Liberaler Autoismus

Meinung Ohne Auto keine Freiheit – das legen Aussagen von FDP-Politikern nahe. Aber sorgt die Herrschaft des Kraftwagens wirklich für freie Bürgerinnen? Wie sieht es in der Praxis damit aus? Wir schauen genauer hin
Ausgabe 05/2023
Auch Radfahrer wollen sich frei fühlen
Auch Radfahrer wollen sich frei fühlen

Foto: Sean Gallup/Getty Image

Immer, wenn jemand behauptet, es könne in einer Frage „keine zwei Meinungen geben“, ist Misstrauen angebracht. Das gilt umso mehr, wenn jener Jemand, wie etwa Fraktionschef Christian Dürr, für die FDP spricht: „Der Ausbau unserer Infrastruktur ist zentral für unseren Wirtschaftsstandort.“ Eine Meinung, die keine andere neben sich duldet, ist Glaubenssache. Wir müssten also andächtig auf die Knie sinken, ums goldene Auto-Kalb tanzend den Wirtschaftsstandort anbeten, Fürbitten für die Infrastruktur abhalten und das heilige Fahrzeug mit Weihrauch besprühen. Andernfalls droht umgehende Deindustrialisierung. Immerhin steht laut Bundesverkehrsminister Volker Wissing (ebenfalls FDP) neben dem Wirtschaftsstandort der liberalste aller liberalen Werte auf dem Spiel: „Autofahren bedeutet Freiheit.“

Wir sind so frei und schauen genauer hin, denn die Wahrheit ist, wie so manch Zweitauto, immer konkret: Meine Mutter zum Beispiel wohnt infrastrukturschwach auf dem Land. Ohne Auto wäre sie aufgeschmissen. Das liegt vor allem daran, dass es keine Alternative gibt: Der Bus fährt zwei Kilometer entfernt höchstens dreimal am Tag, sonntags gar nicht. Der nächste Bahnhof ist 25 Kilometer entfernt, der Lebensmittelladen 15 Kilometer.

Diese freiheitliche Infrastrukturschwäche hängt zusammen mit dem Diktum, dass es zum Auto spätestens seit 1949 keine zweite Meinung geben darf. Womöglich hat das auch – Triggerwarnung: gewagte These! – etwas damit zu tun, dass alle 20 bisherigen Verkehrsminister der Bundesrepublik männlich waren, jedenfalls dem Namen nach. Ihre sieben DDR-Kollegen hatten ebenfalls männlich zu lesende Vornamen. Die amtierende Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) dagegen ist, wie viele im Klimaschutz Aktive, eine Frau. Das kann natürlich, wie so manches in der Verkehrspolitik, reiner Zufall sein, eine Kontingenz des Patriarchats sozusagen. Wir erwähnen es nur der Vollständigkeit halber: Gut möglich, dass Betonköpfigkeit im Verkehrssektor auch ein klitzekleines Bisschen mit dem Geschlecht zu tun hat – aber sicherlich kann es dazu zwei Meinungen geben.

Doch schauen wir weiter: Ist der alleinerziehende Vater, der sein Kind mit dem SUV zur Schule fährt, um danach ins Büro zu stop-and-go-en, frei? Oder bringt er das Kind unter anderem deshalb mit dem Auto, damit es nicht von anderen totgefahren wird? Und sein Kind – entwickelt es sich freier als dessen Klassenkameradin, die auf dem Schulweg eigenständig zu Fuß die Welt erkunden darf? Oder wie ist es mit dem Radfahrer, der sich vor und nach der Arbeit den Wind um die Nase wehen lässt und der Baustelle, Müllabfuhr oder lästigen Einparkern elegant ausweichen kann? Ist der Radler wirklich weniger frei als all die armen geknechteten Seelen, die morgens und abends ganz ohne Tempolimit im Stau stehen zu müssen meinen, in Verteidigung ihrer Freiheit eingekästelt in ihr kleines metallmobiles Gefängnis?

S-Bahnfahren ist Sklaverei

Schließlich wäre zu bedenken: Nur 15 Prozent der deutschen Bevölkerung leben, wie meine Mutter, in Dörfern mit weniger als 5.000 Einwohnern – 77 Prozent dagegen in Städten oder Ballungsgebieten. Busse, Trams, S- und U-Bahnen, Fern- und Nahzüge sind für die Mehrheit der Deutschen oft unkompliziert nutzbar – und wären es noch mehr, wenn all das Geld, das in den Ausbau des Autoverkehrs fließt, anders angelegt würde.

Aber der Blick ist vom Vorüberfahren der Autos so starr geworden, dass er nichts mehr hält – eine Auto-Version des Rilkeschen Hospitalismus: Ihm ist, als ob es nur noch Autos gäbe, und hinter all den Autos keine Welt. Wenn wir den Verkehrsminister beim Wort nehmen, sind all diejenigen, die das Fahrrad, die eigenen Gliedmaßen oder/und den öffentlichen Nahverkehr verwenden, zutiefst unfreie, nachgerade zwanghafte Wesen, die nur darauf warten, von der FDP befreit zu werden. S-Bahnfahren ist pure Sklaverei!

Investitionen in den Autoverkehr sind mithin ein Gebot der Menschenrechte. Die liegen denn auch dem FDP-Mann Lukas Köhler am Herzen. Der Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Parteivorsitzende hat Philosophie studiert und weiß, wovon er spricht: „Tempolimit ist eine Freiheitseinschränkung, die nicht nötig ist.“ Umgekehrt gilt: Schnelligkeit = Freiheit. Also Turbo-Ausbau der Autobahnen! Da ist zu vernachlässigen, dass ein Tempolimit nicht nur die Zahl der Verkehrstoten, sondern auch der Emissionen deutlich senken würde. Für die Freiheit sind eben auch im Verkehr Opfer zu bringen: Follow the speed!

Dazu kann es keine zwei Meinungen geben – mit einer Ausnahme: Christian Lindner war zu einem Tempolimit bereit, falls die Atommeiler länger liefen. Free Isar 2! Wie stets hat der FDP-Chef die Zukunft fest im Blick: E-Autos brauchen Strom, und der kommt am freiesten aus der Atomsteckdose. Wir lernen: Autofahren ohne Zweitmeinung bleibt auch unterm 20. nicht gegenderten Verkehrsminister eine Freiheitseinschränkung, die zwingend notwendig ist.

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Geschrieben von

Katharina Körting

Freie Autorin und Journalistin

2024 Arbeitsstipendiatin für deutschsprachige Literatur der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt

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