An der Wirklichkeit vorbei

Rente Die Pläne der Koalition haben eine Gerechtigkeitslücke: Viele Arbeiter gehen leer aus
Ausgabe 09/2014

Union und SPD hätten die notwendige Mehrheit für eine umfassende Reform des Rentensystems. Aber sie trauen sich nicht. Sie verfolgen ein anderes Ziel: Wählerstimmenmaximierung. Die Hälfte der wahlberechtigten Deutschen ist über 50 Jahre alt, also muss was getan werden. Mütterrente und Rente mit 63 sollen Altersarmut bekämpfen, ohne zukünftige Generationen zu belasten. Doch dieses Ziel wird grandios verfehlt.

Grundsätzlich ist es richtig, die Erziehungszeiten älterer Mütter endlich als Leistung für die Gesellschaft anzuerkennen. Doch die Finanzierung ist ungerecht. Familienförderung sollte eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein. Die Mütterrente wird aber mit dem Griff in die Rentenkasse der abhängig Beschäftigten bezahlt. Haben Beamte, Pensionäre, Selbstständige und Politiker etwa keine Mütter?

Gegen Altersarmut hilft das Gesetz nur in wenigen Fällen. Wer im Alter aufstocken muss, weil die Rente nicht reicht, muss die Mütterrente mit dem Aufstockungsbetrag verrechnen. Netto bleibt diesen Müttern, die am Existenzminimum leben, also überhaupt nichts. Benachteiligt werden auch Mütter, die früher wieder angefangen haben zu arbeiten, denn auch hier wird die Mütterrente verrechnet. Zu den Verlierern der Reform gehören daher oft Alleinerziehende und Niedriglöhnerinnen.

Gerechtigkeitslücke mit System

Auch die Rente mit 63 scheint auf den ersten Blick gerecht: Wer länger gearbeitet hat, soll früher in Rente gehen. Doch gegen Altersarmut hilft das Gesetz nicht, denn Geringverdiener haben selten ungebrochene Erwerbsbiografien. Rund 80 Prozent der Berechtigten sind Männer, dabei sind von Altersarmut vor allem Frauen betroffen.

Die Gerechtigkeitslücke hat System: Gerade Facharbeiter werden die Rente mit 63 nutzen können, doch in dieser Gruppe sind nur sehr wenige von Altersarmut betroffen. Die anderen gehen leer aus – auch der Bauarbeiter, der sein ganzes Leben lang gearbeitet hat, aber jedes Jahr zwei Monate wegen des kalten Winterwetters arbeitslos gewesen ist. Die Rente mit 63 ist auch nicht generationengerecht. Wer heute anfängt zu arbeiten, hat eher einen Lebenslauf mit häufigen Jobwechseln und befristeten Verträgen. Von den jungen Arbeitnehmern werden nur wenige die Frühverrentung in Anspruch nehmen können.

Bei jeder Rentenreform geistern die gleichen Begriffe durch die Presse: „Alt gegen Jung“ ist das Motto; und im „Krieg der Generationen“ wird darum gestritten, wer welchen Anteil an der Misere hat. Am eigentlichen Problem geht das aber vorbei, der „Krieg“ findet woanders statt.

Ein einfaches Rechenbeispiel zeigt das deutlich: Wer 2.000 Euro brutto verdient, zahlt 20 Prozent in die Sozialversicherungstöpfe, also rund 400 Euro. Wer 5.000 Euro brutto verdient, zahlt ebenfalls 20 Prozent ein, rund 1.000 Euro. Wer aber 20.000 Euro verdient, zahlt nur fünf Prozent ein, der absolute Beitrag ist auf 1.000 Euro begrenzt. Wir sehen: Es geht nicht um Jung und Alt.

Das eigentliche Problem sind die Beitragsbemessungsgrenzen und das System aus zahlreichen Sondertöpfen für Beamte, Selbstständige, Ärzte, Rechtsanwälte und viele andere Berufsgruppen. Beamtenpensionen sind die heilige Kuh der Politik, an die sich keiner herantraut. Während beim normalen Arbeitnehmer das Durchschnittseinkommen beim Rentenanspruch den Ausschlag gibt, zählt beim Pensionär das letzte – meist höchste – Einkommen.

Generation Altersarmut

Dass es auch anders geht, zeigt der Blick in die Schweiz, die keinesfalls ein Paradies für Reiche ist: Der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Josef Ackermann, ist Großverdiener und lebt in der Schweiz. Er zahlt, wie alle Arbeitenden, in die gesetzliche Rentenversicherung mit Umlagesystem ein. Ohne Beitragsbemessungsgrenze. Geht er in Rente, hat er Anspruch auf einen Betrag zwischen einer Mindest- und Maximalrente. Er wird als Großverdiener „nur“ die Maximalrente erhalten – er bekommt also weniger ausgezahlt, als er eingezahlt hat. In der Schweiz zahlen auch alle Berufsgruppen ohne Ausnahme in einen einzigen gesetzlichen Rententopf ein. Jeder ist frei, sich zusätzlich betrieblich oder privat zu versichern.

Die deutsche Politik will sich wegducken. Doch Fakt ist: Die Generation der Babyboomer hat weniger Kinder bekommen. Auf immer weniger Einzahler kommen immer mehr Rentner. Vor dieser Entwicklung können wir die Augen nicht verschließen. Mit der Absenkung des Rentenniveaus auf 43 Prozent wird in Zukunft eine ganze Generation von Altersarmut betroffen sein. Mütterrente und Rente mit 63 beheben dieses Problem nicht, sie verschärfen es. Wir sollten deshalb so schnell wie möglich eine wirkliche Rentenreform in Angriff nehmen, bei der alle in einen Topf einzahlen – und zwar ohne Schlupflöcher für Reiche. Erst dann ist eine nachhaltige Finanzierung neuer Ausgaben möglich. Das wäre nicht weniger als eine kleine Revolution.

Katharina Nocun war bis November 2013 Politische Geschäftsführerin der Piratenpartei


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