Dreadlocks und kulturelle Aneignung: Falsche Frisuren und fiele andere Vehler

Cancel Culture Sind Dreadlocks ein Fehler, sind sie verwerflich? Und: Wer befindet darüber?
Ausgabe 13/2022

Die Organisatoren eines Klimastreiks in Hannover wollten Fehler um jeden Preis vermeiden. Deshalb luden sie eine bereits eingeladene Künstlerin kurzfristig wieder aus – weil sie Dreadlocks trägt. Und weiß ist. Dreadlocks aber sind Zeichen der Widerstandsbewegung Schwarzer Menschen in den USA. Wenn eine weiße deutsche Künstlerin sie trage, ohne sich dabei mit dem kollektiven Trauma der Unterdrückung auseinandersetzen zu müssen – sei das kulturelle Aneignung. Die Künstlerin machte die privaten Nachrichten an sie öffentlich. War die Ausladung ein Fehler? War die Veröffentlichung der Mails ein Fehler? Ist es ein Fehler, als weiße Person Dreadlocks zu tragen?

Der Vorgang trendet, die Medien greifen ihn auf, alle Welt empört sich, auch ich. Ich fühle mich bestätigt in meiner Skepsis gegenüber allzu viel Wokeness. Ich fühle mich bestätigt in meinem hellhäutigen Gekränktsein, denn immerzu werde ich daran erinnert, dass ich allein durch meine privilegierende Hellhäutigkeit zum ausbeuterischen Teil der Weltbevölkerung gehöre und daher achtsam mit weniger Privilegierten umzugehen habe: um Fehler zu korrigieren.

Neuerdings soll ich deshalb fehlerhafterweise das Adjektiv „schwarz“ großschreiben. Dieses markiere „eine sozio-politische Positionierung in einer mehrheitlich weiß dominierten Gesellschaftsordnung“. Das nervt! Außerdem stimmt es gar nicht immer. Mit der Sklaverei in den Vereinigten Staaten haben meine kolonialistischen, faschistischen Vorfahren ausnahmsweise nichts zu tun.

Dreadlocks abschneiden? Fridays for Future entschuldigt sich

Mein Sohn ist sicher: Dreadlocks sind kulturelle Aneignung, kulturelle Aneignung ist schlecht, also zu vermeiden. Ich überlege, ob es auch ein Zeichen der Solidarität sein kann, Dreadlocks zu tragen – wir haben früher auf der Schule in rückblickend rührender Naivität Pali-Tücher getragen. War das kulturelle Aneignung, ein politisches Statement, israelfeindlich oder Mode?

„Wir hoffen, dass du dich damit auseinandersetzt, und wir bieten dir an, bei Bedarf in den Tagen nach der Demo diesbezüglich in einen Austausch zu gehen“, schreiben FFF in freundlichster Herablassung der ausgeladenen Künstlerin. „Solltest du dich bis Freitag dazu entscheiden, deine Dreadlocks abzuschneiden, würden wir dich natürlich auf der Demo begrüßen und spielen lassen.“

Das wiederum findet mein Sohn falsch: Haareabschneiden als Bedingung. Die Fridays for Future entschuldigen sich auch für ihren Fehler.

Die ausgeladene Künstlerin findet es „schade, dass wir aufgrund von äußerlichen Merkmalen (...) ausgeschlossen werden“. FFF findet die Merkmale nicht äußerlich, sondern historisch ausbeutungsrelevant. Eine Kommentatorin findet, auch Ohrringe, Fußkettchen und Nasenringe könnten mit dieser Argumentation als rassistisch bezeichnet werden. Ein anderer identifiziert die Future-Kids als „the woke taliban“.

Ich denke mittlerweile, dass man bei Teenagern nicht zu streng sein darf, und habe ein schlechtes Gewissen: Woher will ich so genau wissen, was richtig ist, wenn ich so wenig Ahnung habe? Umso mehr bedaure ich, dass die Hektik in den sozialen Medien denen Futter gibt, die (wie ich) aus einem vagen Gefühl des Gekränktseins oder der Überforderung nach Bestätigung dafür suchen, allzu viel Wokeness lächerlich zu finden. Anstatt ergebnisoffen zu überlegen: Sind Dreadlocks kulturelle Aneignung? Wenn ja: Wann sind sie ein Fehler, wann verwerflich? Und: Wer hat darüber zu befinden?

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Geschrieben von

Katharina Körting

Freie Autorin und Journalistin

2024 Arbeitsstipendiatin für deutschsprachige Literatur der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt

Katharina Körting

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