschweren sich, dass die Digitalisierung zu langsam ist“, wundert sich meine Tochter, „aber geht sie nicht in Wirklichkeit viel zu schnell?“ Ich stimme zu: Wir kommen kaum hinterher. Passen uns an Maschinen an und reden uns ein, dass sei cool.„Inzwischen führen die meisten von uns in den sozialen Medien ein Leben, das eher an ein Schauspiel erinnert“, befindet Bret Easton Ellis, das hätten „wir“ uns noch vor zehn Jahren nicht vorstellen können. Und winkt beiläufig mit dem Zaunpfahl der Dialektik des Fortschritts, wenn er von einem „riesigen Nichts“ schreibt, „erzeugt von einer Unternehmenskultur, die uns ständig zum Schweigen zu bringen versucht, indem sie mit ihrem Regelwerk des Benehmens alles absaugt, was menschlich, widersprüchlich und echt ist. Wir sind unsicher in eine Art Totalitarismus hineingestolpert.“Wenn das alle täten: einfach stehen bleibenTäuscht das, oder kommen solche ungehaltenen Beobachtungen eher von rechts als von links? Warum? Weil sie nicht dem herrschenden Imperativ „Sei positiv!“ entsprechen und mehr oder weniger gepflegter Kulturpessimismus dem linken Fortschrittsglauben zuwiderläuft? Die Linken wollen keine bluttriefende antikapitalistische Story ohne Botschaft – sie wollen das Rezept gegen das Übel erzählt haben, am besten noch vor der Diagnose. Dem Morgenrot entgegen streben sie vorwärts immer, rückwärts nimmer, egal, als wie sinnlos oder gar zerstörerisch der so genannte Fortschritt sich unterwegs entpuppt. Die Kulturpessimisten dagegen beharren – gewissermaßen umgekehrt revolutionär – auf etwas, das es zwar nie gab, das es aber gegeben haben sollte – dann wäre alles gut gewesen. Und da die Vergangenheit in jeder Gegenwart von Neuem verbockt wird, ist immer auch die Zukunft versaut: Alles wird schlechter. Sagt jedenfalls meine Mutter. Bartleby-gestählt will sie lieber nicht all das tun und haben, was heute zum Dazugehören dazugehört: „Man muss nicht jeden Scheiß mitmachen“.Womöglich liegt das wahrhaft Progressive heute in der Verweigerung. Nicht weitergehen, nur weil‘s alle tun, sondern in aller Ruhe zweifeln und, die Spießer-Drohung „wenn das alle täten…“ in den Wind schlagend, einfach stehenbleiben. An der Supermarktkasse sich nicht hetzen lassen, sondern ganz gemächlich in bar bezahlen - und keinesfalls empört nach einer weiteren Kasse verlangen, als stünde es einem zu, andere anzutreiben. Sich rausnehmen aus der Welle, aus der Wut, aus dem hektischen, pseudorealistischen Weiterso – exklusiv werden statt inklusiv lächeln: sich ausschließen. Meinetwegen auch geklebt an eine Autobahnauffahrt oder an ein düsteres Bonmot von Bret Easton Ellis. So kann Stillstand zum Akt des passiven Widerstands werden – wenn man nicht des Smartphones, sondern, total altmodisch, sich des eigenen Verstandes bedient.Klingt riskant? Na hoffentlich!
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