Raus aus der Kloake

#allesdichtmachen Es ist richtig, politische Maßnahmen in einer Pandemie kritisch zu begleiten. Und es ist gefährlich, diese Kritik reflexhaft wegzukippen

Ich stehe auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. So altbacken klingt das. Ich dachte, dieser Boden wäre fest und sicher, aber nun wackelt er. Jedenfalls gerate ich ins Wanken in meiner Überzeugung, in einer unerschütterlichen Demokratie zu leben. Die Grundrechte sind so stark eingeschränkt, seit über einem Jahr, dass ich mir Sorgen mache. Mein Grundvertrauen in dieses Land, in diesen Staat hat einen tiefen Knacks bekommen. Denn allzu viele Grundrechte gelten seit Beginn der Pandemie nur noch unter Vorbehalt. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist in ihren Grundfesten erschüttert, nicht durch die Pandemie, sondern durch die Maßnahmen, die gegen sie ergriffen werden.

Ich mache mir Sorgen, weil die Grundrechte auf Bildung, freie Berufsausübung, Freizügigkeit nur noch bedingt gelten: vorbehaltlich von Tests, Masken und bald auch Impfungen. Eingriffe in die körperliche und seelische Unversehrtheit, über die Menschen frei entscheiden können sollten, werden zu Voraussetzungen, um Grundrechte wahrnehmen zu können.

Mir ist klar, dass dies nicht ohne Grund verfügt und in Gesetze gegossen wird. Aber es gibt auch gute Gründe, sowohl die Verfügungen und Gesetze bedenklich zu finden, als auch das mit ihnen kommunizierte Narrativ der Alternativlosigkeit.

Erst mit Argumenten beschäftigen

„Besorgte Bürger“ haben hierzulande aus guten Gründen keinen guten Ruf, aber die Sorge darum, nicht in die rechte Ecke gestellt zu werden, scheint alle anderen Sorgen und Zweifel zu neutralisieren. Das führt dazu, dass man kaum noch in Ruhe und frei sprechen kann aus lauter Angst, nicht nur vor dem Virus, nicht nur vor der Überlastung der Intensivstationen, sondern auch davor, als „unsolidarisch“ etikettiert und „entfreundet“ oder gleich als „Corona-Leugner“ lächerlich gemacht zu werden, gern mit dem Hinweis auf "DIE Wissenschaft".

Auch darum mache ich mir Sorgen: dass, im Bemühen darum, nur ja nicht der falschen Seite zu applaudieren oder Gedanken zu äußern, die nicht durch die Solidaritätsmühle gemahlen wurden, auch die Bedenken von Demokraten, die ihre Sorgen äußern, in rechte Ecke gestellt werden, so dass man sich mit ihren Sorgen und ihrer Kritik nicht beschäftigen muss.

Die Reaktionen auf die Kampagne #allesdichtmachen von 53 zum Teil bekannten Schauspieler:innen stärken meine Sorgen.

Raum für den Zweifel

Es sollte auch während einer Pandemie möglich sein, sachlich und auch emotional Kritik an kritikwürdigen Entscheidungen, Maßnahmen, Gesetzen und Verfahrensweisen sowie Sorgen über deren Folgen zu äußern, ohne als „rechts“ abgestempelt zu werden wie hier die Schauspieler, die teils allesamt als „Schwurbler“ in die „Kloake“ gekippt werden. Eine solche Entweder-Oder-Schematik spielt tatsächlich Antidemokraten in die Hände, die von Mainstream-Medien und linksgrünversiffter Mehrheitsgesellschaft fabulieren. Wenn Satire nicht mehr als solche fair gewürdigt und alle Kritik als rechts diffamiert wird, schärft man denen, die gegen eine „Corona-Diktatur“ Propaganda machen und sich als Widerstandskämpfer stilisieren, die Klingen.

Ich mache mir Sorgen wegen der fortschreitenden Moralisierung der Debatte. Eine mitunter totalitär anmutende Forderung nach „Solidarität“ droht zum Förderprogramm von Denunziantentum und undemokratischer Rechtgläubigkeit zu werden. Krankheit, Sterben und Tod werden teils als Totschlagargument genutzt gegen alle Zweifel, ob die Maßnahmen zum Schutz vor Krankheit angemessen, geeignet und verhältnismäßig sind. Und gegen alle Zweifel, ob die Maßnahmen vielleicht selbst zu viel psychisches Leid und Krankheit hervorbringen.

Die Alarmstimmung, die in dem Land seit über einem Jahr herrscht, erschwert eine differenzierte Auseinandersetzung und führt immer noch dazu, dass mit Verweis auf „Zeitverlust“ Gesetze nicht so gründlich geprüft werden, wie es nötig wäre. War etwa im vergangenen Jahr nicht genug Zeit, an Gesetzentwürfen zu Corona-Maßnahmen zu arbeiten? Im Parlament darüber zu debattieren? Aber: das Gesetz soll ja „nur“ bis zum 30. Juni gelten.

Aus November wurde Mai

Zu gut erinnere ich mich daran, dass der zweite Lockdown eigentlich den November über gelten sollte, und jetzt ist bald Mai. Auf solche Befristungen kann man sich demnach kaum verlassen, zumal die politischen Entscheidungen zunehmend durch Zahlen ersetzt werden: Nicht die Exekutive oder das Parlament entscheiden fürderhin, ob eine Schule geschlossen wird, ein Geschäft einen Test verlangen bzw. ein Arbeitnehmer zu Hause bleiben muss oder ein Kind in die Kita darf. Nicht Politik entscheidet ab heute mehr, ob ein Theater, eine Gaststätte, ein Modellprojekt wieder öffnen darf, sondern einzig und allein die Zahl 100, beziehungsweise 165. Dies gibt, so finde ich, viel größeren Anlass zur Sorge als die Frage um temporäre „Ausgangssperren“: dass Zahlen, unabhängig von anderen Parametern, „entscheiden“, ob Bürger:innen Grundrechte wahrnehmen dürfen oder nicht. Wieviel Numerokratie verträgt eine Demokratie?

Katharina Körting ist freie Autorin. 2021 erschienen die Essays Kontakttagebuch (Kid Verlag) und Liquidierung der Vergangenheit (Geest-Verlag)

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Katharina Körting

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