„Nur weil ich nicht reise, bin ich nicht unbedingt nachhaltig“
Interview Sind Individualreisende die besseren Tourist:innen? Nein, sagt die Forscherin Kerstin Heuwinkel. Ökologisch und sozial verträglich könne jede:r Urlaub machen – unabhängig vom Geldbeutel
Wegfahren und sich für ein paar Wochen bei niemandem melden: Das war einmal. Zumindest für einige. Viele Reisende wollen heute in fernen Ländern aktiv sein, sich bilden oder etwas Gutes tun. Nach wie vor gibt es aber auch eine Menge Menschen, die sich nach harter Arbeit mit einer Pauschalreise schlicht erholen möchten. Und die sind keineswegs automatisch weniger nachhaltig unterwegs als Individualreisende, sagt die Tourismussoziologin Kerstin Heuwinkel.
der Freitag: Frau Heuwinkel, schön, dass es so schnell geklappt hat! Ich hatte befürchtet, dass Sie schon im Urlaub sind.
Kerstin Heuwinkel: Noch nicht, aber bald! Wenn nicht noch etwas dazwischenkommt. Aber das sind Luxusprobleme, Menschen müssen aus ganz anderen Gründen ihre Heimat verlassen. Wenn da
sind Luxusprobleme, Menschen müssen aus ganz anderen Gründen ihre Heimat verlassen. Wenn da bei mir mal eine Reise nicht klappt, dann ist das halt so. Wir haben zwei Jahre erlebt, dass Reisen, wie wir es gewohnt waren, nicht mehr funktioniert. Und Menschen wollen reisen. Sie fahren dann halt mit Wohnmobilen, Vans, dem eigenen Auto in die Nachbarländer.Wie vor 50 Jahren?Es hat sich tatsächlich so viel gar nicht verändert. Wenn man sich die Entwicklung des Reisens anguckt, ging das 1950, 1960 los, verbunden mit dem damaligen Wirtschaftswunder. Immer mehr Leute hatten ein Auto – und immer mehr sind verreist. Seit 1970 unternehmen rund 70 Prozent der Deutschen mindestens einmal im Jahr eine mindestens fünftägige Urlaubsreise. Das ist seitdem ziemlich stabil.Also gibt es keinen Kulturwandel des Reisens?Nur in bestimmten Schichten. Und was die Fortbewegungsmittel betrifft. Das Auto ist immer noch die Nummer eins, aber mit den sogenannten Billigfliegern kamen nicht nur Fernreisen für viel mehr Menschen in Frage, sondern auch Kurzreisen. Früher fuhr man klassisch im Sommer in Urlaub, vielleicht noch, wenn man es sich leisten konnte, im Winter zum Skiurlaub. Jetzt verreisen viele auch zwischendurch, an den Brückentagen im Mai, Juni oder im Herbst.Aber das betrifft nur Menschen, die genügend Geld haben, oder?Stimmt. Auch ein sogenannter Billigflug ist nicht für alle billig. Er ist immer noch nicht teuer genug, was Umwelt und Klima betrifft, aber ein paar hundert Euro für Unterkunft und Verpflegung für so eine Kurzreise muss man auch erst mal haben. Diese Ungerechtigkeit ist schon immer da gewesen: 30 Prozent können eben nicht jährlich verreisen, manche fahren nur alle drei Jahre, andere nie. Weil das Geld nicht reicht. Sie kommen in den Statistiken aber kaum vor.Placeholder infobox-1Warum ist das so?Das hat etwas mit Scham zu tun. Im Moment herrscht ja der Eindruck, auch wegen der digitalen Netzwerke, dass alle ständig verreisen. Wer da nicht mithalten kann, äußert sich dann eben nicht zum Thema Tourismus. Oder entschuldigt sich: Dieses Jahr ging es halt nicht …… als gehöre es zu einem vollständigen Leben dazu, möglichst oft zu verreisen?Absolut. Es gibt einen gesellschaftlichen Druck, zu verreisen. Man postet tolle Fotos, inszeniert das eigene Reisen. Der Anspruch an den Urlaub steigt, er soll aufregend und exotisch sein – und alle sollen wissen, wie toll das alles ist.Ist man denn überhaupt wirklich dort, wohin man verreist ist, wenn man die ganze Zeit in Kontakt mit seiner Bubble ist und sich anpreisen muss?Früher war Urlaub Gegenwelt. Ich bin dann mal weg. Ich löse mich. Ich vergesse. Ich bin nur mit den Menschen zusammen, die ich wirklich um mich haben möchte. Und wenn ich zurückkomme, bin ich erholt, voll mit neuen Eindrücken, kann mein eigenes Bett wieder besser schätzen, finde den Alltag wieder erträglich. Heute gibt es den Unterschied nicht mehr, da man digital überall gleichzeitig ist. Das Gefühl für Räumlichkeit geht dabei verloren.Neulich habe ich gelesen, dass durch das Smartphone der Raum verschwindet. Wir killen ihn. Tun wir das auch beim Reisen? Sind wir gar nicht mehr unterwegs?Das würde ich nicht sagen. Wir haben ja immer noch einen Körper. Über unseren Körper nehmen wir ganz viele Dinge wahr. Wir begegnen anderen Menschen und teilen einen Raum miteinander. Wenn ich lande, steige ich aus dem Flugzeug aus, die Flugzeugtür öffnet sich, ein Schwall warme Luft kommt, es riecht ganz anders, ich höre eine andere Sprache… Wir dürfen nicht vergessen, dass wir als Menschen immer noch körpergebundene Wesen sind. Ortsveränderung nehmen wir durchaus wahr.Seit wann gibt es das eigentlich: Reisen als Vergnügen?Lange! Reisen war immer schon Spaß und Statussymbol in einem. Mary Shelley und Lord Byron sind auch schon herumgereist, oder Goethe nach Italien … Schon in der Antike gingen Menschen zu Unterhaltungszwecken oder aus kulturellem Interesse in die Ferne, besuchten heiße Quellen, reisten aus gesundheitlichen oder aus religiösen Gründen.Pilgern zählt zum Tourismus?Auf jeden Fall! Aber zur Gewohnheit wurde der Urlaub erst so ab 1975, 1980. Seitdem gehört Reisen dazu. Heute gibt es Apps, in denen man sammeln kann, wie viele Länder schon bereist wurden.Früher hatte man Stempel im Reisepass.Ja genau (lacht), und es gab Dia-Shows, es gab Korsika-Aufkleber am Auto …Wie würden Sie Tourismus definieren?Tourismus ist, wenn ich aus einer Vielzahl von Gründen freiwillig meinen üblichen Lebensraum verlasse und mindestens einmal woanders übernachte, Besuche bei Verwandtschaft und Freunden gehören ebenso dazu wie Geschäfts- und Bildungsreisen und der klassische Erholungsurlaub. Allerdings gibt es Grenzbereiche – gehört zum Beispiel eine Kur dazu? Für die Tourismus-Industrie ist nur interessant, was Geld bringt. Mit dem Zug irgendwohin fahren und wild zelten, zählt statistisch nicht.Früher war Urlaub einfacher: Man lag am Strand. Heute erscheint es mir komplizierter, die Reiseziele exklusiver und weiter weg. Es soll ganz speziell und individuell sein – hat sich etwas daran geändert, was das Ziel von Urlaub ist?Das ist eine gute Frage, aber Sie dürfen nicht vergessen, dass es nur für eine kleine Gruppe so anspruchsvoll zugeht. Die sogenannte Masse liegt weiterhin in der Sonne und entspannt, macht vielleicht am Abend Party oder genießt die Zeit mit der Familie – und nur die, die sich etwas Besseres dünken, machen Yoga, Sport, Bildung. Früher gab es Sprachreisen, aber das reicht jetzt nicht mehr. Heute muss man auch die Welt retten. „Voluntourism“ nennt sich das. Touristen sind in sozialen oder ökologischen Projekten aktiv und meinen, sie täten etwas Gutes. Oft ist es aber gar nicht so.Inwiefern?Es ist inzwischen ein Markt entstanden für Menschen, die verreisen und etwas Gutes tun wollen. Jugendliche fahren drei Monate irgendwohin, nach Afrika, Asien, jedenfalls in den globalen Süden, per Touristenvisum, und arbeiten dort mit Kindern, zum Beispiel in einem Waisenhaus. Das Problem ist nur, dass dort eventuell gar keine Waisen sind, sondern Kinder, die den Familien weggenommen wurden – damit Touristen aus dem globalen Norden sie „betreuen“ können. Ohne jede pädagogische Ausbildung. Oder sie pflegen Löwenbabys – die danach dann getötet werden.Da erfüllt der Markt das Bedürfnis nach guten Taten auf schlechte Weise?Genau, und dann noch einen kleinen Surfkurs ... Es gibt auch tolle Programme, aber leider viele schwarze Schafe. Besser wäre: hinfahren, Geld dalassen, auf dem Hotelgelände bleiben. Und nachfragen, ob die Angestellten anständig bezahlt werden, ob das Frühstücksbuffet regionaler Herkunft ist …Also statt Voluntourismus besser der gute alte Massentourismus?Mit dem Begriff „Massentourismus“ bin ich vorsichtig.Warum?Weil er abwertend ist. Wir reden von Menschen und menschlichem Verhalten, wenn wir vom Reisen reden. Touristen sind keine wilde Horde, auch wenn manche Tourismuskritiker das so sehen. Familien mit schulpflichtigen Kindern können eben nur in den Sommermonaten verreisen, buchen dann auch aus Kostengründen Pauschalangebote, und das ist völlig in Ordnung.Es gib also keine guten und schlechten Touristen?Nein. Wir sind alle Touristinnen. Auch die Leute, die sagen: Ach, ich bin da ganz individuell und wohne nur bei Einheimischen. Wir kommen immer noch aus einem anderen Land. Wir sind als deutsche Touristen die Ersten, die gerettet werden, wenn es nötig ist. Wir sind privilegiert. Ich würde bei solchen Homestays immer gucken, ob die einheimische Familie wirklich etwas davon hat. Mal die Perspektive wechseln: Was würden Sie sich als Einheimische von Touristen wünschen? Dass sie in Ihrem Supermarkt einkaufen und in Ihrer Küche kochen?Manchmal macht man als Individualtourist vielleicht mehr kaputt als im Hotel auf Mallorca.Ja. Die negative Bedeutung des Wortes „Tourist“ ist übrigens alt. Schon immer haben sich Menschen über andere Reisende beschwert, um darüber eine soziale Abgrenzung zu erreichen. Meine Studierenden bezeichnen sich auch lieber als Reisende.Dient Reisen überhaupt noch der Erholung, oder ist es in erster Linie ein soziales Distinktionsmerkmal?Es gibt immer noch sehr, sehr viele Menschen, die die körperliche und seelische Erholung brauchen, die malochen, die Früh- und Nachtschichten schieben. Die brauchen zwei Wochen Sonne für ihre Muskeln und ihren Körper und für ihre Seele, um sich zu entspannen. Endlich mal ausschlafen.Dann geht man als Malocher in ein anderes Land und lässt dort andere für sich malochen?Diesen Vorwurf sollten Sie nicht den Touristen machen, sondern den Anbietern.Ich meinte es nicht als Vorwurf, eher als Beschreibung der kapitalistischen Wirklichkeit. Wie könnte man daran etwas ändern?Durch Transparenz, durch mehr Respekt für die Arbeit der Angestellten. Meines Erachtens muss sich auch die Politik mehr umden Tourismus kümmern.Wie meinen Sie das?Er wird nicht ernst genommen. Tourismus ist aber keine Micky-Maus-Industrie. Wir reden über sehr viele Arbeitsplätze, Völkerverständigung, gesellschaftliche und umweltschädigende Auswirkungen. Andere Länder haben Tourismus-Ministerien. Oder sie haben Tourismus als Querschnittsthemen sinnvoll in allen Ministerien und nicht nur im Wirtschaftsministerium verankert.Ist die Bedeutung Ihres Faches durch Corona nicht klarer geworden?Nö.Immerhin hat man den Tourismuskonzernen eine Menge Geld gezahlt.Schon, aber man hätte es an Bedingungen knüpfen sollen: Nachhaltigkeit, faire Löhne … fördern und fordern! Manche Reiseveranstalter oder auch viele kleine und mittlere Unternehmen sind in Bereichen der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit von sich aus aktiv. Aber das reicht nicht aus. Die Politik hält die Füße still.Ist es eine Klassenfrage, nachhaltig zu reisen, weil es teurer ist?Nein. Ich kann auch günstig nachhaltig reisen, mit Fahrradtouren zum Beispiel, den Rhein entlang, mit Zelt, auf ökologisch zertifizierten Campingplätzen. Auch im Ausland muss das Nachhaltige nicht unbedingt teuer sein. Suchen Sie sich eine familiengeführte Pension in Italien, gehen Sie lokal essen, produzieren Sie nicht so viel Müll, nutzen Sie das regionale Kulturangebot! Gerade die Leute, die aufs Geld achten müssen, sollten Urlaub machen können. Der Massentourist ist nicht per se schlechter als der Individualtourist.Sind Sie dafür, Inlandsflüge zu verbieten und Fernflüge zu kontingentieren?Ja. Ich weiß, dass viele Menschen sehr böse auf Verbote reagieren. Aber solange es diese Angebote gibt, werden sie auch genutzt. Man sollte natürlich Alternativen schaffen, aber man muss innerhalb Deutschlands nicht fliegen – egal, wie viel Geld man hat. Je mehr Geld ich habe, desto mehr sollte ich in der Lage sein, meine Termine anders zu organisieren. Wenn ich viel Geld habe, kann ich mir auch eine Fahrerin nehmen und arbeite im Auto. Aber ich kenne Leute, die fliegen regelmäßig mit dem Flug München – Frankfurt! Als Erstes würde ich innerdeutsche Geschäftsreisen verbieten.Und wie steht es mit der sozialen Nachhaltigkeit?Man sollte Menschen besser vor Ausbeutung schützen – auch vor sexueller Ausbeutung. Im Tourismus arbeiten bis zu 80 Prozent Frauen, die meisten mit Niedriglohn. Es ist eine wenig geachtete Arbeit, kaum Aufstiegschancen, es gibt Prostitutionstourismus.Sex und Reisen sind halt Waren.Leider.Wie viel Prozent der angebotenen Reisen sind überhaupt sozial nachhaltig und umweltverträglich?Nicht viele. Sobald Sie fliegen oder Auto fahren, ist es nicht mehr umweltverträglich. Aber zu Hause zu sitzen und Avocados zu essen, das ist auch nicht die Lösung. Nur weil ich nicht reise, bin ich nicht unbedingt nachhaltig.