Wer rettet das Klima: Ich oder wir?

Erderwärmung Fliegen, Essen, Bauen: Welchen Einfluss auf das Klima haben unsere Handlungen? Und macht eine individuelle Entscheidung wirklich etwas aus?
Ausgabe 12/2022
Wer rettet das Klima: Ich oder wir?

Illustration: der Freitag, Material: Unsplash, iStock

Du sollst keine Plastikstrohhalme verwenden! Du sollst keine Avocado essen! Du sollst schon gar nicht nach Mallorca fliegen!!! Was sich anhört wie Auszüge aus den Zehn Geboten zur Rettung des Klimas, wird tatsächlich von vielen Menschen auch so wahrgenommen: Sie versuchen ihr Leben daran auszurichten. Was in vielen Fällen dazu führt, dass sie sich schlecht fühlen, wenn sie daran scheitern.

Doch stimmt das überhaupt? Wäre der Klimawandel wirklich gestoppt, wenn nur alle Menschen auf Plastiktüten verzichten und auf Ökostrom umsteigen würden? Wie groß ist der Spielraum des individuellen Handelns? Und wo muss der Staat ran, und die Politik, um systemische Veränderungen anzustoßen? Wir haben für die Bereiche Verkehr, Energie, Landwirtschaft, Wohnen und Industrie in Deutschland aufgeschlüsselt, wie viel individuelle Lebens- und Konsumentscheidungen ausrichten können. Und wo unser Einflussbereich als Einzelne endet und der Staat übernehmen muss.

Das Licht abschlaten – oder das Kraftwerk?

Verursacher Nummer eins von Treibhausgasen ist in Deutschland die Energiewirtschaft: Dazu werden all jene Emissionen gezählt, die Kraftwerke verursachen, wenn sie Strom und Wärme herstellen. Wenn dort Kohle, Gas oder Öl verbrannt wird, entsteht CO₂, und zwar jede Menge davon: 222 Millionen Tonnen waren es im Jahr 2020.

Wenn wir auf erneuerbare Energien umstellen, vermeiden wir Emissionen: Im vergangenen Jahr deckten Erneuerbare 42 Prozent der Stromproduktion in Deutschland ab und 16,5 Prozent der Wärmeproduktion.

Was könnte nun jede und jeder Einzelne tun, um den Energiesektor emissionsfrei zu machen? Klar, die Sache scheint doch auf der Hand zu liegen: zu einem Ökostrom-Anbieter wechseln. Bei einem Anbieter mit dem Ok-Power-Label oder dem Grüner-Strom-Label bringt das zumindest ein bisschen was. Diese Stromanbieter fördern aktiv die Energiewende. Aber es reicht bei weitem nicht aus. Etwa die Hälfte des Stroms in Deutschland verbraucht die Industrie, Haushalte rund ein Viertel. Nehmen wir einmal an, jeder Mensch in Deutschland würde zu einem Ökostrom-Anbieter wechseln. Und das würde auch noch bedeuten, dass wegen unseres Vertrags tatsächlich mehr Ökostrom produziert wird, was bisher tatsächlich oft nicht so ist. Selbst dann wären Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen immer noch für drei Viertel des Stromverbrauchs verantwortlich. Vor allem muss sich also das System ganz grundsätzlich ändern.

Denn was noch dazukommt: Unser Stromverbrauch wird in Zukunft steigen. Autos sollen elektrisch fahren, Wärmepumpen unsere Häuser heizen, und grüner Wasserstoff, hergestellt mit Erneuerbaren, soll als Brennstoff für die Industrie bereitstehen. Der Think-Tank Agora Energiewende prognostiziert, dass sich der Stromverbrauch bis 2045 verdoppeln wird.

Damit dieser Strom erneuerbar ist, brauchen wir nicht nur einen massiven Ausbau von Wind- und Solarenergie. Wir brauchen auch Speichermöglichkeiten, weil es nicht immer windig oder sonnig ist, und einen verbesserten Stromaustausch innerhalb von Europa. Außerdem müssen wir den vorhandenen Strom schlauer nutzen – sodass zum Beispiel die Industrie vor allem dann viel Strom verbraucht, wenn gerade viel Strom da ist.

Natürlich kann und sollte auch jeder und jede Einzelne Strom sparen, indem sie das Licht aus- oder den Stand-by-Modus des Fernsehers abschalten: Laut der gemeinnützigen Beratungsgesellschaft co2online könnten wir über 15 Millionen Tonnen CO₂ einsparen, wenn alle Privathaushalte in Deutschland ihr Stromsparpotenzial voll ausschöpfen würden. Das klingt nach viel, es sind aber nur sieben Prozent von dem, was die Energiewirtschaft im Jahr 2020 verursacht hat. Wer also die Wahl hat, einen Nachmittag lang alle Glühbirnen durch Energiesparlampen auszutauschen oder auf die Straße zu gehen – ja, der sollte wohl lieber zu Plakat und Trillerpfeife greifen.

Inlandsflüge sind egal. Wie bitte?

Womöglich markiert das Aufkommen des Begriffs „Flugscham“ jenen Moment, da die Diskussion über die Klimaschädlichkeit unserer Mobilität vollends zu einer moralischen wurde: Was, du fliegst noch?!? Oder umgekehrt: Was, ihr wollt den Leuten ihren wohlverdienten Urlaub in Mallorca madig machen?!? Hier kommt ein Vorschlag zur Versachlichung.

Der Sektor Verkehr innerhalb Deutschlands – also erst mal ohne internationale Flüge und Schiffsreisen – macht ein Fünftel der nationalen Treibhausgase aus. Etwa 60 Prozent dieser Emissionen verursachen Autos – Inlandsflüge nur 1,4 Prozent. Ja, das Flugzeug ist zwar das klimaschädlichste Verkehrsmittel überhaupt. Weil wir aber im Inland so viel Auto fahren und so wenig fliegen, fallen die Flüge kaum ins Gewicht.

Vielleicht wird der Bereich Verkehr deshalb so moralisch aufgeladen, weil der Spielraum für individuelle Entscheidungen hier hoch zu sein scheint – schließlich entscheidet jeder selbst, ob er sich für seinen Weg zur Arbeit ins Auto setzt oder aufs Fahrrad. 2020 beantworteten 68 Prozent der Menschen diese Frage mit dem Griff zum Autoschlüssel. Aber: Wem überhaupt Alternativen zur Verfügung stehen, das können wir als Einzelne gar nicht beeinflussen. Gut ausgebaute Fahrradwege und zuverlässige öffentliche Verkehrsmittel können nur Kommunen und der Staat planen, ausbauen, finanzieren.

Betrachten wir nun aber alle mit Mobilität verbundenen Emissionen der Menschen in Deutschland, inklusive Auslandsreisen, dann verursachen Flüge 27 Prozent – den Großteil Flüge ins Ausland. Etwas weniger als ein Drittel der Flüge sind beruflich, zwei Drittel machen private oder Urlaubsreisen aus. Hier haben die Einzelnen also einen großen Hebel.

Wenn alle Menschen in Deutschland aufhören würden zu fliegen, könnten wir etwa 60 Millionen Tonnen Treibhausgase einsparen, ungefähr so viel wie die gesamte Landwirtschaft! Allerdings würden wir dann wohl andere Transportmittel nutzen, um in den Urlaub zu fahren – dadurch würde die Ersparnis wieder kleiner.

Ein letzter, wichtiger Punkt: die Ungleichheit des Reisens. Laut einer Studie im Auftrag des Umweltbundesamtes machte etwa die Hälfte der Menschen maximal drei Reisen im Jahr, sieben Prozent aber 20 Reisen oder mehr.

Diese Nachricht richtet sich an Zementwerksbesitzer:innen

Illustration: der Freitag, Material: Unsplash, iStock

Gut ein Viertel der Emissionen in Deutschland verdanken sich der Industrie: Klar, wir sind ja immer noch ein Industrieland! Vor allem geht es hier um die besonders energieintensiven Branchen wie die Stahl-, Chemie- und Zementindustrie. Allein die Stahlindustrie verursacht etwa sechs Prozent der gesamten Emissionen in Deutschland. Den damit produzierten Stahl verarbeiten dann andere Branchen weiter: Mehr als die Hälfte des Stahls verbrauchen die Bau- und die Autoindustrie.

Nun wird der eine oder die andere denken: Aber ich habe ja gar kein Zementwerk! Also kann ich da auch nicht mitentscheiden. Was natürlich stimmt. Beziehungsweise nur sehr vermittelt, über die Politik. Die hat sich vorgenommen, mithilfe von grünem Wasserstoff und CO₂-Abscheidung die Industrie treibhausgasneutral zu machen. In der Nationalen Wasserstoffstrategie von 2020 rechnet die damalige Bundesregierung mit einem Wasserstoffbedarf von 90 bis 110 Terawattstunden (TWh) bis 2030, wobei der Großteil dieses grünen Wasserstoffs aus dem Ausland wird kommen müssen.

Dass die Herausforderung riesig ist, zeigt ein Vergleich der Internationalen Energieagentur: Allein um den heutigen globalen Wasserstoffverbrauch grün herzustellen, bräuchten wir jährlich etwa 3.600 TWh erneuerbare Energie – mehr, als die gesamte EU aktuell pro Jahr an Strom produziert.

Können wir denn dann überhaupt irgendwie Einfluss auf die Industrie nehmen? Nun, wir könnten Hersteller wie Volvo, Mercedes-Benz oder BMW beim Wort nehmen, beziehungsweise ihre Ankündigungen, in den nächsten Jahren erste Autos aus grünem Stahl verkaufen zu wollen. Aktuell gibt es noch keine. Den Bau von Wasserstoff-Elektrolyse-Anlagen und Pipelines zum Transport des Wasserstoffs können wir so gut wie gar nicht beeinflussen – außer indem wir politisch Druck machen.

Was wir als Einzelne aber auf jeden Fall tun können: kein Auto kaufen. Dinge nicht zu kaufen oder nur gebraucht zu kaufen, ist der größte Hebel, den wir über unseren Konsum im Bereich der Industrie haben. Das gilt natürlich auch für Waren, die nicht in Deutschland hergestellt werden.

Vollsanierung! Oder nur etwas Silikon ...

Auf Platz vier bei den Treibhausgasen landet der Gebäudesektor – oder auf Platz eins, je nachdem, wie man rechnet. In der Statistik des Bundesumweltministeriums zählt die Stromerzeugung in Kraftwerken zu den Emissionen der Energiewirtschaft – auch wenn wir den Strom danach in unseren Wohnungen verbrauchen. Das Gleiche gilt für Fernwärme.

Fest steht: Um die Emissionen zu senken, die damit verbunden sind, wie wir wohnen, müssten wir vor allem zweierlei tun. Die Häuser sollten besser isoliert sein, damit weniger Wärme entweicht. Und die Heizung müsste klimaneutral umgebaut werden. Statt Gas sollte zum Beispiel eine elektrische Wärmepumpe oder Erdwärme das Haus heizen.

Es bräuchte also eine gigantische Sanierungswelle. Doch wie soll das gehen? Nehmen wir an, alle Menschen, die in ihrem eigenen Haus wohnen, würden es jetzt sofort sanieren lassen. Zum einen wären dann immer noch Schulen, öffentliche Gebäude und Gewerbe übrig. Zum anderen wohnen knapp 60 Prozent der Haushalte in Deutschland zur Miete. Die Entscheidung, ob und wie und wann ihre Wohnung saniert wird, liegt nicht in ihrer Hand. Für die Vermieter gibt es bisher wenig Anreiz zum Sanieren, weil sie die Energiekosten nicht bezahlen und deshalb auch von den Einsparungen nichts hätten. Dieses „Mieter-Vermieter-Dilemma“ will die Ampelregierung nun allerdings lösen, indem sie die CO₂-Kosten fürs Heizen fairer zwischen Mietern und Vermietern aufteilt. Je schlechter die Energieeffizienz eines Gebäudes, desto größer soll der Anteil sein, den der Vermieter zahlen muss. Dadurch steigt der Anreiz für eine Sanierung.

Herausforderungen gibt es trotzdem noch genug. Zum Beispiel braucht es für so eine Sanierungsoffensive jede Menge Handwerker. In einer Analyse des Spiegel schätzt der Karlsruher Facility-Management-Professor Kunibert Lennerts, dass rund 350.000 Beschäftigte fehlen würden, wollte man die Sanierungsrate auf die nötigen zwei Prozent aller Gebäude pro Jahr verdoppeln. Die Emissionen des Gebäudesektors zu begrenzen, ist also eine riesige logistische Aufgabe – die die Regierung koordinieren muss. Wir Einzelnen können entweder unser Haus sanieren, wenn wir es uns leisten können. Oder aber wenigstens die Fenster besser abdichten.

Darf ich noch Avocados kaufen?

Manche kennen das Dilemma: Man versucht, weniger Fleisch zu essen. Also greift man stolz zum Käsebrot. Nur um hinterher zu lesen, dass man damit emissionstechnisch gar nicht so viel ausgerichtet hat: Käse erzeugt im Schnitt immer noch halb so viel CO₂ wie wenn wir direkt die Kuh verspeist hätten. Dasselbe in Grün gilt für viele, die versuchen, sich möglichst vegan zu ernähren. Also keinen Käse mehr – stattdessen Avocado als Brotaufstrich. Nur leider kommen die oft aus Peru oder Chile und werden erst um die halbe Welt transportiert, bevor sie bei uns im Supermarkt liegen – mit der entsprechenden CO₂-Bilanz. Vielleicht also am besten gar nichts mehr essen?

Nehmen wir die Emissionen der Landwirtschaft in Deutschland unter die Lupe, sehen wir, dass einen Großteil davon die Tierhaltung verursacht – 60 Prozent. Könnten wir diese 60 Prozent Emissionen einsparen, wenn wir alle komplett vegan essen würden? Nein. Weniger tierische Produkte bedeutet zwar auf jeden Fall weniger Emissionen, aber wir müssten dann zum Beispiel mehr Dünger herstellen, weil es keine Gülle mehr gäbe. Und das verursacht auch Emissionen. Trotzdem ist es wohl unrealistisch, dass wir alle von heute auf morgen zu Veganer:innen werden. Tatsächlich könnte auch in der Landwirtschaft systemische Veränderung viel bewirken. Vorschriften, die dafür sorgen, dass weniger Dünger auf den Feldern ausgebracht wird, würden dazu führen, dass weniger Lachgas frei wird – ein Treibhausgas, das deutlich stärker wirkt als CO₂.

Eine andere Frage, die sich viele im Supermarkt stellen: bio oder konventionell? Der Bio-Anbau verursacht pro Fläche weniger Treibhausgase. Allerdings ist auch der Ertrag pro Fläche geringer, deshalb gleicht sich das ungefähr wieder aus. Bio-Anbau ist allerdings deutlich besser für die Artenvielfalt als der konventionelle. Wenn wir uns aber genauso wie jetzt ernähren, bräuchten wir mehr Ackerfläche, wenn wir alle nur noch Bio-Lebensmittel essen wollten. Außer wir essen mehr vegan, dann würde wieder Ackerfläche frei – Tierhaltung verbraucht nämlich mehr Fläche, als wenn wir die Nahrungsmittel direkt für den Menschen anbauen.

Insgesamt kann man durch die Ernährung also einen relativ großen Einfluss auf den individuellen Klima-Fußabdruck nehmen. Aber: Ein schneller Kohleausstieg hätte eine viel größere Wirkung, als wenn einzelne Menschen sich vegan, regional und saisonal ernähren oder Bio kaufen. Die Stromerzeugung aus Kohle verursachte im Jahr 2020 123 Millionen Tonnen CO₂ – fast doppelt so viel wie die gesamte Landwirtschaft.

Zurück zur Avocado: 2018 wurden laut statistischem Bundesamt 94.000 Tonnen Avocados importiert. Nach Angaben des Umweltbundesamts hat ein Kilo Avocado einen CO₂-Fußabdruck von 0,6 Kilogramm Treibhausgase. Das macht etwa 0,06 Millionen Tonnen Treibhausgase für alle 94.000 Tonnen Avocados. So wenig? Ja, es handelt sich ja nur um eine kleine Einzelentscheidung. Die auch zeigt, worauf wir unsere Energie eher richten sollten, als mit dem Finger auf unsere Avocado-Toasts zu zeigen – zum Beispiel auf den Kohleausstieg.

Wer seine mentale Energie mit Entscheidungen verbraucht wie „Bio in Plastikverpackung oder konventionell unverpackt?“, „Käse aus Brandenburg oder Sojaschnitzel aus Dänemark?“, darf sich ruhig mal ein Stück Sahnetorte beim Bäcker gönnen. Fünkchen auszupusten, während das Feuer daneben munter weiterbrennt, bringt uns nicht weiter. Vor allem, wenn wir darüber vergessen, den Eimer zu nehmen – und anzufangen zu löschen.

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