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Prostitution In Flatrate-Bordellen zahlen Freier einmal für den ganzen Abend. Anka arbeitet dort lieber als in klassischen Sexclubs
Ausgabe 40/2014
Auf einer Strichliste wird die Zimmerwahl der Prostituierten notiert
Auf einer Strichliste wird die Zimmerwahl der Prostituierten notiert

Foto: Anna Aicher

Es ist schon Mitternacht, und Anka hat bisher nur mit zwei Männern geschlafen. Das langweilt sie. Sie sitzt mit dem Rücken zur Theke, plaudert mit ihren Kolleginnen, tippt auf ihrem Handy, fährt sich durch die blondierten Haare und trinkt Cola. Ihr Blick schweift durch den Barraum. Die Zeit in Berlin-Schöneberg dehnt sich. Die vier Stunden bis zu Ankas Feierabend gehen schneller vorbei, wenn sie Freier bedient.

Ob sie in dieser Nacht mit zwei oder zehn Männern schläft, macht für ihren Kontostand keinen Unterschied. Sie arbeitet im King George, einem von etwa 50 Flatrate-Bordellen in Deutschland. Die Freier zahlen hier 99 Euro und können dann so oft Sex haben, wie sie wollen. Ein Männertraum, sagt der Besitzer Sascha Erben. Ein menschenunwürdiges Geschäftsmodell, sagt Frauenministerin Manuela Schwesig.

Seit Jahren fordern Aktivisten das Verbot von Flatrate-Bordellen. Die Prostituierten könnten nicht entscheiden, mit wem sie wie Sex haben, sie würden ausgebeutet. Es gibt Razzien und Verurteilungen. Schon vor sieben Jahren kündigte die damalige Frauenministerin Ursula von der Leyen ein neues Prostitutionsgesetz an, doch erst im Juni trafen sich Aktivisten, Bordellbetreiber, Sexarbeiter, Wissenschaftler, Polizisten und Politiker, um eine Reform zu diskutieren. Union und SPD streiten sich seit Monaten über Kondompflicht, Registrierungszwang und Strafen für Freier. Nun soll im Herbst ein Gesetzesentwurf stehen. Klar ist aber schon: Wenn das Gesetz in Kraft tritt, soll es keinen Flatrate-Sex mehr geben.

Leben wie die Garderobe

Das King George wirbt mit dem Slogan „Geiz macht geil“. Am frühen Abend ähnelt das Bordell eher einer verschlafenen Eckkneipe. Zehn Prostituierte stehen in Gruppen beieinander, ab und an dreht sich eine Frau an der Stange auf der Tanzfläche, nur ein Freier sitzt an der Bar. Trügen die Frauen nicht Spitzendessous und transparente Tuniken oder eng anliegende Netzkleider, würde man sie für Freundinnen in einem Café halten. Anka, 27 Jahre alt und Rumänin, zeigt in ihrem schwarzen, tief ausgeschnittenen Kleid am wenigsten Haut. „Zu Hause laufe ich nicht so rum“, sagt sie. Ihre Garderobe ist so zweigeteilt wie ihr Leben. „Hier bin ich eine richtige Schlampe, zu Hause bin ich eine Frau.“

Den Freiern will Anka für den Moment das Gefühl geben, dass sie nur für sie da ist – solange die Männer sich nicht in sie verlieben. Ein Freier, der ihr Tattoo mit dem Namen ihres Freundes übersehen hatte, schickte ihr einmal Blumen. Sie schüttelt den Kopf; keine Blumen, keine Romantik. Wenn ihr Freund sie abholt, wartet er immer draußen. Er setzt keinen Fuß in das King George. „Ich habe ihn nie gefragt, wie er meine Arbeit findet“, sagt Anka.

Ihre Odyssee begann mit 15, als sie ihre Tochter bekam. Zum Vater hatte sie schon bald keinen Kontakt mehr. Mit 16 folgte Anka ihrem Nachbarn nach Österreich, ihre Tochter ließ sie bei ihrer Tante in Rumänien. Anka kellnerte, putzte, heiratete den Nachbarn, ließ sich wieder scheiden. Als sie sich das erste Mal prostituierte, sagt sie, habe sie nur an das Geld gedacht, das sie für die Miete und ihre Tochter brauchte.

Seit vier Jahren arbeitet sie nun im King George; ein Job, der nicht leicht zu kriegen war. Ankas Cousine hatte sie bei Bordell-Chef Sascha Erben empfohlen. Doch Erben schickte Anka dreimal weg, weil sie unmotiviert wirkte. Sie versuchte es wieder und wieder. Im Flatrate-Bordell, sagt Anka, sei die Konkurrenz unter den Frauen nicht so hart. In anderen Häusern hat sie die ersten zwei Monate keinen Freier abbekommen. „Die Frauen fressen sich gegenseitig.“

In vielen Bordellen fangen Prostituierte im Minus an, weil sie Zimmermiete, Kondome und Handtücher zahlen müssen. Das fällt im King George weg. Die Frauen hier sind als Selbstständige registriert, jeden Abend erhalten sie eine „Sitzpauschale“. Wie hoch die ist, will Erben nicht sagen, die Prostituierten bekämen 50 Prozent der Einnahmen. Der Rest gehe an ihn.

Seit über zehn Jahren ist Erben, Mitte 40, im Bordellgeschäft. Die Prostituierten sagen, er sei kein Abzocker. Ob es im Hintergrund noch Zuhälter gibt? Bei dieser Frage hört die Fürsorglichkeit auf. Erben sagt: „Was die Frauen nach Dienstschluss mit dem Geld machen, weiß ich nicht.“ Auch der Staat scheint sich mehr für die Steuern als für die Arbeitsumstände der Frauen zu interessieren. Das Finanzamt schickt häufiger Beamte ins Bordell als die Polizei.

Woran kann man erkennen, dass eine Frau ausgenutzt wird? Wenn sie das Geld gleich nach Dienstschluss ihrem Freund gibt? Wenn sie sich, obwohl sie Nacht für Nacht arbeitet, keine Strumpfhosen leisten kann? Und wer kann es einer Frau verübeln, dass sie das Geld ihrer Familie in der Heimat gibt? Auch Anka schickt ihrer Tochter jeden Monat Geld. Einmal hat sie versucht, ihre Tochter nach Deutschland zu holen, doch die wollte lieber bei ihren Freunden bleiben.

Die meisten Frauen im King George kommen aus Osteuropa. Sie sind nicht so anspruchsvoll, sagt Erben. Früher war das King George ein Treffpunkt für Menschen mit Geld. Doch Edelbordelle lohnen sich nicht mehr, sagt Erben. Deswegen setzt er seit 2009 auf die Billig-Gier. Seinen Laden nennt er Pauschalclub. Das Eintrittsgeld verspricht den Freiern neben Sex auch Getränke für den ganzen Abend. Sekt und Champagner kosten extra, und weil die Prostituierten einen Anteil bekommen, fragen sie die Männer gern nach einem Piccolo.

Es ist ein Uhr. Robert sitzt in T-Shirt und Jeans allein vor einem halben Bier und sieht zwischen den leeren Tischen ein wenig verloren aus. Er ist Single und auf Besuch in der Stadt. Nach Pergamonmuseum und Reichstag wollte er in einen dieser Clubs gehen, von denen er im Internet gelesen hatte. Jetzt betrachtet er eine Tänzerin an der Stange. Es ist die Ruhe zwischen der ersten und zweiten Frau, die er heute auf ein Zimmer begleitet. Robert sagt, dass er so gut wie nie ins Bordell geht, aber vor kurzem, fällt ihm ein, war er bei einer Amsterdamer Prostituierten. Viele Männer werden in dieser Nacht versichern, dass sie eigentlich nicht in solche Clubs gehen; sie sprechen dann über „diese Kreise“ und meinen alle Anwesenden im King George, nur nicht sich selbst.

Robert hat sich Mut angetrunken, er geht an die Bar, spricht Anka an. Sie lächelt, huscht in den Eingangsbereich und nimmt sich einen Zimmerschlüssel. Die Managerin schreibt die Nummer auf, Sicherheit für die Frauen und Kontrolle für den Chef.

Am liebsten geht Anka mit ihren Freiern in die Nummer zwei. Es ist das kleinste der fünf Zimmer: ein Bett, ein stiller Diener, zwei Schränkchen mit Kondomen und Handtüchern, Waschbecken, Dusche. Zur Flatrate gehören geschützter Oral- und Geschlechtsverkehr. Alles andere kostet extra. Anka will nicht sagen, wie viel sie verlangt. Auf die Frage, was sie anbietet, verzieht sie das Gesicht: kein ungeschützter Verkehr, kein Küssen. Kolleginnen nehmen 10 Euro für Küsse, 20 Euro, wenn ein Dritter zuschauen will, Analverkehr wird teurer.

Wenn die Stimmung kippt

Nach 20 Minuten öffnet sich die rote Tür von Zimmer zwei wieder. Anka geht an die Bar. Sie holt ihr Handy raus, kurz blitzt ein Foto von ihrem Freund als Display-Hintergrund auf, dann öffnet sie ihre Facebook-App. Sie gehe nicht mit jedem mit, sagt sie. „Wenn ich ihn nicht mag, sage ich, dass ich etwas anderes zu tun habe.“ Nur weil die Männer in einem Flatrate-Bordell sind, heißt es nicht, dass sie sich jede Frau nehmen können, sooft sie wollen. Die Prostituierten gehen nicht mehr als zweimal mit demselben Mann auf ein Zimmer, schließlich soll keine Frau ständig vergeben sein.

Flatrate heißt auch nicht, dass jedermann darf. Dafür sorgt schon die Managerin hinter dem Tresen am Eingang. Sie entscheidet, ob ein Mann sich hier vergnügen darf. Gegen zwei Uhr versucht ein Mittzwanziger den Preis zu drücken. Zum Türsteher sagt er „Bruder“, fasst ihm an die Schulter, bettelt: „Mach mal eine Ausnahme.“ Die Managerin schaut sich das kurz an, dann sagt sie, dass der Club voll sei. Sie würde niemandem zeigen, dass er zu betrunken oder aggressiv ist. Zu schnell kann die Stimmung kippen. Wenig später reden zwei kräftige Männer auf sie ein. Keine Frau war bereit, auf gewalttätige Fantasien einzugehen. „Entschuldigung, tut uns leid“, sagt die Managerin und schiebt die zwei raus.

Kommen solche Szenen in anderen Bordellen nicht genauso vor? Ist ein Flatrate-Bordell frauenverachtender? Anka sagt, sie will nicht in die klassischen Häuser zurück. Im King George hat sie ihre Gage sicher, egal wie viele Männer kommen. Sie mag die Atmosphäre. Auch wenn sie von einem bürgerlichen Leben mit Mann, Kindern und eigenem Geschäft träumt. Sie will nicht wieder putzen gehen, sie will sich auch nicht den Rücken in der Altenpflege kaputtheben wie eine Kollegin. „Die Politiker sollten lieber zu uns ins Bordell kommen, anstatt Gesetze zu machen.“

Die Debatte um den richtigen Umgang mit Prostitution krankt auch daran, dass diejenigen, die unter ihrer Situation leiden, meist schweigen. So zeigt sich nur ein Teil der Branche in der Öffentlichkeit und spricht mit Journalisten. Anka will von den Vorwürfen, die Frauen würden in Flatrate-Bordellen geringschätzig behandelt, jedenfalls nichts wissen. Sie winkt ab. Sie fühle sich nicht verkauft, sie biete eine Dienstleistung an. Diskussion beendet.

Wird Flatrate-Sex verboten, will Sascha Erben sein Konzept ändern. Dann soll nach drei Zimmerbesuchen Schluss sein. Nach seiner Statistik kann ein Freier an einem Abend 2,6 Mal Sex haben. Mit der Begrenzung würde sich also eigentlich nichts ändern. Nur die Illusion der grenzenlosen Geilheit, die Erben verkauft, ist dann nicht mehr erhältlich.

Es ist vier Uhr, für heute Abend ist Schluss. Die Frauen haben ihre Stöckelschuhe ausgezogen, barfuß räumen sie ihre Sachen zusammen. Die Barfrau dreht die Musik ab, die verbliebenen Freier schließen sich zu einer Taxigruppe zusammen. Anka hat sich umgezogen. Sie trägt jetzt eine weite Hose. Ihr schwarzes Kleid steckt in einer großen Tasche. Als sie vor die Tür tritt, wirkt sie, als käme sie vom Sporttraining.

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