Die Zahl der Väter, die in Deutschland nicht nur für ein paar Wochen in Elternzeit gehen, ist immer noch sehr niedrig. Der Philosoph Leander Scholz hat sich eineinhalb Jahre lang aus dem Berufsleben verabschiedet und einschneidende Erfahrungen gemacht, die vielen Frauen nicht fremd sind.
der Freitag: Sie sind ein Kind der No-Future-Generation, was für ein Mensch waren Sie da?
Leander Scholz: Da war die ökologische Krise, die Angst vor dem Atomkrieg, und ich war damals in der Friedensbewegung. Sozialisiert wurde ich aber eher über New Wave. Aber kein Zukunftsgefühl zu haben, war damals tatsächlich stark prägend. Die apokalyptische Faszination der Achtziger hat auch etwas freigesetzt. Es war irgendwie befreiend, keine Zukunft zu haben.
Als Ihre Frau schwanger wurde, bekamen Sie eine andere Angst.
Da war das Gefühl, nicht erwachsen zu sein. Wenige Monate vor der Geburt setzte eine ganz starke Angst bei mir ein. Wir sind heute sehr individualistisch geprägt, alles dreht sich um Ich-Fragen. Mit einem Kind kann man nicht plötzlich sagen, ich kündige, ich mache einfach was ganz anderes. Diese Angst scheint mir bei Männern noch viel stärker ausgeprägt zu sein als bei Frauen.
Besonders bei Männern, die zu viel nachdenken?
Ich kann mir vorstellen, dass es eine Rolle spielt, wie stark man sich etwas ausmalen kann, und dann feststellt, dass man das gar nicht durchdenken kann, was es bedeutet, ein Kind zu haben. Dazu kommt noch die Erwartung der Gesellschaft an den werdenden Vater, jetzt funktionieren zu müssen. Deshalb tritt diese Angstkrise häufig vor der Geburt auf. Frauen sind viel gefestigter in dieser Phase. Das hat mich sehr beeindruckt. Dabei hätte eine Schwangere viel mehr Gründe, Angst zu haben.
Die Elternzeit beschreiben Sie als eine existenzielle Erfahrung. Wie sah die aus?
Ich bin in eine andere Welt eingetaucht. Nicht nur für eine kurze Zeit. Ich habe das auch unterschätzt. Man wird von allen ermuntert, man soll diese Zeit genießen. Aber den ganzen Tag auf einen kleinen Menschen bezogen zu sein, ist sehr intensiv und auch anstrengend. Das meine ich mit existenzieller Erfahrung.
Zur Person
Leander Scholz (Jg. 1969) ist Philosoph und Schriftsteller und lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Berlin. Er schrieb die Romane Rosenfest (2001) und Fünfzehn falsche Sekunden (2005). Zuletzt erschien sein Essay Zusammenleben. Über Kinder und Politik (Hanser Verlag, 160 S., 19 €)
Foto: Götz Schleser/Literaturport
Was war stressig?
Es gibt nur wenige Handlungen, die man zu Ende führen kann. Man wird ständig unterbrochen, man kann auch nichts aufschieben. Bei einem Kind kommt ständig etwas dazwischen.
Da will man gerade los, aber das Kind ist eingeschlafen...
Oder es schläft nie ein, oder es hat Durst, oder es hat Hunger. All diese Bedürfnisse sind unmittelbar. Ich lebte in einem Universum ohne Sprache, das war sehr körperlich. Gerade für mich, der ich beruflich mit Sprache zu tun habe, war das faszinierend.
Wieso wird das erst interessant, wenn Männer darüber schreiben?
Frauen haben das seit vielen Generationen so oder ähnlich erlebt. Was mich tatsächlich verblüfft hat, ist der Umstand, wie wenige von diesen Erfahrungen in eine intellektuelle oder politische Öffentlichkeit dringen. Es ist wie ein abgeschlossenes Haus.
Und Sie stellten fest: In der Philosophie kommt dieses Haus auch nicht vor ...
In der gesamten Geschichte der Philosophie gibt es sehr wenige Reflexionen über diese Art des Zusammenlebens. Selbst in der feministischen Theorie gibt es nicht viel dazu, da die Familie häufig die Negativfolie der Emanzipation abgibt. Dass es weniger weibliche Philosophinnen gibt, hängt natürlich auch mit den Beschränkungen zusammen, die Frauen in der Vergangenheit erfahren haben. Sie mussten sich oft zwischen ihrem Beruf und Kindern entscheiden. Und Väter hatten oft keine wirkliche Beziehung zu ihren eigenen Kindern. Das ändert sich aber seit einiger Zeit, und Mütter und Väter beginnen selbstbewusst über sich auch öffentlich zu reden. Die Erfahrung, die ich gemacht habe, ist ja an sich nichts Besonderes. Wichtig ist mir, sie auch in die intellektuelle Welt zu übersetzen.
Ihr Artikel in der „Welt“ über Ihr Leben als Hausmann bekam viel Resonanz. Die Briefe kamen vor allem von Müttern. Warum fühlten die sich gehört?
Es waren tatsächlich überwiegend Frauen, die mir geschrieben haben, Mütter mit mehreren Kindern. Ich kam mir da ganz amateurhaft vor. Es schien, als hätte mein Text einen Nerv getroffen. Die Mütter konnten den gesellschaftlichen Mangel nachempfinden, nirgendwo positiv vorzukommen. Es gibt diesen riesigen Bereich der Fürsorge in unserem Leben, die Hausarbeit und die Familienarbeit, die weder von der konservativen noch von der progressiven Seite wirklich als wichtige Tätigkeiten anerkannt werden.
Sie schreiben, die Partei ihres Herzens, die SPD, schaffe familienpolitische Bedingungen so, als hätte man gar keine Kinder.
Dass beide Eltern voll berufstätig sind, wird sozusagen als Imperativ formuliert. Kinder sollen aber meiner Meinung nach in allen Lebensbereichen anwesend sein dürfen. Die gesamte Infrastruktur ist jedoch wenig auf Kinder eingerichtet. Das lässt sich überall beobachten: Öffentliche Toiletten haben selten ein kleines, niedriges Becken für Kinder, es gibt selten bei Treppen einen Handlauf für Kinder. Das Wissen über Kinder geht offensichtlich nicht in die öffentliche Sphäre über. Generationen von Architekten, die vermutlich selbst Eltern waren, scheinen nicht an so etwas gedacht zu haben. Da gibt es eine Grenze, die Erfahrungen der Elternschaft nicht in den öffentlichen oder politischen Bereich zu übertragen.
Das alte Wohlstandsversprechen gibt es ja auch nicht mehr. Für das würde man ja gern in Kauf nehmen, dass beide arbeiten, das Kind ganztags betreut wird ...
Ja, der Imperativ, dass beide arbeiten, hat eine emanzipatorische Seite. Nur heute müssen tatsächlich beide Vollzeit arbeiten, weil es sonst nicht reicht. Bis in die 1980er Jahre reichte das Gehalt eines Facharbeiters noch aus, um eine ganze Familie zu ernähren. Wir erleben gewissermaßen die Entzauberung des emanzipatorischen Imperativs. In einer idealen Welt sollte genügend Zeit für die Familienarbeit bleiben. Es würde die Gesellschaft verändern, wenn mehr Menschen diese Erfahrung in das berufliche Leben mitnähmen.
Müsste man schnöde Hausarbeit aufwerten als Kulturtechnik?
Kulturtechniken könnten ja auch Dienstleister übernehmen. Mir geht es um die Tätigkeiten, über die wir uns definieren. Das sollte eben nicht nur der Beruf sein. Die Familienarbeit ist eine Praxis, in der man unmittelbar auf andere Menschen bezogen ist. Deshalb ist es mir wichtig, sie als soziale Praxis zu begreifen. Unser Ich ist sehr selbstbezogen konfiguriert. Das meine ich gar nicht moralisch. Der Einzelne ist stark gezwungen, sich als Marktteilnehmer zu verstehen. Die Familie ist einer der letzten Bereiche, wo man gezwungen ist, das Gegenteil zu lernen.
Das Freiwillige Soziale Jahr sollte Pflicht sein, schreiben Sie ...
Ich glaube, es gibt in unserer Gesellschaft nur noch wenige soziale Praktiken der Gemeinschaftsbildung. Genossenschaften, soziale Vereine, Gewerkschaften, all das ist ja deutlich zurückgegangen. Die Frage ist, ob soziale Verhaltensweisen immer neu generiert werden oder irgendwann auch aufgebraucht sind, gewissermaßen wie natürliche Ressourcen, die dann nicht mehr vorhanden sind
Was verstehen Sie unter „demokratischem Patriotismus“?
Es wird derzeit wieder viel über Patriotismus gesprochen, der sich auf die Nation bezieht. Mir geht es dagegen um einen Patriotismus, der sich einem Gemeinwesen und seinen demokratischen Einrichtungen verpflichtet. Wir dürfen das Gemeinwesen nicht einfach nur als ein Servicecenter begreifen. Es muss auch demokratische Pflichten geben. Zivilgesellschaftliches Engagement muss stärker institutionalisiert werden. Es kann nicht bei Appellen bleiben. Es muss mehr Möglichkeiten geben, soziales Verhalten einzuüben.
Sie plädieren für ein Wahlrecht von Geburt an. Warum?
Uns ist beigebracht worden, dass die Gesellschaft aus lauter Individuen besteht. Einen großen Teil seines Lebens verbringt man aber in Familien. In der Ursprungsfamilie oder in der Familie, die man vielleicht später gründet. Mit dem Wahlrecht von Geburt an bekäme Familienpolitik einen ganz anderen Stellenwert. Die Idee ist: ein Bürger, ein Mensch, ein Wahlrecht.
Sind Sie als Vater jetzt wertkonservativer geworden?
Ich bin klassisch sozialdemokratisch geprägt. Daher gibt es in meinem Buch sowohl konservative als auch linksliberale Elemente. Aber mir geht es vor allem darum, die Politik des Zusammenlebens wieder stärker in den Vordergrund zu rücken und nicht allein die Frage der individuellen Freiheit.
Zurück im Beruf mussten Sie sich die Vaterrolle erarbeiten ...
Für mich war die Wiederkehr in den Beruf tatsächlich schmerzvoll, ich habe das als Bruch wahrgenommen, zumal ich zu meiner Arbeitsstelle pendele und immer für zwei bis drei Tage abwesend bin. Mein Sohn hat mir das übel genommen. Bei Vätern glaubt man aber noch immer, dass es ihnen leichter fällt, die Bindung zum Kind aufzuschieben. Darüber müssen Väter erst lernen zu reden. Und die Zahl der Väter, die länger in Elternzeit gehen, ist immer noch erschreckend gering.
Wie hoch sind die Zahlen?
Die Zahl der Männer, die mehr als drei Monate in Elternzeit gehen, liegt immer noch im einstelligen Prozentbereich. Die meisten nehmen nur drei Monate und verreisen in dieser Zeit mit Frau und Kind. Wichtig wäre ja eigentlich, dass der Vater die Verantwortung mal allein trägt. Dass so wenige Väter länger Elternzeit nehmen, liegt natürlich auch daran, dass Männer oft immer noch mehr verdienen. Hinsichtlich der Karriere ist es sowohl für Männer als auch für Frauen ein Nachteil auszusteigen, auch wenn sich Unternehmen auf die Fahnen schreiben, dass sie familienfreundlich sind. In ihrem Selbstverständnis sind viele Mütter und Väter in Deutschland aber viel weiter. Es gibt Lebensphasen, in denen man für die Familienarbeit aussteigen muss. Das kann auch die Pflege Angehöriger sein. Care-Arbeit ist nicht vollständig zu ökonomisieren. Auch deshalb sollten wir über neue Modelle des Zusammenlebens nachdenken.
Es müsste wieder Leben einkehren in die Häuser unserer Eltern, schreiben Sie ...
Es geht nicht darum, noch einmal das Leben meiner Eltern zu führen, das ist vielleicht auch gar nicht wünschenswert. Es geht mir um neue Formen des Zusammenlebens, auch zwischen den Generationen, und so das Haus wieder zu beleben. Darüber werden wir sehr ernsthaft nachdenken müssen.Sonst sind die sozialen Ressourcen irgendwann erschöpft.
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