Beim Feierabendbier im Schützengraben: Wie der Krieg Freundschaften zerstört
Meinung Früher war mein bester Kumpel ein toleranter Mann. Nun kann man nicht mehr mit ihm streiten. Schon Zweifel am Kriegskurs sind für ihn zu viel. Über ein Feierabendgespräch, das zur Abnutzungsschlacht geriet
Vielleicht hat auch die Zeit der Lockdowns ohne Stammtisch ihre Spuren hinterlassen?
Foto: Klaus Pichler/Anzenberger/Plainpicture
Der Krieg hat jetzt die Freundschaft angegriffen. Mein bester Kumpel will nicht mir streiten, sondern mich auf seine „Seite“ ziehen – von der „falschen“. Die Ukrainer leiden ungleich schlimmer, aber wenn das so weitergeht, kann auch hierzulande von „zivil“ nur noch in der Vergangenheit gesprochen werden: Weißt du noch, damals? Als wir uns noch nicht in Freunde und Feinde aufteilten? Als es um die gute Sache ging, nicht um die richtige Meinung? Als man nicht von vornherein unterstellte, die Andersdenkende oder auch nur unvorsichtig Formulierende sei mindestens rassistisch, sexistisch, verschwörungsblöd, rechtsunterwandert? Als wir nicht Sprechpuppen waren mit Munition im Mund? Vorbei.
Wir sitzen intakt in der Kneipe, aber die Verbindun
Verbindung ist versehrt. Die ukrainische Köchin bringt den Borschtsch mit dem traurigen Lächeln, das sie jedem Gast schenkt, doch uns ist der Appetit vergangen. Sie will und muss nach Kiew zurück, die Behörden verwehren ihr freie Wohnortwahl, der Deutschkurs fällt ständig aus. Heimweh gewinnt gegen Luftalarm. Wenn ich sie sehe, habe ich ein schlechtes Gewissen. Weil ich mehr Angst vor Atombomben und Gedankenpolizisten habe als vor denen, die ihr Land zerstören. Und weil ich Angstbeschwörern allseits misstraue – sie legen ihre Interessen nicht offen. Sie benutzen Angst als Waffe, schärfen sie im so genannten Abnutzungskrieg, und ihre Verletzungen heilen nie.Das Thema lässt sich nicht vermeidenIch weiß nicht, wie viele Wunden da noch kommen. Ob unsere Freundschaft überlebt. Und was wir damit erreichen wollen. Es bringt auch nichts, das Thema zu vermeiden, es kommt eh irgendwann, wie ein Killer auf Koks: Man kann ihn nicht ignorieren. Muss in Deckung gehen. Den anderen der Desinformation und Einseitigkeit bezichtigen. Sind Meinungen nicht total deckungsgleich, fliegen Geschosse, auch beim einst harmlosen Feierabendbier. Flugabwehrsysteme würden nichts helfen: Der Feind sitzt zu nah. Und wehrt jede Frage ab, die ihn zweifeln lassen könnte.Früher war der Mann eher sanft, großzügig, tolerant, nun wirkt er grimmig, stets abwehrbereit, als lauere Gefahr in meinen Worten. Angriff ist die beste Verteidigung. Und dabei darf man keinesfalls sein Weltbild erschüttern lassen. Er muss wissen, wo der Feind steht, muss glauben, dass es ein eindeutiges Richtig und Falsch gibt. „Ich will deine Zweifel nicht“, sagt er in einem ungeschützten Moment, „ich will sicher sein.“ Zweifel macht ihn aggressiv. Stimmte ich ihm zu, könnte er noch sicherer sein. Erst wenn alle dasselbe denken, ist Sicherheit sicher genug. Deshalb wehrt er sich gegen meine Unsicherheit, mit der Postole auf meiner Brust: „Was würdest du tun, wenn du entscheiden müsstest: Waffen ja oder nein?“ Die einzige Frage, die er gelten lässt. Darauf spitzt sich alles zu – alle anderen Gedanken müssen in Quarantäne, denn es geht jetzt immer um Leben und Tod, auch in der Kneipe. Helfen wir den Ukrainern mit unserer Überzeugung – oder lassen wir sie im Stich mit unserem Zweifel? Moral misst sich heute im Grad von Gewissheit und Zweifelabwehrfähigkeit.Bist du einwandfrei gesinnungsintakt?„Ich würde lieber zu den Überzeugten gehören“, sage ich. Einwandfrei gesinnungsintakt lebt es sich leichter. „Antworte endlich“, insistiert er, schärfer werdend. „Was würdest du tun?“ Das „du“ betont er, als hinge die Entscheidung nur von mir ab. Sein Blick sticht in meinen. Seine Hand schneidet fuchtelnd durch die Luft. Ich fühle mich bedrängt, bedroht, geliefert. Er rückt nah an mich ran in seinem Wunsch, dass ich das Richtige erkenne, damit er wieder in Frieden mit mir anstoßen kann. Ich muss ihn enttäuschen – ich weiß es einfach nicht. Das ist zu wenig, er setzt mich unter Dauerfeuer, schießt die Frage immer wieder ab – seine Dicke Bertha.Gern wechselte ich das Thema, bespräche aus anderer Perspektive mit ihm diesen schmutzigen Krieg, der uns besetzt hält und mit Dreck werfen lässt. Das hat nicht mal Corona geschafft, obwohl wir auch damals heftig stritten. Da gab er den Hardliner, war persönlich aber inkonsequent. Rigorismus liegt dem Freund eigentlich ja nicht, er war nie Dogmatiker. Aber er glaubt, was in seiner Zeitung steht und was die Außenministerin sagt. Kampf der Toleranz! Wer nicht dafür ist, ist dagegen, Einseitigkeit ist erste Bürgerpflicht. Wer ausschert, bedroht den Sieg des Guten.„Du kannst den Krieg nicht mit Moral gewinnen“, sage ich. „Mit Rumphilosophieren auch nicht“, etgegnet er, „Wischiwaschi können wir wieder machen, wenn der Krieg vorbei ist.“ Er hat Recht. Und Unrecht. Weil Frieden immer wischiwaschi ist – und ohne Nachdenken unmöglich wird.Eine Frage wie die Dicke BerthaIch spüre, wie unangenehm dem Freund seine eigene Verschanzung ist – und wie sehr er sie braucht. Er will klar auf der richtigen Seite stehen. Sagt er auch. Das rührt mich, ich sehe die Menschlichkeit, die ihn kämpfen lässt – und sei es gegen meine Zweifel. Mit jeder Ungewissheit, die er in sich killt, erhöht sich, so scheint es, die Geschwindigkeit, mit der die deutschen Panzer in die Ukraine rollen. Jeder Gedanke, so scheint es, hat direkten Einfluss auf die Schlagkräftigkeit der Armee. So muss er mich in die rechte Ecke schieben. Und so muss ich meine Warmherzigkeit ihm gegenüber unterdrücken, denn das kann ich nicht zulassen: Es ist dort muffig, in dieser Ecke, da reiben sich Leute die Hände, mit denen ich nichts zu tun haben will. „Warum machst du das mit mir?“, frage ich. „Mache ich doch gar nicht“, behauptet er, „ich akzeptiere andere Meinungen.“ Aber dann kommt sein ABER: „Aber sie sind falsch. Du stehst auf der falschen Seite.“ Es ist sein Kriegs-Aber.„Ich weiß doch gar nicht so genau, was ich denken soll“, gestehe ich. Leise wollte ich das sagen, aber ich klinge wie ein ungehorsames Kind. Mein Lautsein wütet gegen seines. Mich soll er hören, nicht irgendwelche anderen, die in seinem Kopf herumspuken, die es nicht gut meinen, die zu den Falschen gehören, zu den Feinden, die man ächten muss mit jedem Wort – ja, die man gar nicht erst zu Wort kommen lassen darf! Der Rahmen ist eng, in dem er sich mit seinem „russischen Angriffskrieg“, seinen „westlichen Werten“ und seinem Horror vor einem „Diktatfrieden“ bewegt, den „unsere Waffen“ verhindern müssten. Er gibt ihm Halt, ich darf ihn nicht sprengen. Auf seiner Seite soll ich kämpfen.„Wieso redest du nur immer von Seiten?“, will ich wissen. „Zum Krieg muss man die richtige Meinung haben“, entgegnet er, „sonst macht man sich mitschuldig.“ So läuft das jetzt. Kein Grau mehr, kein „Ich weiß nicht“. Wer den Rahmen nicht aushält, leistet Kriegsverbrechen Vorschub.Ja oder Nein – sonst gibt es nichts mehr„Ich bin für Entscheidungen“, erklärt der Freund, „deine Zweifel helfen nicht.“ „Aber wir beide müssen doch gar nichts entscheiden“, wende ich ein. Wir hätten die Freiheit, möchte ich sagen, unsere Köpfe nicht zu panzern, sondern zu öffnen. Stattdessen kommt dies aus meinem Mund: „Haben sie dir das Gehirn gewaschen?“ Auch ich bin unfair, aggressiv. Verteidige mich gegen Vorwürfe, die ich nur herauszuhören glaube. Und bringe meine eigene Dicke Bertha in Stellung: „Wo soll die ganze Aufrüstung hinführen? In den Weltkrieg? Moralisch sauber – aber tot!?“Wütend schüttelt der Freund den Kopf. „Ich habe zuerst gefragt!“, er wiederholt seine schlimme Frage: „Was würdest du tun, wenn du entscheiden müsstest, Waffen ja oder nein?“ Ich gebe zu: „Vermutlich würde ich handeln wie der Bundeskanzler, viel reden, Friedenspläne schmieden, so vorsichtig wie möglich formulieren.“„Siehste!“, ruft er. „Was denn?“, frage ich. Wir sehen ja nur noch schwarzen Rauch. Der vernebelt unsere Gedanken. Wir stehen im Schützengraben, die Füße im Schlamm, und schießen uns Meinungen um die Ohren, während eine gigantische Aufrüstungsindustrie die ganze Welt und alle Gehirne vermint. „Wo soll das hinführen?“, wiederhole ich meine Frage.Doch im Krisenmodus kann man nicht an morgen denken – man darf es nicht mal. „Es geht jetzt nur um jetzt“, sagt er. Die Zukunft würde seine Gegenwart in Frage stellen. Deshalb kramt er ein anderes Jetzt hervor, das demnächst droht, nämlich „den Russen“, den man davon abhalten müsse, in Polen einzumarschieren: „Er steht schon vor der Tür!“ Wir müssen ihm den Kopf wegschießen, bevor er unseren Kopf wegschießt. Am besten schießen wir gleichzeitig, dann sind alle Köpfe und Zweifel beseitigt, und der Krieg hätte freie Bahn.Ich stehe jetzt auch, weil ich fürchte, dass es völlig eskaliert, stehe in der Tür, direkt neben dem Krieg. Ich winke und gehe und nehme ihn mit. Einen Waffenstillstand gibt es nicht, nur eine kleine Feuerpause. Meine Hals ist rau von aller unterlassenen Freundlichkeit, und mein Herz schwer wie eine zu spät gelieferte Panzerhaubitze.
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