Die Debatte nach Wahlen um Nichtwähler und Wahlpflicht gehört inzwischen genauso zu unserer müden Demokratie, wie der sonntägliche Gang zur Urne. Nichtwähler sind aus Sicht der Politiker so ziemlich an allem schuld. Am eigenen schlechten Abschneiden. Am Wahlerfolg von rechtspopulistischen Parteien. Am Legitimationsproblem der Politik. Zu meiner Schande muss ich gestehen: Ich habe in meinem Leben einige Wahlen an mir vorbeiziehen lassen. Bin ich schuld, wenn die Demokratie nicht mehr funktioniert? Hätte man mich am Ende zwingen müssen?
In der Küchenecke stapeln sich alte Tageszeitungen. Jemand sollte mal den Müll rausbringen. Im Regal liegen Bücher von Michael Moore, Immanuel Kant und Martin Sonneborn. Leise dudelt Funkhaus Europa im Hintergrund. Als ich in der WG-Küche die Pommes im Backofen wende, kommt Sandra gerade zur Tür herein. „Na, bist du wählen gewesen?“, fragt sie ein Mitbewohner. „Natürlich! Bürgerpflicht erledigt.“ Der ironische Unterton ist unüberhörbar.
Während sie sich Kaffee einschüttet, berichtet sie genüsslich, dass sie einen dicken fetten Strich mitten über den Wahlzettel gezogen habe. Da die Option der Enthaltung fehlt, enthält Sandra sich auf ihre Art. An dieser Stelle kommt meist der provokante Blick in meine Richtung – sie weiß, dass ich Mitglied der Piratenpartei bin. Ich seufze. Wir vollziehen dieses Ritual so oder so ähnlich zu fast jeder Wahl. Seit Jahren. Und tatsächlich schmerzt es ein wenig. Aber Sandra hat ihre Entscheidung getroffen. Sie wählt bewusst ungültig – und das seit fast zehn Jahren. Das ist länger, als es die Piraten gibt.
Zwischen Pflicht und Protest
Für einige bedeutet Wählen gehen, es „denen da oben“ alle paar Jahre mal so richtig zeigen zu können. Andere haben das Gefühl, ihre Pflicht getan zu haben. Wieder andere freuen sich, an diesem einen Tag Teil von etwas Größerem als man selbst zu sein. Und einige haben tatsächlich die Hoffnung, dass sich etwas ganz konkret zum Guten wendet. Bei vielen ist jedoch statt dessen nur eine große Leere. Und das bleierne Gefühl, nichts ändern zu können. Ich kenne letzteres leider nur allzu gut. Denn auch ich habe in meinem Leben einige Wahlen geschwänzt. Ich würde es heute nicht mehr tun. Aber ich hatte meine Gründe.
Würde bei Wahlumfragen neben den Parteien die Zusatz-Option „Ich wähle das kleinere Übel“ angeboten, die Mehrheiten wären absehbar. Viele Menschen sind nicht politikverdrossen. Ebenso wenig sind sie faul. Und genauso wie meine Freundin mir stolz jeden Wahlsonntag alle Jahre wieder aufs Brot schmiert, ungültig gewählt zu haben, zelebrieren andere genüsslich den Sonntag abseits der Wahlurne. Das kann man kritisieren. Das kann man verwerflich finden. Man kann auch Debatten über Wahlpflicht führen. Oder man kann nach den Gründen fragen.
Es reicht ein Blick in die Zeitung. Ich kann Nichtwählern nicht einmal verurteilen, bei den Schlagzeilen. Wenn einer derjenigen, die in den CDU-Schwarzgeldskandal verwickelt waren, jetzt Finanzminister ist, wird einem schon mulmig. Das erinnert an den ehemaligen SPD-Innenminister Otto Schily, der nach der Einführung des elektronischen Personalausweises seine Arbeit ausgerechnet im Vorstand eines Biometrieunternehmens weiterführte.
Wenn der Verdruss schließlich ein Level erreicht hat, an dem man sich von Satire-Sendungen mehr verstanden fühlt, als von jedem Polit-Talk, ist das Fass endgültig übergelaufen. Viele, die bewusst nicht wählen, sind durchaus politikinteressiert. Und zugleich parteienverdrossen. Parteien jedoch tut eine sinkenden Wahlbeteiligung erst einmal nicht weh. Denn weder die Anzahl der Sitze im Parlament noch die Höhe der Parteienfinanzierung sind an die Wahlbeteiligung gekoppelt. Es drängt sich der Verdacht auf: Eine Wahlpflicht wäre vor allem eine einfache Lösung. Damit alles bleiben kann, wie es ist.
Die Probleme der Parteien
Wer einmal diese innere Leere beim Gedanken an den Wahlgang gespürt hat, den wird auch keine Wahlpflicht überzeugen. Lediglich die Debatten über sinkende Wahlbeteiligung werden dann verschwinden. Der eine oder andere würde dann vielleicht überlegen, ob er es sich leisten kann, Nichtwähler zu bleiben, wenn Geldstrafen drohen. Der schöne Schein der Wahl-Statistik ist dann wieder gewahrt. Doch wenn die Politik es nicht schafft, die Menschen aus Überzeugung an die Wahlurne zu bringen, dann bleibt das eigentliche Problem bestehen.
Das Durchschnittsalter der Parteibasis liegt in den großen Parteien weit über dem Bevölkerungsdurchschnitt. Umfragen zeigen: Die Mehrheit in der Bevölkerung lehnt den Fraktionszwang ab, wünscht sich mehr Transparenz und härtere Gesetze zum Schutz vor Lobbyismus. Die Entfremdung ist da und sie wird größer. Wenn Parteivertreter nach einer Wahlpflicht rufen, so ist es doch eigentlich eine Kapitulation. Man akzeptiert damit endgültig, bloß als kleineres Übel betrachtet zu werden. Und stört sich nicht einmal mehr daran.
„Ihr wählt und ich regiere!“ In Zeiten der Kommentarfunktion ist die Erwartungshaltung an die Politik eine andere. Die neue Sehnsucht nach Offenheit und Mitbestimmung und die Ablehnung des Status Quo hat zu Wahlerfolgen neuer Akteure wie der Piraten und kleinen Revolutionen bei den Bundestagsparteien geführt. Nach dem Hype hat allerdings auch das Interesse an Reformen deutlich abgenommen. Alles in allem ist die Mitgliederbeteiligung und Transparenz in den meisten Parteien nach wie vor überschaubar. Man schottet sich gerne ab. Listenplätze werden meist nach parteiinterner Hackordnung vergeben.
Keine Wertschätzung der Wähler
Als Wähler kann man seine Zweitstimme nicht an bestimmte, einzelne Kandidaten auf Parteilisten geben. Es fehlt auch eine so genannte Alternativstimme, die zählt, wenn die erstgewählte Partei an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert. Bei der Bundestagswahl sind daher über 15 Prozent der Stimmen verfallen. So viel zur Wertschätzung der Wähler. Es gibt zahlreiche Ideen für Reformen, die den Bürgern mehr Gehör verschaffen und damit auch mehr Zustimmung für den politischen Prozess schaffen können. Doch umgesetzt wird davon wenig.
Es steckt ein wahrer Kern in der Aussage "Die machen doch eh, was sie wollen." Zwischen den Wahlen gibt es kaum Einflussmöglichkeiten für die Bürger. Die Hürden für Volksbegehren und Volksentscheide sind in den meisten Bundesländern absurd hoch. Auf Bundesebene ist diese Option sogar überhaupt nicht verfügbar. Wessen Vertrauen in Parteien so erschüttert ist, dass er nicht weiß, ob er jemandem für die nächsten Jahre pauschal Macht geben möchte, der lässt es ohne diesen Sicherheitsgurt erst recht bleiben. Mir ist es zumindest einmal so ergangen.
Wer nicht wählt, der fühlt sich oft nicht abgeholt. Und nicht wenige, die bei Bundestags-, Landtags- oder Europawahlen streiken, sind bei Volksentscheiden wie ausgewechselt. Hier gibt es meist keine Entscheidung für oder wider ein kleineres Übel. Keine moralische Zwickmühle. Keine Angst, Parteien, denen man innerlich längst das Vertrauen entzogen hat, auch noch mit einem Freifahrtschein für die nächste Wahlperiode zu belohnen. Hier wird ganz direkt gefragt, wie regiert werden soll. So kann Legitimation gestärkt werden.
In der WG-Küche hängt immer noch ein Plakat von der Initiative für einen Volksentscheid. Es ging um den Bau eines Großprojekts, eine pompöse Musikhalle in Münster. Das übliche Ritual der Nichtwahl ist in unserer WG bei dieser einen Wahl ausgefallen. Und die Musikhalle wurde letztendlich nicht gebaut. Weder Nichtwählen noch Wahlpflicht lösen unsere Probleme. Wenn die Wahlbeteiligung sinkt, ist das einzige Gegenmittel mehr Demokratie – und nicht weniger. Wer meint, die Wahlbeteiligung durch Zwang lösen zu können, der doktert am Symptom herum, doch die Ursachen aber bleiben. Das mag für einige bequem sein. Für alle anderen ist es ein herber Verlust.
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